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Vergangenheit und Gegenwart – Über Max Richters „The Blue Notebooks“

Ein Beitrag von Sonja Hartl

ANZEIGE Weit mehr als nur die „traurige Musik“ aus „Arrival“ – Über die Beziehungen zwischen Film und Max Richters legendärem Album „The Blue Notebooks“.

Meinungen
Max Richter
Max Richter

ANZEIGE Arrival sorgte für den Anstieg einer Suchanfrage: Welche „traurige“ Musik lief am Anfang und Ende dieses Films? Es war ein Stück, gleichsam vertraut und herzzerreißend und es brachte dem Komponisten Max Richter und seinem renommierten Album The Blue Notebooks noch einmal einen Popularitätsschub. Aber „Arrival“ ist nicht die einzige Verbindung dieses Albums zum Film.

Es ist der Krieg im Irak 2003, gegen den Max Richter mit seinem Album The Blue Notebooks protestierte, er betrachtet es als „a mediation of violence – both the violence that I had personally experienced around me as a child and the violence of war, at the utter futility of so much armed conflict. Es sollte einen Gegenpunkt zu dem politischen Kriegstreiben setzen, den Hörern Zeit und einen inneren Raum zum Nachdenken geben. Nach Erscheinen wurde es von der Musikkritik aufgrund der Verbindung aus klassischen und elektronischen Elementen in minimalistischen Kompositionen gelobt, diese Fusion wurde zu Richters Handschrift, in der sich andere minimalistische Komponisten und zugleich Electronica-Bands spiegeln.

The Blue Notebooks
The Blue Notebooks; Copyright: Deutsche Grammophon

 

Allein die Konzeption des Albums als Protest gegen den Krieg lässt es äußerst passend erscheinen, dass der israelische Regisseur Ari Folman The Blue Notebooks hörte, als er sein Drehbuch zu Waltz with Bashir geschrieben hat – Folmans Auseinandersetzung mit dem Libanonkrieg. Danach kam es ihm so vor, als habe Richter den Soundtrack zu dem Drehbuch geschrieben — und letztlich schrieb Max Richter die Musik zu dem Film.

 

Gegen den Krieg

Schon die ersten Bilder machen deutlich, wie wichtig der Ton und der Score in dem dokumentarischen Trickfilm Waltz With Bashir sind. Hunde hetzen eine Straße entlang, Menschen weichen ängstlich aus, aber sie haben ein Ziel: ein Wohnhaus, vor dem sie sich versammeln und einen Mann anbellen. Dröhnender, drängender, elektronischer Score untermalt diese Bilder, einzelne vorwärtstreibende Klänge setzen sich in der folgenden Sequenz fort. Hier sitzt der Mann mit seinem Freund Ari, einem Filmregisseur, in einer Kneipe und erzählt ihm von einem wiederkehrenden Traum von seinem Einsatz im Libanon. In diesem Moment setzen Orgelklänge ein. Sie sind fast spirituell, sie untermalen die Signifikanz dieses Zusammentreffens. Für Ari Folman ist es Auslöser zu seiner eigenen Suche nach seinen Erinnerungen an seine Zeit als israelischer Soldat im Libanon. Denn er hat keine Erinnerungen daran, noch nicht einmal an die Nacht des Massakers von Sabra und Shatila, nur wiederkehrende Bilder eines nächtlichen Bades am Strand von Beirut.

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Trailer zu Waltz with Bashir

 

Das Orgelstück Organum ist eines von zwei Stücken von The Blue Notebooks, die in Waltz with Bashir zusätzlich zu den für den Film komponierten Musiken zu hören sind. Das zweite ist Shadow Journal, es erklingt, als sich Aris Freund Carmi an seinen Einsatz im Krieg erinnert. Um den Feind zu täuschen, sind die Soldaten mit einem „Love Boat“, einem rosa angemalten Kommandoschiff, vor die Stadt Sidon gefahren. Alle feierten, aber ihm ging es schlecht. Er musste sich übergeben, dann schlief er ein – das war sein Widerstand, sein Ausweichen vor dem, was kommen sollte. Während Carmi nun in den Niederlanden von seiner Erinnerung zu erzählen beginnt, hört man Bassklänge. Die Bilder sind in ein meeresgrünes Licht getaucht, Nebel zieht auf. In seiner Erinnerung liegt er auf dem Schiff, auf der Bassspur kündigt sich etwas an – dann wechselt die Perspektive, die Bilder folgen dem Blick des Mannes, der an der Reeling gelehnt liegt. Eine Frau nähert sich, sie schwimmt auf dem Rücken mit gleichmäßigen, ruhigen Zügen auf das Schiff zu. Dazu erklingt ein fast wehklagender, einsamer Streicher, der zusammen mit den elektronischen Bassklängen untermalt, dass hier in einem Moment der Bedrohung etwas Wundersames geschieht. Die überlebensgroße, nackte Frau kommt aus dem Wasser, nimmt den Mann wie ein Baby in den Arm, springt wieder ins Wasser und schwimmt mit ihm davon. Während er zwischen ihren Beinen auf ihrem Bauch liegt, ist das Boot in der Ferne zu sehen. Es ist erleuchtet, sieht harmlos aus. Dann fliegt ein Flugzeug hinüber, wirft eine Bombe – und das Boot explodiert.

Max Richter
Max Richter; Copyright: Heiko Prigge/DG

 

Es ist die Brutalität des Krieges, die hier mit Wehmut und der Sehnsucht nach Geborgenheit verbunden ist. Auf The Blue Notebooks ist Shadow Journal anders arrangiert: Am Anfang sind pulsierende elektronische Töne zu hören, dazu kommen die Geräusche einer mechanischen Schreibmaschine. Tilda Swinton spricht die Worte:

How enduring, how we need durability / The sky before sunrise is soaked by light. / Rosy colour tints buildings, bridges, and the Seine. / I was here when she, with whom I walk, wasn’t born yet / And the cities on a distant plain stood intact / Before they rose in the air with the dust of sepulchral brick / And the people who lived there didn’t know. / Only this moment at dawn is real to me. / The bygone lives are like my own past life, uncertain./ I cast a spell on the city asking it to last.

Sie sind von Czeslaw Milosz, der über einen anderen Krieg zu einer anderen Zeit schreibt. Es sind Worte, die damals wie heute relevant sind – und auf sie folgt eine einsame Bratsche, die eine einfache, wehklagende Melodie spielt.

 

Verbindungen

Waltz with Bashir brachte Max Richter den Europäischen Filmpreis für die beste Filmmusik ein, seither schreibt er regelmäßig Musiken für Filme und Serien. Doch schon zwei Jahre zuvor war sein mittlerweile bekanntestes Stück von The Blue Notebooks in einem Film zu hören, es ist die „traurige Musik“ aus Arrival: On the Nature of Daylight, die erstmals in Stranger than Fiction (2006) in einem Film verwendet wurde.

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Neuaufnahme von On the Nature of Daylight für The Blue Notebooks

 

Erzählt wird die Geschichte von Harold Crick (Will Ferrell), einem Angestellten der Bundessteuerbehörde, der eines Tages eine Stimme hört, die seine Handlungen beschreibt. Anfangs ist er irritiert, verwirrt, dann vernimmt er beim Warten an der Bushaltestelle, dass diese Stimme einen „Little did he know“-Satz sagt: Harold wusste nicht, dass er sterben wird. Harold ist panisch, ängstlich, verzweifelt, er hat einen wütenden Zusammenbruch zu den wehklagenden Streichern von On the Nature of Daylight.

Gegen Ende des Films wird ein weiteres Stück von The Blue Notebooks zu hören sein: Harold hat mittlerweile herausgefunden, dass er eine Romanfigur in dem neuen Buch von Karen Eiffel (Emma Thompson) sein wird und steht mit der Schriftstellerin in Kontakt. Sie hat ihm ihr Manuskript gegeben, nun sitzt er in einem Bus und liest zu Horizonts Variations von seinem eigenen Ende. Schließlich sucht er Karen auf, trifft sie vor ihrem Haus und erklärt sich mit seinem Tod einverstanden. Es ist eine selbstlose, leise Geste, die durch diese sanfte Musik akzentuiert vor dem Kitsch bewahrt wird: „I read it, and I love it. There’s only way it could it end“.

Stranger Than Fiction
Stranger than Fiction; Copyright: Sony Pictures Home Entertainment

 

Innerhalb des Films schaffen die Musikstücke von The Blue Notebooks eine Verbindung: die Wut angesichts des bevorstehenden Todes weicht der Akzeptanz aufgrund eines höheren Gutes – der Literatur. Darüber hinaus zeichnet sich hier eine Bedeutung von On the Nature of Daylight ab, die bei der Verwendung in folgenden Filmen immer deutlicher hinaustritt: Das Stück verbindet verschiedene Zeitebenen, es vereint Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

 

Gleichzeitigkeiten

Diese Form der Gleichzeitigkeit ist das Strukturprinzip von Henry Alex Rubins Disconnect (2012), der episodisch von den Aktivitäten verschiedener Figuren im Internet sowie deren bisweilen grausamen Folgen erzählt. Im Gegensatz zu Stranger than Fiction hat Max Richter hier nicht nur die Erlaubnis gegeben, On the Nature of Daylight zu verwenden, sondern den gesamten Score geschrieben. Das Stück wird indes in einer Montage verwendet, in der alle Figuren bewusst wird, welche Folge ihre Taten hatten. Es ist das Herzstück des Films, das von anderen Stücken aufgegriffen – bspw. durch die Geigenmelodie von The Swimmer – und umrahmt wird.

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Aufnahmen von On the Nature of Daylight für Disconnect

 

Die Verbindung aus Vergangenheit und Gegenwart wird auch sehr deutlich in den Sequenzen, in denen On the Nature of Daylight in The Face of an Angel (2014) gespielt wird. Michael Winterbottoms Film dreht sich um die wahre Geschichte der Ermordung der Studentin Meredith Kercher in Italien, für die in erster Instanz ihre Mitbewohnerin Amanda Knox verurteilt wurde. In The Face of an Angel kommt Thomas (Daniel Brühl) nach Italien, um für einen Film zu recherchieren und stößt dort auf so viele Versionen der Wahrheit, während er gleichzeitig mit dem Scheitern seiner Ehe beschäftigt ist, dass er sich zunehmend in Erinnerungen und Einbildungen verliert. Der Film arbeitet stark mit musikalischen Motiven, beispielsweise ist bei den Zusammentreffen von Thomas und der Studentin Melanie (Cara Delevingne) stets Philipp Glass` Violon Concerto II zu hören. On the Nature of Daylight ist indes an die Erinnerung an Meredith Kercher gebunden. Gegen Ende des Films denkt Thomas an die lebende Meredith Kercher, die im Trubel der Berichterstattung über Amanda Know fast vergessen ist – außer von ihrer Familie und von Thomas, für die der Tod immer noch die Gegenwart überstrahlt.

 

Wehklagen und Liebe

Vier Jahre vor The Face of an Angel war On the Nature of Daylight auch in Martin Scorseses Shutter Island an die Erinnerung an eine tote Frau und ein zurückliegendes Verbrechen gebunden. Das erste Mal ist das Stück zu hören, als sich Edward Daniels (Leonardo DiCaprio) an seine Frau erinnert, die nach seiner Überzeugung bei einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen ist. Es ist eine schmerzvolle Erinnerung, sie ereilt ihn in einem Traum – so wie er immer wieder von Erinnerungsfetzen sowie Halluzinationen heimgesucht wird. Am Ende des Films erklingt On the Nature of Daylight ein zweites Mal, dieses Mal als Mash-up mit Lyrics von Dinah Washingtons This Bitter Earth. Die eindringlichen Worte rufen Traurigkeit, Sorge, aber auch ein wenig Resignation im Angesicht einer Welt hervor, die so hart sein kann – aber deren bitterness etwas gemildert werden kann durch jemanden, den man liebt. So wie Edwards Liebe für seine Frau, was ihre und seine Tat(en) umso grausamer und schmerzlicher erscheinen lässt.

Dieses Mash-up am Ende lässt Zeiten zusammenbrechen, Vergangenheit und Gegenwart ineinander fallen, es ist Ausdruck eines gebrochenen Herzens, das sich nicht mehr heilen lässt. Zugleich wird damit eine weitere Referenzebene zu Charles Burnetts Killer of Sheep eingezogen, in der ein Ehepaar (Kaycee Moore, Henry G. Sanders) zu Dinah Washingtons This Bitter Earth tanzt und sich Hoffnung, Verzweiflung, Erstarrtheit und Ausweglosigkeit verbinden.

Killer of Sheep
Killer of Sheep; Copyright: Milestone Films

 

Perfektion

Ursprünglich als Proteststück gedacht, hatte On the Nature of Daylight bereits vor Arrival eine beachtliche Film-Biographie. Daher hat Max Richter anfangs gezögert, ob er die Erlaubnis gibt, das Stück in Arrival zu verwenden. Letztlich hat er eingewilligt, weil es so gut zu dem Palindrom-Film passt. In Arrival kulminieren die Themen, die dieses Stück auch schon zuvor in Filmen akzentuiert hat: Das Zusammenfallen von Vergangenheit und Gegenwart wird hier nicht nur hinterfragt, sondern angegriffen und dekonstruiert – und damit wird auch ein Krieg verhindert. Sieht man in Arrival daher den Versuch von Außerirdischen, der Welt durch Sprache zu begegnen, ist On the Nature of Daylight der Versuch, der Welt durch Musik zu begegnen.

Arrival
Arrival; Copyright: Sony Pictures Home Entertainement

 

15 Jahre nach der Erstveröffentlichung von The Blue Notebooks kommt nun eine neue Ausgabe heraus, die das Album, eine zweite Disc mit Live-Aufnahmen, Remixes von Jlin und Konx-Om-Pax, ein neues Stück mit dem Titel A Catalogue of Afternoons enthält – und eine neue Version von On the Nature of Daylight. Es ist eine Gelegenheit, nicht nur das Album noch einmal zu hören, sondern Stücken zu begegnen, deren Bedeutung sich durch die Filme ebenso verändert wie durch die Positionierung auf dem Album. Zugleich stellt es durch die zweite Disc mit den neuen Aufnahmen bekannter Stücke ebenfalls eine untrennbare Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart her.

Heute ist außerdem ein neues Musikvideo zu On the Nature of Daylight erschienen — und zwar mit Elisabeth Moss in der Hauptrolle.

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Produktinformation:

Die Deutsche Grammophon präsentiert eine erweiterte Neuausgabe von Max Richters »The Blue Notebooks« zum 15. Jahrestag des Entstehung des Werks. Richter hatte das Werk in nur drei Stunden aufgenommen. Doch das Album wurde zum Kultklassiker, dann zum Trendsetter, schließlich zum Maßstäbe setzenden Meisterwerk. Es bahnte einer ganzen Generation erfolgreicher junger Komponisten den Weg. Millionenfach wurde es auf Spotify abgerufen und selbst in der Werbung, in Fernsehsendungen und Filmen häufig genutzt. Was heute durchaus üblich ist, war seinerzeit revolutionär – Richter war mit »The Blue Notebooks« einer der Ersten, der klassische und elektronische Elemente mit Perspektiven des Post-Rock verknüpfte.http://www.klassikakzente.de/max-richter/home

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