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Wieso Hollywood Dokumentar- in Spielfilme verwandelt

Ein Beitrag von Lucas Barwenczik

Mit dem Fallen der Blätter kehrt die Wahrheit ins Kino zurück – oder zumindest das, was Hollywood dafür hält: Während der Sommer traditionell die Zeit der Blockbuster ist, die der Dinosaurier, Terminatoren und Superhelden, beginnt im Herbst die bedeutungsschwangere Award-Season. Statt um weltfremde Fantastereien geht es plötzlich um echte Menschen und echte Gefühle. Der Schriftzug Based on a true story (oder auch sein kleiner Bruder Inspired by true events) wird dabei gehandhabt wie ein Gütesiegel; das Wahre wird in der Traumfabrik zur Ware.

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Filmstill aus "The Walk"
Filmstill aus "The Walk"

Ein relativ neues Phänomen ist, dass zu diesem Zweck nicht mehr nur viele Biographien oder Artikel adaptiert werden, sondern auch Dokumentarfilme: Mit The Walk erzählt Robert Zemeckis die Geschichte des Artisten Philippe Petit, der 1974 zwischen den Türmen des World Trade Centers einen einzigartigen Seiltanz vollführte. Bereits sieben Jahre vor Zemeckis fiktionalisierter Schilderung der Ereignisse erschien der oscarprämierte Dokumentarfilm Man on Wire, der mit Archivaufnahmen, Interviews und dramatisierten Nachstellungen der Ereignisse dasselbe erzählte, nur eben aus einer etwas anderen Perspektive.

The Walk ist bei weitem nicht der einzige Spielfilm, der zuvor schon in Dokumentarform verarbeitet wurde. Diese Transformation wird zunehmend populärer: Our Brand Is Crisis von David Gordon Green basiert auf dem gleichnamigen Dokumentarfilm von Rachel Boynton. Beide erzählen von amerikanischen Marketingstrategen und ihrem Einfluss auf den bolivianischen Wahlkampf im Jahr 2002. Der Direct-Cinema-Meilenstein Grey Gardens der legendären Maysles-Brüder fand 2009 eine fragwürdige Zweitverwertung als HBO-Fernsehfilm, welcher in Deutschland unter dem noch fragwürdigeren Titel Die exzentrischen Cousinen der First Lady erschien. Die Liste der Beispiele ist lang: Atom Egoyans Devil’s Knot, Dogtown Boys von Twilight-Regisseurin Catherine Hardwicke, Morgan Matthews A Brilliant Young Mind – selbst Altmeister Werner Herzog hat seine Dieter-Dengler-Filmbiographie Flucht aus Laos 2006 unter dem Namen Rescue Dawn mit Christian Bale in der Hauptrolle noch einmal in die Kinos gebracht.

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Trailer zu Our Brand Is Crisis

 

In naher Zukunft wird die Liste sogar erheblich länger: Schon lange gibt es Vorhaben für eine Umsetzung von The King of Kong und Hands on a Hard Body (eines der Projekte die Robert Altman nie vollenden konnte.) Auch Robert Zemeckis selbst arbeitet an einer weiteren Fiktionalisierung: Marwencol handelt von Künstler und Fotograf Mark Hogancamp, der nach einem Überfall an einem starken Hirnschaden litt und sich mit dem Diorama einer belgischen Stadt im Zweiten Weltkrieg selbst therapierte.

Die Frage, die sich in vielen dieser Fälle fast unmittelbar aufdrängt, lautet: Warum? Wo liegt der Gewinn durch diese Transformation, welchen Sinn ergibt diese Art des Remakes? Um eine adäquate Antwort zu finden, muss man sich zunächst Hollywoods Obsession mit dem vermeintlich Realen, Based on a true story, widmen.

So wie Verfilmungen bekannter Bücher und Serien oder die Neuauflage populärer Reihen eine eingebaute Fanbasis versprechen, verheißen diese Stoffe einen Vorschuss an Bedeutung. Wer würde schon an der Relevanz einer Geschichte zweifeln, mit der er bereits aus der Zeitung oder sogar aus Geschichtsbüchern vertraut ist?

Für das Prestige-Kino des Jahresendes sind die großen Filmpreise wie Golden Globe und Oscar ein bedeutender Verkaufsfaktor und die Mitglieder der Academy of Motion Picture Arts and Sciences haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer wieder gezeigt, dass sie Filmen besonders dann Gewichtigkeit zuschreiben, wenn die Last der Geschichte auf ihnen ruht. In der ersten Dekade des neuen Jahrtausends basierten mehr als ein Drittel (20 von 55) der Nominierten in der Best-Picture-Kategorie auf tatsächlichen Ereignissen, von den letzten fünf mit dem Hauptpreis Ausgezeichneten gehörten mit 12 Years a Slave, Argo und The King’s Speech immerhin drei dazu (Stand: 2016). Das war nicht immer so, zumindest nicht im gleichen Maß: Von den 100 Filmen beispielsweise, die von 1960 bis 1979 als Best Picture nominiert waren, wiesen lediglich 14 einen realen Hintergrund auf. In den 1980er Jahren waren es schon genauso viele in nur der Hälfte der Zeit.

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Trailer zu 12 Years a Slave

 

In Inspired by True Events zeichnet Robert James Niemi die Entwicklung dieses Trends in den letzten Jahrzehnten nach und konstatiert: „[…] Filme, die auf historischen Quellen basieren, haben stetig an Prestige und Popularität gewonnen“. Der amerikanische Autor und Anglistikprofessor bietet darüber hinaus auch einen ersten Erklärungsansatz für diesen Prozess an: „So wie eine postmoderne Business-Gesellschaft immer kapitalgetriebener, gleichförmig, autoritärer und entfremdender wird, muss ihre Kulturindustrie immer neue Untiefen von Geschmacklosigkeit und Eskapismus anstreben, um die tatsächlichen, oft erdrückenden sozialen Gegebenheiten zu maskieren und zu kompensieren. […] Ein erheblicher Teil der Bevölkerung ist sich der Tatsache bewusst, dass die Produkte von Medienkonzernen grässlich sind und keine Wirklichkeit widerspiegeln, die ihnen bekannt ist. Wenn Zuschauer also die vertraute Formulierung ‚based on a true story‘ im Vorspann aufblitzen sehen, neigen sie dazu anzunehmen (gerechtfertigt oder nicht), dass der Film, den sie im Begriff zu sehen sind mehr Wahrheit und Bedeutung bieten wird, als ein fiktiver und daher mehr Aufmerksamkeit, Engagement und Respekt verdient. In einer Welt von Simulacra, Erfindungen und durch die Medien erzwungener Amnesie versprechen solche Historienfilme die Erinnerung von etwas Wahrem.“

Tatsächlich schlägt Hollywood mit solchen Schriftzügen, aber auch mit Fotos der historischen Persönlichkeiten oder Archivaufnahmen im Abspann immer wieder die Brücke zwischen Leinwand und Wirklichkeit. Nur allzu gerne wird Historie als Krücke eingesetzt, wo eine Geschichte nicht auf eigenen Beinen stehen kann. Gerade schwache Filme werden zum Schmarotzer an der Wirklichkeit, als gälte es John Keats‘ Ode auf eine griechische Urne („Schönheit ist Wahrheit, Wahr ist Schön!“) zu widerlegen.

Dieser Parasitismus (in Verbindung mit der Erwartungshaltung eines großen Teils des Publikums, im Kino einen wie auch immer gearteten Realismus geboten zu bekommen), diese Abhängigkeit von historischen Fakten, Kausalitäten und Chronologie, treibt oft merkwürdige Blüten: Die Zeit der Oscar-Kampagnen ist heute auch eine der Fakten-Checks, der Schlammschlachten und politischen Kontroversen. Der Wahrheitsgehalt, welcher zu verkaufsfördernden Filmpreisen führt, ist eine hart umkämpfte Währung. (Ein wenig wie die Glaubwürdigkeit von Szene-Bands.) Aufgeregt wird dann etwa diskutiert, wie akkurat Selmas Darstellung von Präsident Lyndon B. Johnson ist, ob Navy SEAL Marcus Luttrell wirklich so viele Taliban erschossen hat wie in Lone Survivor behauptet wird oder ob American Sniper nun hurrapatriotische Propaganda ist oder nicht.

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Trailer zu American Sniper

 

Dabei werden viele verschiedene Teilbereiche auf bedenkliche Weise miteinander vermengt: Regisseure und Studios machen die Diskussion um den ästhetischen und künstlerischen Wert eines Films zu einer historischen und politischen, oft um direkte Konkurrenten mit den aufkommenden Kontroversen nachhaltig zu schaden. Gleichzeitig führen cineastisch eher unbedarfte Fraktionen (Politiker, fachfremde Journalisten oder Aktivisten, welche den entsprechenden Film oft nicht einmal gesehen haben) ihre politischen Konflikte auf dem Feld des Kinos aus. Internetseiten wie History vs. Hollywood und entsprechende YouTube-Formate liefern die Munition in diesem Kampf, dessen erstes Opfer meist der cineastische Diskurs ist.

Die zunehmend beliebteren Dokumentar-Spielfilm-Adaptionen schaffen eine neue, diffuse Situation, in der jede Kritik am Feature-Film an die Doku-Vorlage weitergeleitet wird. In seinem Kulturkampf gegen sich selbst schafft Hollywood neue Zwischenstufen, welche die jeweilige Veröffentlichung immer schwerer angreifbar machen. Darüber hinaus geht es natürlich auch um die Diversifizierung des Angebotes – endlich werden Fans aller Spielarten des Kinos angesprochen, im Notfall kommt einfach noch die entsprechende Serie hinzu.

Es ist zudem ein Schritt der Traumfabrik, die Authentizität seiner eigenen Produktionen auf eine neue Art abzusichern. Im Dokumentarfilm sind alle Fakten kinogerecht aufbereitet, die Verwandlung sollte eigentlich nur noch ein kleiner Schritt sein. Und doch ist es ein Seiltanz: Die emotionale Wahrheit wiegt im Kino mehr als Fakten und so manches Biopic beweist, wie sehr die Realität einen Film belasten und hinabziehen kann. Warum sich Studios und Regisseure in einer Sphäre der grenzenlosen Fantasie an die Wahrheit klammern wie ein Hochseilartist, der an seinem Ausgangspunkt verharrt, ist nicht wirklich klar. Hollywood dürfte ruhig ein bisschen mehr wie Philippe Petit sein.

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