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Zwischen Chaos und Harmonie: Über die Montage in "Systemsprenger"

Ein Beitrag von Momas Schütze

Nora Fingscheidts „Systemsprenger“ erzählt von einer Neunjährigen, die die Grenzen des Sozialsystems sprengt. Die Montage will für uns nachvollziehbar machen, was in ihrem Kopf geschieht. Wie das gelingen konnte, darüber klärt Momas Schütze auf.

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Systemsprenger - Trailer (deutsch)

Vier Filme sind für den Deutschen Filmpreis in der Kategorie Bester Schnitt nominiert. Doch was macht ihre Montage auszeichnungswürdig? Vier Editor*innen aus dem Bundesverband Filmschnitt versuchen, dies in Worte zu fassen und Einblick in Stilistik und die Erzählformen der Filme zu geben. Heute: Momas Schütze über „Systemsprenger“.

Schreie, Lärm, Rauferei – eingefangen in sehr nahen Kameraeinstellungen und durch schnelle Schnitte verbunden. Das Gewirr ist schon beim Zuschauen anstrengend und schwer zu ertragen. Benni, ein neunjähriges Mädchen, spuckt um sich und einem Erzieher ins Gesicht. Bereits in der zweiten Szene des Films wird man als Zuschauer*in aus der Komfort-Position des Kinosessels gerüttelt. Das wird keine leichte Unterhaltung. Benni brüllt die stärksten Kraftausdrücke über den leeren Schulhof und wirft solange mit Bobbycars gegen das Sicherheitsglas, bis selbst dieses bricht ­– Titeleinblendung: Systemsprenger. So werden Jugendliche bezeichnet, bei denen alle Hilfsmaßnahmen des sozialen Systems versagen. Man merkt bald, dass Benni bereits mehrere soziale Einrichtungen durchlief, seit sie von ihrer Mutter getrennt wurde.

Die Montage von Systemsprenger ist durchweg vom Einsatz starker filmischer Mittel geprägt. Durch schnelle Schnitte und dominante Musik lassen uns die beiden Editor*innen immer wieder die innere Welt der Protagonistin deutlich spüren. Szenen werden mitten im Wort unterbrochen, man springt, ganz wie in Bennis Hirn, einfach zum nächsten Thema oder zur nächsten Emotion. Die Musik treibt durch ihre Perkussion den Schnittrhythmus und damit auch die Handlung stetig voran, lässt aber keine Melodien erkennen, die eine emotionale Wertung vorweg nehmen könnten. Fast durchweg folgt auf eine schnelle, laute Szene eine kurze Beruhigung, um wieder Schwung für den nächsten Exzess zu holen. Das strengt an — und genau das soll es auch. Gleichmäßig wiederkehrend werden Montagesequenzen gezeigt. Pinke Farbflächen, extrem nahe Kameraeinstellungen und unscharfe Bilder wurden so montiert, dass wir nur selten direkt erkennen, ob es real, geträumt oder ein Flashback ist. Dieser uneindeutige Zustand lässt erahnen, was in Bennis Innerem geschieht. 

Annäherung durch die Montage

Die Verbindung der beiden Hauptcharaktere Micha, der neue Erzieher, und Benni wird durch die Verwebung einer dynamischen Kamera und punktuellem Musikeinsatz spürbar. Eine Szene startet mit Blick auf Benni, wie sie durch das Treppenhaus rennt, dazu hören wir einen Percussion-Score. Im direkten Anschluss läuft die Musik aus, Benni sitzt in Michas Auto und schreit “Los!” Schnitt – im fahrenden Auto läuft schnelle, elektronische Musik. Micha dreht das Radio laut. Es folgen Bilder der Autofahrt. Als Zuschauer*in erlebt man dabei eine Annäherung beider Gemüter, die ausschließlich über die Montage entsteht. Ein abrupter Schnitt beendet die chaotische Fahrt und Benni steht ruhig im Wald. Gemeinsam mit ihr lauscht man aufmerksam der ruhigen Waldatmosphäre und bekommt einen kurzen Moment um durchzuatmen.

Micha und Benni bleiben drei Wochen gemeinsam im Wald, was beide näher zusammenbringt. Hier kann sie ihre Wut an morschen Bäumen auslassen, ohne jemandem zu schaden. Verbunden in einer Trainings-Montagesequenz, wie man sie vielleicht aus Rocky kennt, wird hier im Score erstmals auf harmonische Melodien gesetzt. Hoffnung blüht auf, dass die Erlebnisse und Erfahrungen im Wald Benni nachhaltig helfen. Über den gesamten, 30-minütigen Block des Wald-Aufenthalts kann man nachempfinden, wie sie sich innerlich beruhigt. Kein Stadtlärm, keine anderen Kinder, die Benni stressen. Zurück in der Heim-Realität spuckt sie als erstes einem Erzieher ins Gesicht. Durch die Wiederholung einer ähnlich dynamischen Bildreihenfolge des bereits am Anfang vom Film gezeigten Spuck-Szenarios, wird einem in der Montage innerhalb von wenigen Augenblicken verständlich gemacht, dass wohl auch diese Maßnahme keine bleibende positive Wirkung hinterlassen wird.

Die dramaturgische Entwicklung von Systemsprenger wird durch die emotionale Entwicklung Bennis gesteuert. Als Zuschauer*in wünscht man sich, dass jede noch so kleine positive Regung von ihr zum Happy End führt. Auch lässt man sich nicht von den immer wiederkehrenden Rückschlägen entmutigen oder belehren. Der eigene Wunsch nach einem positiven Ausgang ist stärker als die Abstumpfung durch die Redundanz der erfolglosen Maßnahmen.

Systemsprenger nimmt uns mit auf eine Achterbahnfahrt der inneren Zerrissenheit Bennis, zwischen der Sehnsucht nach Liebe und ihrer Realität im Heim. Es ist eine außergewöhnlich nachempfindbare, schmerzende Erfahrung.

Dieser Text entstand im Rahmen der BFS Veranstaltungsreihe „ungeSCHNITTen — Gespräche mit Filmeditor*innen“, die aufgrund der Covid-19-Auflagen aktuell nicht stattfinden kann. Die Autor*innen sind Filmeditor*innen und schreiben hier über die Schnitt- und Montagearbeit der vier Filme, die beim Deutschen Filmpreis in der Kategorie Bester Schnitt nominiert sind.

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Momas Schütze
Momas Schütze studierte Montage an an der Filmuniversität Babelsberg, arbeitet als freier Filmeditor in Berlin und ist aktives Mitglieder im Bundesverband Filmschnitt.

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