zurück zur Übersicht
Features

Über Film noir - Teil 3: Überdauernde Vorbilder und narrative Strukturen

Ein Beitrag von Sonja Hartl

Meinungen

Müsste man den einflussreichsten Film noir benennen, wäre es Double Indemnity. Regisseur Billy Wilder und Drehbuchautor Raymond Chandler haben mit ihrer Verfilmung von James M. Cains gleichnamigem Roman ein prägendes Beispiel für die Narration, das Thema und den visuellen Stil des Noir geschaffen. Zudem war der Film sowohl bei Kritikern als auch dem Publikum ein Erfolg.

„Suddenly it came over me that everything would go wrong. It sounds crazy, Keyes, but it’s true, so help me. I couldn’t hear my own footsteps. It was the walk of a dead man.“ (Walter Neff, Double Indemnity)

Cains Roman ist bereits im Jahr 1935 erschienen, allerdings galt eine Verfilmung aufgrund des Hays Codes kaum als möglich. Daher wussten Wilder und Chandler, dass sie die literarische Vorlage verändern müssen – beispielsweise wäre es nicht denkbar gewesen, den Film wie das Buch mit einem Doppel-Selbstmord enden zu lassen. Also entwickelten sie eine stilbildende narrative Struktur: Der Film beginnt mit Bildern des schwerverletzten Walter Neff (Fred MacMurray), der sich in sein Büro schleppt und dort ein Geständnis auf ein Tonband spricht. Schon hier gibt er mit dem Täter, dessen Motiv und dem Ausgang der Tat Wesentliches preis; im Folgenden wird nun in Rückblenden, die immer wieder von Sequenzen unterbrochen werden, die Neff im Akt des Erzählens zeigen, der Weg zu seiner tödlichen Verletzung geschildert.

Das Geständnis als narratives Prinzip

Diese Rückblenden sind aus der subjektiven Perspektive Neffs erzählt, die der Film nur am Anfang und Ende verlässt. Sein auf Band gesprochenes Geständnis gibt dem Film einen Rahmen, innerhalb dessen „Realzeit und erinnerte Zeit (…) in zwei narrativen Bewegungen zusammengeführt“ (Röwekamp, Vom film noir zur méthode noire) werden: Die reale Zeit des Geständnisses und die erinnerten Rückblenden bewegen sich aufeinander zu. Dadurch wird zum einen eine enge Beziehung zum Publikum geschaffen – Neffs Stimme ist das verbindende Element beider Ebenen. Zum anderen beeinflussen sich die Bewegungen gegenseitig: Durch das Wissen um den Ausgang der Geschichte entsteht die Erwartung, einen Niedergang zu sehen, dieser begründet wiederum die Ausgangssituation. In dieser „für Noir-Filme typische(n) zirkuläre(n) Erzählstruktur“ wird „die fatale Unausweichlichkeit der schuldhaften Verstrickung“ (Röwekamp) bezeugt, die von Anfang an durch die Geständnissituation gegeben ist.

Desillusionierung und Desorientierung

Mit der Verbindung aus Rückblende und Voice-Over hat der Film noir ein filmisches Äquivalent für die subjektivierte Perspektive der hardboiled-Romane geschaffen: In den Romanen schwächt sie das deduktive Moment, im Film wird durch sie der Erzähler Teil der Geschichte. Daher ist das Voice-over in Double Indemnity auch eine Reflektion des Erzählers, seiner Wahrnehmung und seines mentalen Zustands. Durch das Geständnis wird der Zuschauer zum Komplizen. Das lange Zeit unterschätzte B-Movie Detour (1945, Edgar G. Ulmer) geht einen kleinen Schritt weiter: Hier richtet sich der frustrierte Pianist Al Roberts (Tom Neal) während seines ‚Geständnisses‘ nicht nur an die Zuschauer, sondern bezieht seine Desillusionierung auf sie. Er glaubt, sie seien ebenso voreingenommen wie die gesamte Gesellschaft und würden ihn ebenfalls für schuldig halten. Deshalb konfrontiert er die Zuschauer mit seinen Gefühlen – und emotionalisiert sie auf diese Weise.


(Bild aus Detour von Edgar G. Ulmer; Copyright: Koch Media)

Die Verbindung aus gestehenden Rückblenden und Voice-Over findet sich in einer ganzen Reihe weiterer Films noirs, zum Bespiel The Night Has Thousand Eyes (1948, John Farrow) und Killer’s Kiss (1955, Stanley Kubrick). Auch in Jacques Tourneurs Out of the Past (1947) entfaltet sich ein Teil der Geschichte durch den Ich-Erzähler Jeff (Robert Mitchum), der seiner Freundin von seiner Vergangenheit erzählt und damit eine Rückblende einleitet, in der ebenfalls deutlich wird, dass es unmöglich ist, der eigenen Vergangenheit zu entkommen und sich die fatale Faszination des Gestern im Heute fortsetzt. Wie in Double Indemnity entsteht dadurch eine Grundstimmung der Hoffnungslosigkeit und des Fatalismus, die Erzähler befinden sich in einer Situation, in der sie die Kontrolle über ihr Leben verloren haben. Am deutlichsten wird dies schließlich in Billy Wilders Sunset Boulevard (1950), in dem der Erzähler tot im Swimmingpool liegt.

Mit dieser Erzählweise durchbricht der Film noir die Erzählkonventionen Hollywoods: An die Stelle der Linearität, in der aus einer Handlung eine weitere logische Handlung folgt, werden Protagonisten von ihrer Vergangenheit heimgesucht und beeinflussen vergangene Taten Gegenwart und Zukunft. Es gibt lose und widersprüchliche Enden, der Erzähler ist nicht unsichtbar und allwissend, sondern Teil der Geschichte. Stabilität und die vermeintliche Sicherheit von Kausalität und Durchschaubarkeit werden auf diese Weise geschwächt – und somit die Desorientierung des Zuschauers verstärkt. Diese narrative Anlage wird visuell z.B. in Double Indemnity durch die schrägen Linien, die die Räume „zerstückeln“ (Norbert Grob, Film noir), und die Schatten noch untermalt; ohnehin spielen die filmischen Räume, in denen sich die Figuren bewegen, eine wichtige Rolle für ihre Charakterisierung und den Spannungsaufbau. Als der Versicherungsdetektiv Keyes (Edward G. Robinson) seinen Kollegen Neff aufsucht, um ihm von seinem Verdacht zu erzählen, kommt Phyllis hinzu. Er darf sie dort nicht sehen, daher bleibt sie hinter der Tür – und durch die Tiefenschärfe und die trennenden Linien wird diese berühmte Sequenz zu einem Spiel mit dem Raum, der Spannung und der Verstrickungen der Figuren untereinander.

Der männliche Blick

Das Voice-Over in der bekennenden Erzählung ist – abgesehen von wenigen Ausnahmen wie Mildred Pierce (1945, Michael Curtiz) oder Raw Deal (1948, Anthony Mann) – mit dem männlichen Helden verbunden, daher eröffnet es auch dessen Sichtweise auf die jeweilige fatale Frau in seinem Leben. Walter Neff weist in Double Indemnity schon am Anfang auf sein sexuelles Begehren und die Verführungskraft von Phyllis Dietrichson (Barbara Stanwyck) hin. Als er dann erstmals das Haus der Dietrichsons betritt, untermalt Wilders Inszenierung Neffs Einschätzung: Phyllis erscheint oberhalb der Treppe in einem Badehandtuch. Anfangs im Dunkel, tritt sie ins Licht und markiert das wachsende Interesse an Walter, zugleich blickt die Kamera von unten zu ihr herauf, so dass sie stets diejenige ist, die in dieser Szene die Kontrolle hat. Sie bittet Walter ins Wohnzimmer, dort wartet er, während sie sich ankleidet. Sein Blick fällt auf die Treppe und erstarrt, es folgt ein Gegenschnitt und Phyllis Knöchel sind zu sehen, während sie die Treppe heruntergeht. Die Kamera bleibt bei ihrem Gang bis sie am Ende der Treppe ganz zu sehen ist. Im Zusammenspiel mit der Erzählsituation ist somit die sexuelle Anspannung innerhalb der Geschichte von vorneherein zu spüren. Wenn sich Jeff in Out of the Past im Voice-Over an die erste Begegnung mit Kathie (Jane Greer) erinnert, tritt sie aus dem hellen mexikanischen Sonnenlicht in den dunklen Innenraum einer Bar in Mexiko, dazu betont Jeff, dass er in diesem Moment wusste, worum es seinem Auftraggeber eigentlich ging: „And then I saw her, coming out of the sun, and I knew why Whit didn’t care about that forty grand“. In der Dunkelheit nimmt sie Gestalt an, wenn sie auf Jeff an einem vom Mond beleuchteten Strand (Kamera: Nicholas Musuraca) trifft, bekommt sie eine fast ätherische Schönheit, die sie unwiderstehlich erscheinen lässt.


(Bild aus Double Indemnity von Billy Wilder; Copyright: Universum Film)

Dadurch manifestiert sich das Muster des verdammten Helden und der verführerischen femme fatale in der Narration. Dabei ist Kathie wie Phyllis eine Frau, die in ihrer Gestalt der Phantasie des Protagonisten entspringt, zugleich jedoch als Filmfigur auf der Leinwand zu sehen ist. Kathie ist sich dessen bewusst: „I never told you I was anything other than I am. You just wanted to imagine I was.“

Subjektive Wahrheiten – die Investigation

Mit dem Voice-Over wird demnach die Subjektivität der Erzählung deutlich gemacht, außerdem wird dadurch die Tonebene als zusätzliche erzählerische Instanz genutzt. Indem der Erzähler zudem an dem Geschehen teilhat, wird scheinbar auch die Authentizität verstärkt – wenngleich sie sich nicht auf eine allumfassende ‚Wahrheit‘ bezieht, sondern nur auf die Wahrnehmung des Protagonisten oder des Zuschauers. Das wird besonders bei dem zweiten wichtigen narrativen Muster des Film noir deutlich, der Untersuchung (Investigation) eines zentralen Rätsels.

Investigative Rückblenden gibt es schon in Murder, My Sweet (vgl. Teil 2), dessen Ausgangspunkt ein Verhör des verletzten Marlowe durch die Polizei war. Ein herausragendes Beispiel ist indes Robert Siodmaks The Killers (1946). Produzent Mark Hellinger fürchte sogar, dass die narrative Konstruktion die Zuschauer überfordern würde (vgl. Steinbauer-Grötsch, Die lange Nacht der Schatten), tatsächlich stellt der Film die standardisierte lineare Erzählweise umfassend infrage. Basierend auf einer Kurzgeschichte von Ernest Hemingway erzählt der Film in elf nur lose miteinander verbundenen und sich zum Teil überlappenden Rückblenden, warum der Schwede (Burt Lancaster) in einer kleinen Stadt auf seinen Tod wartet und noch nicht einmal den Versuch macht, zu fliehen oder ein neues Leben zu beginnen. Dabei erinnert der Schwede an Charles Foster Kane (vgl. hierzu Andrew Spicer, Historical Dictionary of Film noir), er ist das Zentrum, um das alles kreist, zugleich ist er jedoch auf rätselhafte Weise abwesend, da er kaum spricht. In den multiplen Rückblenden gibt es wechselnde Erzähler, so dass alleine schon dadurch die Möglichkeit einer objektiven Realität noch deutlicher hinterfragt wird als im Erinnern und Voice-Over einer Figur. Vielmehr wird mit der Vielstimmigkeit eine übereinstimmende Interpretation der Ereignisse kaum mehr möglich, obwohl es durch den Versicherungsagenten Reardon (Edmond O’Brien) einen Erzähler gibt, der die Zwischenergebnisse zusammenfasst, auf eine Lösung des Rätsels hinarbeitet und versucht, das Bild zu deuten. Hierin zeigt sich auch ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal des Film noir zum Thriller und investigativen Kriminalfilm: die Geschichte eines Noir-Films folgt zwar investigativen Erzählstrukturen, diese sind jedoch oftmals fragmentarisch. Im Film noir ist das ‚Wie‘ mindestens genauso wichtig, oft sogar wichtiger als das ‚Was‘.


(Bild aus The Killers von Robert Siodmak; Copyright: Koch Media)

Daher scheint in The Killers nur eines unausweichlich: der Tod der Hauptfigur. Dennoch ist der Schwede kein geborener Verlierer, sondern hat als Mann der Nachkriegsgesellschaft an das Streben nach Glück und Erfolg geglaubt. Am Ende hat er indes resigniert und ist müde geworden. Er ist ein Mann wie ihn Burt Lancaster abermals in Criss Cross (1949, Robert Siodmak) oder Victor Mature in Kiss of Death (1947, Henry Hathaway) spielen wird; er ist ein Gleichgesinnter der desillusionierten Veteranen (Blue Dahlia, 1946, George Marshall; Crossfire, 1947, Edward Dmytryk; Act of Violence, 1949, Fred Zinneman) und Spieler, die nicht mehr an ihr Glück glauben (Gilda, 1946, Charles Vidor); und er verweist schon auf die korrupten Polizisten der 1950er Jahre, die vor nichts mehr zurückschrecken werden (Where the Sidewalks Ends, 1950, Otto Preminger; Touch of Evil, 1958, Orson Welles).

Träume und visuelle Subjektivität

Die Desorientierung des Zuschauers durch die Narration ist ein wesentliches Merkmal des Film noir, in der zu seiner Verunsicherung und als Verweis auf die psychische Instabilität der Welt auch Träume und subjektive Bildeinstellungen immer wieder verwendet werden. So ist in Fritz Langs The Woman in the Window (1944) lange nicht zu erkennen, dass sich die Mordgeschichte im Traum des Protagonisten abspielt. In Murder, My Sweet markieren die zirkelnden, wirbelnden Szenen den Einfluss von Psychopharmaka und Hypnose auf die Hauptfigur. In The Lady from Shanghai (1948, Orson Welles) gibt es wiederholte Verweise auf Träume, zudem greift die Kamera die zunehmende Verwirrung in der Narration auf. Korrespondiert sie anfangs mit vielen langen Einstellungen und Close-ups mit dem langsamen Erzähltempo, verschieben sich mit zunehmendem Verlauf der Intrige die Bildrahmen immer mehr. In der Gerichtsszene kreist dann die Kamera regelrecht durch den Saal und greift scheinbar willkürlich einzelne Gesichter heraus. Zudem finden sich verdoppelte Bilder der Figuren: im Wasser, im Aquarium und schließlich in der berühmten Schlusssequenz im Spiegelkabinett. Glauben sich die Liebenden hier allein, tritt der Ehemann als Dritter im Bunde hinzu und jeder sieht das Bild des anderen unendlich gespiegelt. Als die Eheleute beginnen, aufeinander einzuschießen, wissen sie nicht, ob sie die Person oder die Reflektion treffen.


(Bild aus The Lady from Shanghai von Orson Welles; Copyright: Sony Pictures Home Entertainment)

Robert Montgomery versucht dann in Lady in the Lake (1947), die Subjektivität der Erzählperspektive durch die Kamera deutlich werden zu lassen, indem er sie sehen lässt, was Marlowe sieht.

In den 1950er Jahren gibt es weniger Experimente mit subjektiver Kameraarbeit, Rückblenden, Traumsequenzen und Voice-Over, vielmehr werden die Formen wieder konventioneller – mit einer großen Ausnahme: In Touch of Evil greift Welles auf eine labyrinthische Erzählstruktur zurück und geht noch einen Schritt weiter, indem er auf einen Erzähler verzichtet und dem Zuschauer zutraut, die Verbindungen selbst herzustellen. Auch nimmt er das Ende nicht mehr vorweg, weil es von vorneherein vorbestimmt scheint. In den 1970er Jahren und insbesondere den 1990er Jahren kehren dann die narrativen Techniken des Film noir wieder zurück: In Taxi Driver (1976, Martin Scorsese) liefert das Voice-Over von Travis Bickle Einblicke in seinen mentalen Zustand, in The Usual Suspects (1995, Bryan Singer) werden in einer Geständnissituation kausale Gewissheiten derart aufgelöst, dass am Ende des Films alles anders erscheint. Hier kommt zu der subjektiven Perspektive ein unzuverlässiger Erzähler hinzu, in Romeo is bleeding (1993, Peter Medak) werden die Rückblenden des korrupten Cops Jack Grimaldi (Gary Oldman) zudem von Traumsequenzen unterbrochen, die weiter verschleiern, ob seine Erzählung eine Einbildung ist. Diese Entwicklung wird von Christopher Nolan in Memento (2000) noch einen Schritt weiter getrieben, indem zwischen Lügen, verfälschten Erinnerungen und Fantasien kaum mehr zu unterscheiden ist. Ihre Wurzeln haben diese narrativen Strukturen aber im Film noir.

(Sonja Hartl)

Sonja Hartl schreibt über Filme und (Kriminal-)Literatur, am liebsten über die Verbindungen von ihnen. Sie betreibt das Blog Zeilenkino, ist Chefredakteurin von Polar Noir und Jury-Mitglied der KrimiZeit-Bestenliste. Seit sie The Maltese Falcon gesehen hat, ist sie an den Noir verloren. Hoffnungslos.

Den ersten Teil unserer Film-noir-Serie über die Ursprünge und Vorläufer gibt es hier; den zweiten Teil über die Anfangszeit hier. Der vierte Teil wird in einer Woche folgen, am 30. April 2016.

Meinungen