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Über Film noir - Teil 5: Das europäische Kino

Meinungen

Der Mittelpunkt des Film noir liegt zwar in den USA, aber er ist kein rein amerikanisches Phänomen. Vielmehr wurden in vielen Ländern Noirs gedreht, ausgeprägte Parallelbewegungen gab es indes in Frankreich und Großbritannien. Hier zeigte sich schon früh die Entwicklung einer eigenen Tradition zum Film noir.


(Bild aus Ascenseur pour l’échafaud von Louis Malle; Copyright Pierrot Le Fou / Alamode Film)

Noir in Frankreich

Die Wurzeln des französischen Film noir liegen in der französischen Kriminalliteratur. Schon in den 1930er Jahren wiesen die Georges-Simenon-Verfilmungen triste Alltagsumgebungen und Figuren auf, deren Leben vom Verbrechen ruiniert wird – z.B. La nuit du carrefour (1932, Jean Renoir), La chien jaune (1932, Jean Tarride) oder La tête d’un homme (1933, Julian Duvivier). Im Poetischen Realismus (vgl. Teil 1) gab es pessimistische und moralisch ambivalente Filme; der Zweite Weltkrieg unterbrach trotz düsterer Filme wie Les inconnus dans la maison (1942, Henri Decoin) oder Le corbeau (1943, Henri-Georges Clouzot) diese Entwicklung aber vorerst. Die Nachkriegsfilme griffen dann den Realismus und Fatalismus nicht nur auf, sondern erwiesen sich als noch trostloser; sie drängten die ‚Poesie‘ der Zwischenkriegsjahre zurück. In Quai des orfèvres (1947, Henri-Georges Clouzot) sind die Charaktere von Liebe und Sexualität besessen, dabei erschafft Clouzot mit seinem Kameramann Armand Thirard schattenreiche Bildkompositionen, die in die Welt der Nachtclubs und Polizei entführen und zugleich die Leidenschaft der Charaktere widerspiegeln. Dabei ist nicht nur bemerkenswert, dass in dieser fatalen Geschichte über einen Pianisten und eine Sängerin, die unter Mordverdacht geraten, der Inspektor hinter der Bühne auf Tänzerinnen trifft, die lediglich minimal bedeckte Brüste haben, sondern die Dritte im Bunde, eine Fotografin, offensichtlich in die Sängerin verliebt ist – und der Inspektor einen wörtlichen Hinweis auf ihre sexuelle Orientierung gibt. Die Sexualität wird in den französischen Filmen freizügiger als in den amerikanischen bleiben.


(Bild aus Quai des orvèvfres von Henri-Georges Clouzot; Copyright: Optimum Releasing)

Unterwelten

Die Desillusionierung und die Erfahrung der Besatzung (vgl. Les portes de la nuit, 1946, Marcel Carné) spiegeln sich in den düsteren Filmen wider, eine schäbige Umgebung, eine Atmosphäre der Unterdrückung und käufliche Charaktere sind beispielhaft für den Film noir in Frankreich in dieser Zeit. In den 1950er Jahren nimmt dann der Einfluss des amerikanischen Noir zu, oftmals durch die Bücher der Série Noire (vgl. Teil 1). Zugleich beginnt die ‚typisch‘ französische Konzentration auf die Unterwelt. Touchez pas au grisbi (1954, Jacques Becker) steht am Anfang einer ganzen Reihe französischer Unterweltfilme und setzt Maßstäbe für nachfolgende Werke wie Du Rififi chez les hommes (1955, Jules Dassin) und Bob le flambeur (1956, Jean-Pierre Melville): Der alternde Gangster Max (Jean Gabin) hat mit seinem treuen Komplizen Riton (René Dary) Goldbarren im Wert von fünfzig Millionen Francs erbeutet und sicher versteckt. Dann prahlt Riton gegenüber seiner Freundin Josy (Jeanne Moreau), einer jungen Nachtclubtänzerin, mit dem Raub, und sie erzählt es wiederum Angelo (Lino Ventura), der sie mit Rauschgift versorgt. Nun will Angelo die Beute haben und entführt Riton, um sie zu erpressen. Mit Ausnahme von zwei Szenen spielt die Handlung immer in der Nacht, in Restaurants, Cabarets, erleuchteten Wohnungen, Autos und auf Straßen, durch die sich die Kamera mit Eleganz und Ökonomie bewegt, um die Kopfsteinpflasterstraßen und dunklen Ecken einzufangen. Es ist dieses Leben in der Nacht, das Max ermüdet, das gleichbedeutend mit der Welt der Verbrecher ist, in der der Film vollends verbleibt. Hier herrschen eigene Regeln, die Polizei spielt keine Rolle. Zugleich treffen in Touchez pas au grisbi inner- und außerfilmische Vergangenheit und Gegenwart aufeinander: Allein durch die Besetzung mit Jean Gabin erhält Max durch den impliziten Verweis auf dessen frühe Filme (Pépé le moko, Quai des brumes, Le jour se lève) eine besondere Tiefe und bekannte Vergangenheit, die seine Sehnsucht nach einem ruhigen Leben wie sein entschlossenes Handeln glaubhaft werden lässt. Max ist ein Gangster der alten Schule, für den Loyalität und Freundschaft eine Bedeutung haben. Max und Gabin treffen nun auf den Drogenhändler Angelo und Lino Ventura, der hier sein Leinwanddebüt gibt. Angelo verkörpert die Gegenwart, in der Regeln gebrochen und Verbündete hintergangen werden – und zugleich begründet Touchez pas au grisbi die Karriere von Ventura.

Es ist die Vergeblichkeit, die den französischen Noir auszeichnet. Die Vergeblichkeit im Handeln von Max, die zugleich mit einer leicht romantisierten Melancholie zusammenhängt. Schon in Grisbi entsteht diese Stimmung, wenn Max mit müden Augen seinem Kollegen beim gemeinsamen Essen von der bevorstehenden Gefahr erzählt und den ewig jungen Frauen mit dem Wissen begegnet, dass sie ihn aufgrund seiner Macht interessant finden. Diese unterschwelligen Töne werden dann in folgenden Filmen ausgebaut, in denen neben der Schwärze und der Unterwelt die Vergeblichkeit der Liebe zu einem Merkmal des französischen Noir wird.


(Bild aus Touchez pas au grisbi von Jacques Becker; Copyright: Optimum)

Die Liebe und die Nouvelle Vague

Der Einfluss des amerikanischen Noir und die Vergeblichkeit lassen sich meisterhaft verbunden in Ascenseur pour l’échafaud (1958, Louis Malle) finden. In seinem zweiten Film greift Malle deutlich auf amerikanische Noir-Motive zurück: Florence Carala (Jeanne Moreau) ist eine Femme fatale, die ihren Liebhaber, den ehemaligen Soldaten Julien Tavernier (Maurice Ronet), dazu bringt, ihren Ehemann zu ermorden. Sein perfekter Plan scheitert, er bleibt im Fahrstuhl stecken und zur gleichen Zeit wird ein Mord von dem kriminellen Heißsporn Louis (Georges Poujouly) begangen, der sich als Julien ausgibt. Die Polizei glaubt nun, Julien sei der Täter und sucht ihn. Tatsächlich hätte Julien ein perfektes Alibi, das er jedoch nicht verraten kann, ohne sich des von ihm begangenen Mordes zu bekennen.


(Bild aus Ascenseur pour l’échafaud von Louis Malle; Copyright Pierrot Le Fou / Alamode Film)

Die Stadt mit ihren Hochhäusern und verlassenen Straßen wird von Kameramann Henri Decaë in vielschichtige Bilder gefasst, die an amerikanische Großstädte denken lassen. Gesichter werden in wechselvolles Dunkel und Hell getaucht, Innenräume vermieden, gedreht wurde vor Ort und ohne zusätzliche Beleuchtung auf den Straßen, dennoch sind die Bilder stilisiert. Die ausschließlich verwendete Musik von Miles Davis schafft eine weitere Verbindung zum amerikanischen Großstadt-Noir, zudem durchzieht den Film ein Gefühl der Einsamkeit und Entfremdung. Denn das Hoffen auf Liebe und die Auflehnung gegen das Schicksal dieser Figuren ist vergebens.

Mit seinem Film bricht Malle – wie schon Melville und Becker ansatzweise in ihren Kriminalfilmen – mit der Behäbigkeit und Prätention des traditionellen französischen Kinos und damit ist Ascenseur pour l’échafaud die Verbindung zur Nouvelle Vague, deren Regisseure – insbesondere Claude Chabrol, Jean-Luc Godard und François Truffaut – die ‚B-Noirs‘ des amerikanischen Kinos aufgrund ihrer Realitätsversessenheit, desillusionierten Atmosphäre und ihres ästhetischen Selbstbewusstseins schätzten und sie in ihren Filmen aufgriffen. In Truffauts Tirez sur le pianiste (1960) wandeln sich die Noir-Motive zu „einer existentiell-metaphyischen Schwärze“ (Josef Rauscher in: Film noir von Norbert Grob), in Godards À bout de souffle (1960) ist Jean-Paul Belmondos Michael Poiccard ein charismatischer, zynischer Gauner und moderner Antiheld, dessen düstere, existentielle Version der Welt am helllichten Tag gedreht wurde. Dabei erzählt Godard nicht vom Aufstieg und Fall eines Gangsters, sondern nur von dessen Fall in einer Narration, die immer wieder neue Orte und Handlungen einführt, ohne eine klar zu erkennende Verbindung aufzubauen. Der Film radikalisiert erzähltechnische Noir-Verfahren, indem er den Zuschauer zum Bestandteil einer inkohärenten Narration macht. Dabei symbolisieren bspw. die jump cuts das verstreute, umherspringende Denken des Helden. Zugleich steckt er voller Anspielungen auf und Anleihen an den amerikanischen Noir und deckt diese Vorbilder zugleich auf – bspw. in der berühmten Szene, in der Poiccard Humphrey Bogart imitiert, als er auf ein Poster von The Harder They Fall (1956, Mark Robson) blickt. Hier trifft das Abbild auf das Vorbild.


(Bild aus À bout de souffle von Jean-Luc Godard; Copyright: Studiocanal)

Mit den jump cuts, Nahaufnahmen, Handkamerabildern und extradiegetischen Ebenen wurden durch einen Teil der Filme der Nouvelle Vague die subjektivierenden Ausdrucksmöglichkeiten des Film noir weiterentwickelt (vgl. hierzu ausführlicher Röwekamp), in den Gangsterballaden von Jean-Pierre Melville werden die Noir-Elemente hingegen eher verdichtet. Schon Les Doulos (1962) strotzt vor Stilzitaten und erschafft in seiner meisterhaften Verwendung des Schwarz-Weiß einen nihilistischen Kosmos, der weniger durch seine Realitätsnähe denn seine perfekte Eleganz besticht. Mit Le deuxième souffle (1966) wird er diesen Nihilismus, die Tristesse und Präzision noch weiter treiben.

Diese Weiterentwicklung des Film noir in Frankreich wirkte sich auf eine Reihe US-amerikanischer Filme wie bspw. Bonnie and Clyde (1967, Arthur Penn), Point Blank (1967, John Boorman) und – als sehr prominentes Beispiel – Pulp Fiction (1994, Quentin Tarantino) aus. Sie verbindet das Bewusstsein für den klassischen Noir und das europäische Kino.

Polar und Noir

In enger Verwandtschaft zum französischen Film noir steht der polar (umgangssprachlich für film bzw. roman policier) bzw. néo polar, der sich in der französischen Kriminalliteratur im Zuge der 1968er Bewegung entwickelte und aus deutlich linkspolitischer Haltung heraus soziale und politische Themen aufgriff. Im Film spiegelt er sich in Frankreich (und auch Italien) in einer Reihe Politthriller wider, die aus einer linken Perspektive heraus gedreht sind. Sie hinterfragen die staatliche Macht (Z, L’Aveu, L’Attentat) oder untersuchen wie Claude Chabrols Verfilmung von Jean-Patrick Manchettes Nada die Moral des Terrorismus am Beispiel einer Gruppe, die den amerikanischen Botschafter entführt hat. Hinzu kommen Filme über korrupte Polizisten wie bspw. Police Python 357 (1976, Alain Corneau), in dem der Polizist Ferrot (Yves Montand) den Tod seiner Geliebten untersucht, die auch die Geliebte seines Vorgesetzten war, der sie ermordet hat und die Ermittlung so beeinflusst, dass Ferrot als Hauptverdächtiger gilt.


(Bild aus Police Python 357 von Alain Corneau; Copyright: Studiocanal)

In den folgenden Jahren gibt es immer wieder Rückgriffe auf den Film noir, beispielsweise durch den in sich selbst und der Erinnerung gefangenen Detektiv in Mortelle randonnée (1983, Claude Miller), die Rückblenden, den Off-Erzähler und eine Femme fatale wider Willen in Les voleurs (1996, André Téchiné), die Vorwegnahme des Endes, die zweifelhafte Moral, die Annäherung der Polizisten an die Verbrecher, die sie jagen sollen, in 36 Quai des Orfèvres (2004, Olivier Marchal) und die Spiegelbilder, die die Zerrissenheit des Anti-Helden markieren, in La résistance de l’air (2015, Fred Grivois). Dabei zeigt sich im französischen Film (und der französischen Kriminalliteratur) ein ausgeprägtes Bewusstsein nicht nur für die Tradition des Noir und polar, sondern auch für dessen Merkmale und Funktionen.

Zum British Noir

Wie beim französischen Film noir beginnt auch die Entwicklung des britischen Film noir bereits vor dem Zweiten Weltkrieg. Als erstes Noir-Werk gilt The Green Cockatoo von William Cameron Menzies aus dem Jahr 1938. Dabei zeigt sich im britischen Noir neben dem Einfluss des Expressionismus immer auch der des Gothic. In dem 1938 entstandenen They Drive by Night (Arthur B. Woods) über einen Serienmörder, der Prostituierte tötet, werden Noir-Merkmale mit schaurigen Schockmomenten verbunden. Der Zweite Weltkrieg unterbrach diese Entwicklung zugunsten eines britischen Kinos, das Zusammenhalt und britische Werte hochhielt. Nach dem Krieg gab es dann eine Reihe von ‚Gothic Noirs‘, vor allem aber setzte wie in den USA eine Auseinandersetzung mit Kriegsheimkehrern (Odd Man Out, 1947, Carol Reed; Obsession, 1949, Edward Dmytryk) und den Folgen zweier Weltkriege für die Gesellschaft ein.

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(They Drive by Night von Arthur B. Woods)

Ein vom Krieg verstörter Mann ist auch Harry Lime (Orson Welles) in Carol Reeds The Third Man (1949, Carol Reed). Mit nur wenigen Bildern macht der Film von Anfang an deutlich, dass die alte Weltordnung nicht mehr stimmt. Erinnern die ersten Bilder vom Stephansdom und der Denkmäler an das alte Wien, folgt die Aufnahme eines Schwarzmarkthändlers, der laut Off-Kommentar (in der europäischen Version von Regisseur Carol Reed, in der amerikanischen mit leicht veränderten Worten von Martins-Darsteller Joseph Cotton) alles verkauft, was verkauft werden kann. In dieser zerstörten Stadt wird sich Holly Martins auf die Suche nach den vermeintlichen Mördern seines Freundes Harry Lime (Orson Welles) machen. Das Licht und der Ton, die Mise en Scène, die Kameraführung, die Charaktere und die allgegenwärtige Korruption repräsentieren die Spannung und Isolation des Nachkriegs-Wien, sie reflektieren die Trostlosigkeit, die Angst und Zerstörung des Krieges.


(Bild aus The Third Man von Orson Welles; Copyright: Studiocanal)

Die Welt in The Third Man ist voller enttäuschter Romantiker und Idealisten, die ihren Schmerz über die böse und korrupte Gesellschaft hinter Zynismen verbergen. Es ist eine von den Weltkriegen traumatisierte Gesellschaft, in der das Bedürfnis nach Sicherheit auf dunkle Geschäfte trifft. Deshalb gibt es im britischen Film noir Spione und Erpresser häufiger als Privat- und Versicherungsdetektive. Auch die Femme fatale ist selten anzutreffen, weit häufiger eine Frau in einer Notsituation.

Hinzu kommen Filme mit einer kriminellen Hauptfigur, die in der veränderten Nachkriegsgesellschaft nicht gut zurechtkommt. Der ehemalige Pilot Clem Morgan (Trevor Howard) schließt sich in They Made Me a Fugitive (1947, Alberto Cavalcanti) der Gang des skrupellosen Narcy (Griffith Jones) an, der ihm schließlich den Mord an einem Polizisten anhängt. Dabei verweist die Konkurrenz zwischen Narcy und Clem auf die Rivalität zwischen Arbeiterklasse und Bürgertum: Narc ist skrupellos, aber gut angezogen, Clem macht keinen Hehl daraus, dass es in der Gesellschaft keinen Platz für ihn gibt.


(Bild aus They Made Me Fugitive von Alberto Cavalcanti; Copyright: Odeon)

Brighton Rock (1947, John Boulting) erzählt hingegen von einem kleinen Gangster, der den Tod seines Mentors rächen will. Mit seinem Drehbuch wollte Graham Greene eine dem französischen Poetischen Realismus und Kriminalfilm ähnliche Neuerung für den britischen Film erreichen, die in Richtung „blood melodrama“ (zit. nach Naremore, More than night) gehen sollte und das sozialrealistische Potential betont. Zugleich zeigt sich in diesem Film deutlich der Einfluss des amerikanischen Film noir, der in den folgenden Jahren noch stärker werden wird, wenngleich sich die britischen Filme stets ein sehr britisches Milieu vorbehielten und oftmals in einer alltäglicheren Welt spielten. Ende der 1960er bzw. Anfang der 1970er Jahre gab es dann eine Reihe von Filmen, in denen oftmals korrupte und grenzüberschreitende Polizisten im Mittelpunkt standen. So erinnert Detective Sergeant Johnson (Sean Connery) in The Offence (1972, Sidney Lumet) an die manischen Cops klassischer Noirs wie Where the Sidewalks Ends. Der Film beginnt schon damit, dass Johnson einen Mann zusammenschlägt, dann taucht er immer weiter in die tiefe Dunkelheit einer Ermittlung gegen einen Mann ein, der Mädchen vergewaltigt. Dabei zeigt Lumet in beunruhigenden Bildern, dass sich Johnson immer mehr in dem Fall verliert und beinahe selbst als Täter erscheint.

Mit Get Carter (1971, Mike Hodges) nach dem gleichnamigen Roman von Ted Lewis wurde der Blickwinkel auf Kriminelle gelenkt, die ebenso gewalttätig und gewissenlos wie ihre amerikanischen Kollegen waren. Jack Carter (Michael Caine) ist ein Auftragsmörder, der für Londoner Gangster arbeitet, Farewell, My Lovely liest und zu der Beerdigung seines Bruders in seine Heimat Newcastle reist. Dort will er die Umstände von dessen Tod untersuchen und stößt auf eine Stadt, die von Korruption, Spielsucht, Gewalt und Sex bestimmt ist.


(Bild aus Get Carter; Copyright: Tuoni)

Mit seinem ausgestellten Bewusstsein für seine Figuren, sein Milieu und seine filmischen Mittel erweist sich Get Carter als Neo-Noir in großer Nähe zu Point Blank. Zugleich sind in dem Film schon die Einflüsse des europäischen Autorenkinos zu spüren, die dann in den 1980er Jahren verstärkt werden. Im Gegensatz zu Frankreich und den USA entstehen in Großbritannien eher Filme mit Noir-Elementen denn Neo-Noirs. Eine Ausnahme ist Mike Figgis‘ Stormy Monday (1988), in dem er eine typisch amerikanische Noir-Geschichte um einen brutalen Gangster mit einer europäisch geprägten Geschichte über eine beginnende Liebe verbindet und diese Handlungsstränge parallel erzählt. Dabei folgt er dem klassischen Noir-Credo, dass die Figuren eigentlich keine Chance haben, diese aber nutzen wollen.

Der Rest Europas

Wenngleich es in vielen europäischen Ländern auch Films noirs gab, gibt es im Vergleich zum amerikanischen Film keine ausgesprochene Neo-Noir-Bewegung, sondern mit Filmen wie The Element of Crime (1984, Lars von Trier) oder Tesis (1995, Alejandro Amenábar) Einzelwerke, die herausragen. Auch im deutschen Kino gibt es keine Noir-Bewegung oder gar Tradition, wohl aber Produktionen, deren Noir-Nähe unverkennbar ist. Ein herausragendes Nachkriegsbeispiel ist Der Verlorene (1951), in dem Peter Lorre die Geschichte eines Verrats, eines Mehrfachmörders und eines ‚Fremden im eigenen Land‘ (dabei im deutlichen Rückgriff auf seine eigene Biografie und Rolle in M) bewusst mit den ästhetischen Mitteln des Film noir erzählt. Die Morde finden im Verborgenen statt, mit Schatten und Licht werden die psychischen Verfasstheiten der Figuren und die Ähnlichkeit zwischen Nazi- und Nachkriegsdeutschland deutlich.


(Bild aus Der Verlorene; Copyright: Studiocanal)

Noir-Einflüsse zeigen auch einige Filme von Dominik Graf und insbesondere Christian Petzold. Grafs Die Katze (1988) greift auf heist- und mit der dunklen Vergangenheit sowie einer Femme fatale auf Noir-Motive zurück. Petzold hat bereits mit Jerichow (2008) Cains Wenn der Postmann zweimal klingelt verfilmt, zeigt sich aber weniger als die vorigen Adaptionen an Schuld und Begehren denn an der Enge der ökonomischen Verhältnisse interessiert. In Phoenix (2014) gibt es allein schon durch die Handlungszeit stilistische Anleihen an den Film noir – in einem Interview sagte Christian Petzold, er wolle den „Film noir mit Technicolor verbinden“ – zudem ist Nina Hoss abermals als geheimnisvolle Frau zu sehen.

Das Weiterwirken des Film noir außerhalb der USA und im Neo-Noir verweist bereits auf eine Entwicklung, die insbesondere in den letzten Jahren zugenommen hat: Noir-Elemente finden sich nicht nur in Filmen, sondern Serien, Computerspielen und Comics. Über diese Gegenwart des Noir wird es in dem abschließenden Teil der Serie gehen.

(Sonja Hartl)

Sonja Hartl schreibt über Filme und (Kriminal-)Literatur, am liebsten über die Verbindungen von ihnen. Sie betreibt das Blog Zeilenkino, ist Chefredakteurin von Polar Noir und Jury-Mitglied der KrimiZeit-Bestenliste. Seit sie The Maltese Falcon gesehen hat, ist sie an den Noir verloren. Hoffnungslos.

Den ersten Teil unserer Film-noir-Serie über die Ursprünge und Vorläufer gibt es hier; den zweiten Teil über die Anfangszeit hier; den dritten über Vorbilder und narrative Strukturen hier; den vierten Teil über Entwicklung und Abweichung hier. Der sechste und letzte Teil wird in einer Woche, am 14. Mai 2016, folgen.

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