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„Und das Land ringsum wurde öd und stumm“ - Eine Apologetik des Heimatfilms

Ein Beitrag von Katrin Doerksen

Langweilig, seicht, verlogen — der Heimatfilm hat aus heutiger Seicht keinen leichten Stand. Doch bei allem Eskapismus reagierte das Genre auch immer wieder auf die Probleme seiner bundesdeutschen Gegenwart.

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Erik Schumann und Edith Mill in "Heiße Ernte"
Erik Schumann und Edith Mill in "Heiße Ernte"

Auf grünen Hügeln steht der Hopfen in voller Blüte, der Himmel erstrahlt im schönsten Agfacolorblau und aus einem vollbesetzten Zugwaggon ertönt beschwingte Akkordeonmusik. Propere Menschen mit blonden Locken und roten Apfelbäckchen sitzen darin, spielen Karten, ein Kind schläft selig auf der Gepäckablage. Städter auf dem Weg in die Sommerfrische? Mitnichten. Hans H. Königs „Heiße Ernte“ (1956) beginnt mit Saisonarbeitern, die in Tettnang am Bodensee bei der Hopfenernte helfen werden. Unter ihnen Berlinerinnen ohne Geld und Perspektive, eine alleinerziehende Mutter mit sieben Kindern, Menschen, die im Krieg alles verloren haben. Gleich nach der Ankunft werden sie ihre Doppelstockbetten in den hölzernen Baracken beziehen — „rechts die Männer, in der Mitte die Ehepaare, links die Jungfrauen“ — dann geht es aufs Feld.

 

Der Heimatfilm hatte und hat zum Teil nach wie vor einen schweren Stand in der Kritik und Filmwissenschaft. Das einzige genuin deutschsprachige Genre steht für einen Drang nach Eskapismus, den man der Nachkriegsgesellschaft aus heutiger Sicht zwar irgendwie nachsieht, den man aber dennoch verachtet. Der Heimatfilm sei langweilig, heißt es oftmals, seicht, verlogen in seiner Darstellung eines naturnahen Idylls und darin nicht weit entfernt von der „Blut-und-Boden“-Ideologie des NS-Filmschaffens. Nachvollziehbare Beobachtungen — und doch scheinen auch sie zuweilen nicht ganz aufrichtig. Denn gerade aus der Perspektive der Nachgeborenen müssten wir ja in der Lage sein, das Verlogene dieser Filme, die Abgründe hinter den sonnenbeschienenen Heiden und Hügeln ebenso wie hinter den häufig keineswegs entnazifizierten Kameras zu erkennen. Und wie können sie uns dann langweilen?

 

Das Idyll ist nur Fassade

Selbst die Apologeten des Genres führen zumeist in erster Linie die Autoren des Neuen Deutschen Films an, die ab Mitte der 1970er Jahre versuchten, der Tradition ihre Anti-Heimatfilme entgegenzusetzen. Edgar Reitz, der schmallippig für sich beansprucht, keine Heimatfilme, sondern Filme über Heimat zu drehen. Vereinzelte obskure Genreperlen wie Ernst Ritter von Theumers Die Totenschmecker (1978) oder der „Neue Heimatfilm“ von Regisseuren wie Joseph Vilsmaier oder Xaver Schwarzenberger.

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Dabei ist es schlicht falsch dem klassischen Heimatfilm der 1950er Jahre zu unterstellen, er produziere und projiziere ideale Welten. Wenn die Konflikte dieser Filme zumeist auch formelhaft behandelt und am Ende stets auf wundersame Weise aufgelöst werden, so existieren sie doch. Schleichen sich immer wieder aufs Neue ein und entlarven das Idyll als hauchdünnen Firnis auf einer noch von Einschusslöchern perforierten Fassade. Zentral ist dabei meist der Clash der Generationen, wenn etwa Eltern über das Liebesglück ihrer Kinder bestimmen wollen wie in Die Fischerin vom Bodensee (Harald Reinl, 1956) oder Die Magd von Heiligenblut (Alfred Lehner, 1956). Intrigen, alte Geheimnisse und Eifersüchteleien hetzen Dorfbewohner*innend gegeneinander auf wie in Die Sennerin von St. Kathrein (Herbert B. Fredersdorf, 1955) oder Der Meineidbauer (Rudolf Jugert, 1956). Den Kontrast von Stadt und Land verkörpern nicht selten ein aus dem Ausland zunächst widerwillig heimkehrender Sohn wie in Wenn die Heide blüht (Hans Deppe, 1960) oder preußische Kapitalisten wie die Berliner Fabrikanten in Im weißen Rößl (Willi Forst, 1952). Konflikte um Jagdgründe und Wilderei entpuppen sich als Arena, in der Männer ihre durch soziale Ungleichheit oder unbefriedigte Gefühle angestauten Aggressionen ausagieren wie in Heimatland (Franz Antel, 1955) oder Der Förster vom Silberwald (Alfons Stummer, 1954). Dazu gesellen sich jähzornige Figuren, Trinker und Schläger. Figuren, die im Krieg oder auf der Flucht alles verloren haben und davon entweder bitter geworden sind wie der Heimatvertriebene in Grün ist die Heide (Hans Deppe, 1951) oder versuchen, sich gegen alle Widerstände etwas Neues aufzubauen wie die junge Gasthofbesitzerin in Am Brunnen vor dem Tore (Hans Wolff, 1952).

 

Verbittert und hartherzig

Eine der verbitterten Gestalten ist Thomas Holinka aus Hinter Klostermauern (1952), ein Heimatdrama von Harald Reinl, gespielt von Frits van Dongen. Holinka ist ein gelernter Gärtner, der nach dem Zweiten Weltkrieg auf die schiefe Bahn geraten ist. Er landet im Gefängnis, trinkt übermäßig viel und verspielt sein weniges Geld. Weil er so im chronisch wohnungsknappen München keine Bleibe findet, richtet er sich mit seiner Freundin (Katharina Mayberg) und dem gemeinsamen Kind außerhalb der Stadt in einem Kloster ein und weigert sich zu gehen, als die Nonnen wieder einziehen. Hinter Klostermauern ist einer dieser Filme an den Rändern des Heimatgenres, die direkt auf die Gegenwart und ihre Probleme Bezug nahmen.

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Dabei entstand der Film durchaus in einem konventionellen Rahmen: Regisseur Harald Reinl war vom Bergfilmpionier Arnold Fanck entdeckt worden, assistierte Leni Riefenstahl unter anderem bei Tiefland (1954) und drehte seit Ende der 1940er und bis in die 1980er Jahre hinein zahlreiche kommerziell orientierte Filme, darunter neben den Heimatfilmen auch Adaptionen von Karl May und Edgar Wallace. Als Produzentin von Hinter Klostermauern fungierte Olga Tschechowa, die schon zur NS-Zeit als große Filmdiva gefeiert wurde und auch später nicht ihre guten Beziehungen zu Hitler verschwieg. Hier spielt sie die Mutter Oberin, die Holinka aufopferungsvoll im Kloster wohnen lässt, im festen Glauben, das Gute in ihm zu erkennen. In düster verschattetem Schwarzweiß, das zuweilen an die Werke des Expressionismus erinnert, legt Reinl die Vergangenheit des Mannes frei: Angesichts der Kriegsgräuel den Glauben an Gott und die Menschheit verloren, jahrelange Kriegsgefangenschaft, Verlust der Heimat. Er solle sich nur umschauen, erwidert die Mutter Oberin dem verbitterten Mann. Vielen der Nonnen sei es nicht anders ergangen.

Nur wird aus dem Leid in Hinter Klostermauern kaum einmal geteiltes Leid: Der Barmherzigkeit der Mutter Oberin setzt Reinl stets die Hartherzigkeit der meisten übrigen Nonnen entgegen, die sich an Holinkas Musik, seinen Manieren, seiner bloßen Anwesenheit stören und die kleine Familie möglichst schnell vor die Tür setzen wollen. Aber in der Stadt gibt es erst recht keinen Trost: Die Straßen und Kneipen scheinen bevölkert von zwielichtigen Typen und falschen Freunden, die einen trunken machen und noch das letzte Geld aus der Tasche ziehen. Was hat der Krieg nur mit diesen Leuten gemacht? Oder waren sie schon immer so?

 

Was der Heimatfilm hätte sein können

Im selben Jahr wie Hinter Klostermauern entstand mit Rosen blühen auf dem Heidegrab einer der wenigen Heimatfilme, über die das allgemeine nachträgliche Urteil mild ausfällt. Ein schauriges Heimatmärchen aus der Lüneburger Heide, in der sich die junge Dorothee (Ruth Niehaus) gegen den übergriffigen Bauern Eschmann (Hermann Schomberg) wehren muss. Dabei droht sich eine Sage aus dem Dreißigjährigen Krieg zu wiederholen, in der eine junge Frau ihren Vergewaltiger ins Moor lockte und mit ihm dort verschwand. Die verwunschenen Rosen auf dem geheimnisvollen Grab in der Heide gemahnen daran. Der 1952 von Hans H. König in Schwarzweiß inszenierte Film erinnert mit seiner expressiven Ausleuchtung und den Überblendungen gelegentlich an das Delirium am Ende des NS-Melodrams Opfergang (1944) mit Kristina Söderbaum. Nur, dass sich in Rosen blühen auf dem Heidegrab keine märtyrerische Todessehnsucht in den Bildern manifestiert wie in Opfergang, sondern vielmehr der Horror, der der alten Heimat innewohnt. Von Anfang an wollen Dorothee und ihr Geliebter (Armin Dahlen) nichts als weg in die Stadt, nach Lüneburg in eine moderne Wohnung. Aber aus der Heide gibt es kein Entkommen.

"Rosen blühen auf dem Heidegrab" © König Film
„Rosen blühen auf dem Heidegrab“ © König Film

Der Name Hans H. König taucht in der Filmgeschichtsschreibung der Nachkriegszeit kaum einmal prominent auf, die Wenigsten erinnern sich heute an ihn. Zu Unrecht — zeigen seine Filme doch, was der Heimatfilm unter anderen Umständen hätte sein können. Aber auch, was er durchaus gelegentlich ist, wenn man nur genau hinschaut. Der 1912 in Berlin geborene König war nicht zur Wehrmacht eingezogen worden, weil er als Spediteur für ein als kriegsgewichtig eingestuftes Unternehmen arbeitete. Nach 1945 versuchte er als Schriftsteller Fuß zu fassen und kam schließlich als Drehbuchautor zum Film, weil sein Bruder Richard König eine Produktionsfirma gegründet hatte: Die König-Film GmbH sollte sich in den folgenden Jahren auf Heimatfilme spezialisieren und Hans nahm schon bald selbst auf dem Regiestuhl Platz.

Nach dem kommerziell kaum erfolgreichen Rosen blühen auf dem Heidegrab wandte er sich zunächst wieder dem humoristischen Fach zu und drehte 1954 mit Die kleine Stadt will schlafen gehen ein Lustspiel, das, wenn auch diesmal in einer namenlosen Kleinstadt verortet, ganz ähnliche Themen verhandelt wie ein Heimatfilm. Als zufällig ein Postsack verschwindet, ruft das die angesehensten Bürger auf den Plan, die einen Skandal um ihre dunkelsten Geheimnisse fürchten. Als Verdächtiger wird schnell ein ortsansässiger Künstler und alleinerziehender Vater (Gustav Fröhlich) herbeigezaubert, der sich auf das Spiel einlässt und die Honoratioren an der Nase herumführt: Heimliche Geliebte, Steuerschummeleien und Bestechung, Aktfotos und ein ausgestopfter Schaumstoff-BH sind die recht harmlos gehaltenen Verfehlungen, die dennoch die heile Kleinstadtwelt als Illusion entlarven. Alle haben irgendwelche Leichen im Keller.

Noch im gleichen Jahr drehte Hans H. König mit Geliebtes Fräulein Doktor einen Film, der das Heimatgenre mit einem Prototypen der späteren Paukerfilme verfugt: Die Sechste Klasse eines Jungeninternats irgendwo in den Bergen vergrault regelmäßig ihre Lehrer für Deutsch und Geschichte, so dass erstmals eine Frau (Edith Mill) für den Job engagiert wird, die sich zwar als fachlich erstklassig und menschlich tadellos herausstellt – die jedoch mit ihren Zöpfen und Wollstrümpfen eine recht altmodische Erscheinung abgibt. So schreibt Klasse Sechs regelmäßig Liebesbriefe im Namen des Sportlehrers, die die Lehrerin dazu bewegen sollen, ihre Garderobe der neusten Mode anzupassen.

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Geliebtes Fräulein Doktor erfüllt alle Kriterien eines formelhaften Kinoerfolgs der 1950er: Schlichte Figuren, eine wendungsreiche Liebesgeschichte vor malerischem Bergpanorama, gelegentlich musikalische Einlagen. Aber er verweist auch auf größere Ambitionen. Nicht nur, weil der Film im Garutso-Plastorama-Verfahren gedreht wurde, einer Konkurrenzerfindung zum Cinemascope, die eine beeindruckende Tiefenschärfe ermöglichte und hier immer wieder in Gruppenszenen mit der ganzen Klasse oder in Innenaufnahmen des Internats im mondänen 1950er-Reformbaustil ihr Potential entfaltet. Auch das Drehbuch ist mit Andeutungen gespickt: Als eine moralische Entscheidung ansteht, ermahnt der junge Hans Clarin in der Rolle des Klassenprimus seine Kameraden: „Da reden wir die ganze Zeit von ‚besser machen wollen und wenn wir erst dran sind‘… Und wenn’s drauf ankommt ist die ganze Gesinnung für eine einzige Zigarette beim Teufel.“

Andere Filme von Hans H. König mögen dem typischen Heimatfilmklischee schon eher entsprechen — und heben sich dennoch durch ihre handwerklichen Qualitäten ab. Wie etwa Die Winzerin von Langenlois (1957), ein klassisches Verwechslungslustspiel, dessen Vorspannmusik nur ansatzweise mit bayrischen Blaskapellenklängen spielt und ansonsten mit seinen raffinierten Walzer-, Jazz- und Big-Band-Passagen auch jederzeit als Opener einer Hollywoodkomödie der 1950er Jahre durchgehen könnte.

 

Neorealismus trifft Hollywood-Melodrama

Das Hauptwerk von Hans H. König ist jedoch der eingangs erwähnte Heiße Ernte (1956), mit dem sich der Regisseur deutlich an Bitterer Reis orientierte, Giuseppe De Santis’ 1949er Klassiker des Neorealismus, der seine Liebesgeschichten ins Klassenkampfmilieu italienischer Arbeiterinnen auf den Reisfeldern einbettet. In Heiße Ernte ist es die Hopfenernte, während der sich auch Auschra (Edith Mill) mit ihren dunklen, traurigen Augen als Ernstehelferin verdingt. Gegen Ende des Krieges hatte sie mit ihrer Familie das Gut in Ostpreußen verlassen müssen, inzwischen ist auch ihr Vater tot und Auschra hat niemanden mehr. Da entdeckt sie im Hoferben Konrad (Erik Schumann), ein ernsthafter junger Mann vom Typ Karlheinz-Böhm-als-Kaiser-Franz-Josef, einen alten Freund wieder, der im Krieg bei ihrer Familie einquartiert war. Die beiden verlieben sich — doch Konrad ist bereits mit der reichen Erbin des benachbarten Gehöfts verlobt.

"Heiße Ernte" © König Film
„Heiße Ernte“ © König Film

Bald schon taucht ein zwielichtiger Lederjackenträger (Helmut Schmid) aus Auschras Vergangenheit in der Gegend auf, der Ansprüche auf sie anmeldet (diese Wendung, er habe Ansprüche auf sie, wird tatsächlich mehrfach so formuliert) und dafür auch vor Verbrechen nicht zurückschreckt. Gedreht wurde on location in den Frühhopfenanbaugebieten um Tettnang; die Szenen auf den Feldern muten teils semi-dokumentarisch an.

Die Vergleiche mit dem italienischen Neorealismus liegen nahe: Auch hier bleibt die erzählte Geschichte nah an der Lebensrealität der arbeitenden Bevölkerung sowie insbesondere der Vertriebenen und Flüchtlinge, die 1950 etwa ein Fünftel der Bevölkerung in der Bundesrepublik ausmachten, und thematisiert nebenbei soziale und gesellschaftliche Missstände. Menschen ohne Perspektive, die sich zum Teil gegenseitig die Butter auf dem Brot nicht gönnen.

Aber Heiße Ernte erinnert auch an die großen Gesten des Hollywoodkinos. Wie Königs Kameramann Kurt Hasse (der auch mit Helmut Käutner Himmel ohne Sterne (1955) drehte und später die Kameraarbeit der Science-Fiction-Serie Raumpatrouille Orion verantworten sollte) das Licht in den Großaufnahmen setzt oder einen Spaziergang am See bei offensichtlich strahlendem Sonnenschein im Day-for-Night-Verfahren filmt, macht die Gesichter zu Gefühlslandschaften, die Welt zu einem Labyrinth extremer Sättigung und tiefster Schatten wie in einem Melodrama von Douglas Sirk. Wie er seine Figuren um ein Lagerfeuer formiert, sodass sie grüppchenweise zusammensitzen und dennoch den Eindruck machen, als stünden sie ganz für sich allein, erinnert an die melancholischeren Momente der US-amerikanischen Rock’n’Roll-Youth. Man möchte sich fragen, ob Robert Wise und Jerome Robbins diese Szene sahen, bevor sie 1961 West Side Story inszenierten. Sie singen eine traurige Melodie, von Gitarren begleitet:

„Und das Land ringsum / wurde öd und stumm / war so leer / Wie schön war dieser Sommer / Der Sommer ging vorbei / danach brach die Liebe entzwei.“

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