zurück zur Übersicht
Features

Über Film noir - Teil 1: Ursprünge und Vorläufer

Ein Beitrag von Sonja Hartl

In 6 Teilen wird diese Reihe zum Film noir von seinen Vorläufern und Ausprägungen erzählen. Sie handelt von verzweifelten Kriegsheimkehrern und raffinierten Ganoven, von berüchtigten femmes fatales und verführerischer Unschuld — von der lange Geschichte des Film noir.

Meinungen

„Film noir is not a genre“ stellt Paul Schrader in seinen einflussreichen Notes on film noir aus dem Jahr 1972 fest. Diese Aussage erntete ebenso viel Zustimmung wie Widerspruch, denn jeder Filmkritiker und -wissenschaftler hat nicht nur seine eigene Definition des Film noir, sondern auch eine Meinung zu der Frage, ob Film noir ein Genre ist. Deshalb reicht ihre Diskussion Jahrzehnte zurück und ist bis heute nicht abgeschlossen, womöglich wird sie niemals entschieden werden. Und sie muss es auch nicht. Sie zeigt eine nicht nachlassende Leidenschaft für den Film noir, für verführerische Frauen und hartgesottene Männer, vor allem aber für den brüchigen Existentialismus einer Gesellschaft am Rande des Abgrunds.

 

Auf eine einfache Formel brachte einst Otto Penzler die Ursprünge des Film noir: Er habe von den Franzosen den Namen, von den Deutschen den Stil. Tatsächlich wurde der Begriff Film noir im Jahr 1946 von Nino Frank in seinem berühmten Filmzeitschriftenbeitrag Un nouveau genre ‚policier‘: l’aventure criminelle und drei Monate später von Jean-Pierre Chartier im Zusammenhang mit US-amerikanischen (Kriminal-)Filmen wie Laura (Otto Preminger, 1944), Double Indemnity (Billy Wilder, 1944), The Maltese Falcon (John Huston, 1941), The Lost Weekend (Billy Wilder, 1945) und Murder, My Sweet (Edward Dmytryk, 1944) verwendet, um Veränderungen innerhalb des Kriminalfilmgenres zu markieren (mehr dazu im zweiten Teil).

In den USA wurde der Begriff Film noir indes zu dieser Zeit nicht verwendet, hier wurden Gangsterfilme produziert, die ihre Stoffe in hardboiled-Romanen, Pulp-Geschichten und französischen Kriminalfilmen fanden. Dadurch durchzieht den Film noir von Anfang an eine Ungleichzeitigkeit: Während Raymond Borde und Étienne Chaumeton 1955 in ihrem einflussreichen Panorama du film américain dezidiert nach der Stellung des Film noir als Serie, Genre, Zyklus, Stil, Schule, Stimmung oder filmischen Ausdrucks des Zeitgeistes fragten, wurde der Begriff in den USA erst durch Filmclubs an Colleges und Raymond Durgnats 1970 erschienenes Buch The Family Tree of Film noir populär. Im New Yorker tauchte er beispielsweise erstmals 1971 auf (nach Alain Silver und James Ursini, Film Noir, wurde er in den USA erst in den 1980er Jahren im Mainstream bekannt). Damit ist Film noir ein Begriff, der von europäischen, insbesondere französischen Kritikern und Wissenschaftler geprägt wurde und in den USA rückblickend verwendet wurde.

 

Allgegenwärtiger Expressionismus

Von den Franzosen kommt somit der Name, doch was ist mit dem Stil? Die frühen expressionistischen Filme mit gequälten Protagonisten im Zwiespalt mit der Gesellschaft und mit urbanen Schauplätzen übten einen starken Einfluss auf die Thematik und die Visualität des Film noir aus. Dabei zeigt sich schon im deutschen Stummfilmkino diese Verbindung. Wie später der Film noir entsteht dieses Kino in einer von Unsicherheit und politischen wie gesellschaftlichen Änderungen geprägten Zeit und erzählt im Rückgriff auf Elemente der „schwarzen“ Romantik sowie gothic novel insbesondere von dem Gefühl der Entfremdung, das in Filmen wie Das Cabinet des Dr. Caligari (1919/20) durch verzogene perspektivische Darstellungen, die Schattenmuster, Treppen, unheimliche Korridore und Spiegelbilder als Metaphern für das andere Ich erzeugt wird. In den 1920er Jahren setzten sich dann zunehmend „realistischere“ Tendenzen durch, in denen – wie in den hardboiled-Romanen der amerikanischen Pulp-Autoren – „die Isolation und Bedrohung des Individuums in der anonymen, großstädtischen Lebenswelt“ (Steinbauer-Grötsch, S. 23) thematisiert werden. In den „Straßenfilmen“ zeigt sich die dunkle Seite der Stadt, deren Anziehungskraft in Filmen wie Die Straße (Karl Grune, 1923) oder Der letzte Mann (Friedrich Wilhelm Murnau, 1924) durch die Filmarchitektur und Lichtsetzung deutlich wird. Zudem bringt Henrik Galeens Der Student von Prag (1926) den Doppelgänger als düstere Seite des Protagonisten als filmisches Motiv auf. Das Doppelgängermotiv gehört zu den zentralen Darstellungsmitteln des Film noir, seien es physische Doppelgänger oder metaphorische Verdopplungen.

 

Schatten in Cabinet Dr. Caligari und This Gun for Hire im Vergleich - beide Male zeigt sich an der Wand hinter der "bösen" Hauptfigur ein großer Schatten
(Schatten im Expressionismus und Noir: Das Cabinet des Dr. Caligari von Robert Wiene; Copyright: Universum Film / This Gun for Hire von Frank Tuttle; Copyright: Paramount)

 

Sehr deutlich wird die enge Verbindung zwischen dem deutschen Film der Zwischenkriegsjahre und dem Film noir bei den Filmen von Fritz Lang. Sein zweiter Spielfilm Dr. Mabuse, der Spieler ist – wie viele Films noirs – die Adaption einer literarischen Vorlage. Erzählt wird die Geschichte des Arztes und Psychoanalytikers Dr. Mabuse, der zugleich ein verbrecherisches Genie ist, das die Polizei unterwandert hat und nicht nur Einzelne manipuliert hat, sondern im morbid wirkenden Berlin einen Staat im Staate errichten will. Obwohl die Figur prädestiniert als Super-Bösewicht scheint, wird sehr deutlich, dass sie ein Symptom chaotischer Zeitumstände ist. Dadurch wird der Film zu einem Spiegelbild der Weimarer Republik. In M – Eine Stadt sucht einen Mörder wird dann die Stadt zu einem Dickicht aus Angst und Paranoia, in der die Taten eines Einzelnen zu Massenüberwachung durch die Polizei und die Verbrecher führen. Zugleich aber sind insbesondere durch Peter Lorres Schauspiel die Qualen des Täters zu sehen, der nicht einfach nur ein Monster ist. Lang und andere Regisseure dieser Zeit nutzen die technischen Entwicklungen für eine suggestive Bildgestaltung und subjektive Narrationen: Schatten und Silhouetten, der Einsatz von Punktscheinwerfern, verzerrte Linien, Vertikale und Diagonale arbeiten psychologische Motivationen heraus und erzeugen das Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Schicksalsergebenheit. Rahmenhandlungen, geteilte Geschichten, Voice-over und Rückblenden verstärken die Desorientierung des Zuschauers. Diese Mittel werden die Noir-Regisseure in verschiedener Intensität ebenfalls anwenden.

 

Peter Lorre blickt in den Spiegel
(Peter Lorre in M – Eine Stadt sucht einen Mörder von Fritz Lang; Copyright: Universum Film)

 

Der Einfluss des Expressionismus auf den Film noir geht auf das Wirken der Exil-Regisseure zurück, die für fast ein Viertel der Produktionen verantwortlich sind (vgl. Steinbauer-Grötsch). Hinzu kommt die Arbeit anderer Filmleute wie beispielsweise Hans Dreier, der bereits 1923 von Deutschland in die USA ging und dort das Produktionsdesign von Underworld, The Docks of New York und Thunderbolt ausführte. Er wurde Chef-Designer bei Paramount und beeinflusste damit – und durch Designer, die er ausbildete – das Design zahlreicher einflussreicher Filme wie This Gun for Hire, The Glass Key, Street of Chance, Double Indemnity und Sunset Boulevard. Zudem hat der Expressionismus bereits andere Filmrichtungen wie den französischen Poetischen Realismus oder auch Citizen Kane (1941, Orson Welles; mehr im zweiten Teil) beeinflusst.

 

Tragische Außenseiter als Helden

Der deutsche Expressionismus ist somit fraglos ein wichtiger Vorläufer des Film noir, doch in der Kunst gibt es keine alleinigen, direkten Verbindungen und gerade im Noir sind die Ursprünge vielschichtig und komplex. Neben Horrorfilmen, Western und anderen Genres ragen indes der französische Poetische Realismus und der US-amerikanische Gangsterfilm als Vorläufer heraus.

Es ist der Drang nach Realitätsnähe und Sozialkritik, die die Filme des französischen Poetischen Realismus verbindet. In ihnen geht es um das individuelle Aufbegehren gegen das System und das Leben, das Außenseiter zu tragischen Helden werden lässt. So ist in Jean Renoirs La chienne (1931) der Angestellte Legrand in dem Moment verloren, in dem die Kamera erstmals den Blick der schönen Lulu erfasst. Er gibt sich der Hoffnung auf ein anderes Leben hin, ohne zänkische Frau und voller Kunst, doch natürlich wird er betrogen werden in dieser schicksalshaft verdichteten Welt. Aus ihr gibt es kein Entrinnen, auch für den Gangster Pépé (Jean Gabin) nicht. Auf der Flucht vor der Polizei ist er in Pépé le moko (1937, Julien Divivier) in Algerien untergetaucht und scheint in der Kasbash Algiers sicher vor dem Zugriff. Aber dann stellt ihm der durchtriebene Inspektor Slimane (Lucas Gridoux) eine Falle, indem er sich Pépés Liebe zu der verführerischen Gaby Gould (Mireille Balin) zunutze macht. Der Film verbindet die fatalistische Stimmung nach dem Ersten Weltkrieg und angesichts eines nahenden zweiten Krieges mit krimineller Verdammnis. In dieser Welt wird der Gangster zur poetischen Außenseiterfigur, die in der Kriminalität den Platz gefunden hat, den die Gesellschaft ihr verwehrte. Pépé ist sicher und wird bewundert in der Kasbash, zugleich ist er jedoch ein Gefangener dieser labyrinthischen Stadt, die er nicht verlassen kann, ohne seine Freiheit zu verlieren.

Jean Gabin in Hafen im Nebel
(Jean Gabin in Hafen im Nebel von Marcel Carné; Copyright: Studiocanal Home)

 

Mit diesem Film wurde Jean Gabin zu der Verkörperung des harten Kerls mit einem Hauch Poesie, eine Rolle, die als Vorläufer der Figuren von Humphrey Bogart, John Garfield, Robert Mitchum und Alain Delon gesehen werden kann und die er in Le Quai des brumes (1938, Marcel Carné) wieder aufgreifen wird. Auch hier befindet er sich als desertierter Soldat Jean auf der Flucht, von Le Havre aus will er in die Freiheit entkommen. Aber er verliebt sich in der nebligen Hafenstadt in die junge Nelle (Michèle Morgan) und wird durch sie in eine mörderische Eifersuchtsgeschichte verwickelt. Die Verbindung aus Kriminalgeschichte und zahlreichen Nachtszenen, die innovative und vom Expressionismus beeinflusste Kameraarbeit und das konsequente Ende verweisen auf den Film noir – wenngleich der desillusionierende Schluss in Hollywood kaum möglich gewesen wäre.

Es sind nicht nur das kriminelle Milieu und die fatalen Frauen, die bereits auf den Film noir hinweisen, zudem leiden die Antihelden dieser Filme an den Umständen ihres Lebens. Le jour se lève (Marcel Carné, 1939) beginnt mit einem Mord, die Handlung, die zu dieser Tat führte, entfaltet sich in Rückblenden: Jean Gabin spielt den Arbeiter François, der sich in die unschuldige Françoise (Jacqueline Laurent) verliebt hat. Aufgewachsen in einem Heim, erkrankt von dem Sandstaub bei seiner Arbeit, hofft er auf eine Zukunft mit ihr. Doch durch die Eifersucht auf einen durchtriebenen Hundedompteur (Jules Berry) bricht sich seine Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und seinem Leben bahn und sie wird zu dem Mord führen, der am Anfang des Films steht. Schon von den ersten Bildern des hochstockigen einfachen Wohnhauses ist zu erkennen, dass seine Lage aussichtslos ist. François‘ Zimmer wird zum Gefängnis, das Treppenhaus voller Etagen und Treppen zum unüberwindbaren Hindernis. Dabei treffen in diesem Film Poesie und Realismus aufeinander: die Bilder, die Dialoge sind sehr poetisch, zugleich sind die Studiobauten, die Art des Sprechens sowie Gabins Schauspielerei darauf ausgelegt, die Realität widerzuspiegeln.

 

3 Bilder aus "Der Tag bricht an" von Marcel Carné
(Bilder aus Der Tag bricht an von Marcel Carné; Copyright: Studiocanal Home)

 

Soziale Realität und Gangstertum

Die Filme des Poetischen Realismus griffen die französischen Kriminalfilme der 1930er Jahre und visuelle wie narrative Mittel des Expressionismus auf, dabei verweisen der weiche Fokus, das Chiaroscuro und die Kameraarbeit wiederum auf Josef von Sternbergs The Docks of New York (1928) und Underworld (1927, nach einem Drehbuch von Ben Hecht).

Diese frühen Gangsterstummfilme enthalten mit dem kriminellen Milieu sowie Themen wie Entfremdung und Betrug grundlegende Handlungsmuster und Motive folgender Gangsterfilme und Films noirs. Schon in Underworld gibt es Verfolgungsjagden, Feuergefechte in dunklen Straßen und Maschinenpistolen. Der Banküberfall, die Sirenen der Polizeiwagen, die durch die Stadt jagen, der Gangster, der auf das blinkende „The City is yours“-Schild blickt, ein konkurrierender Gangster, der in seinem Blumenladen ermordet wird, und das Ende des Gangsters, der in seinem Apartment von der Polizei im Kugelhagel getötet wird, während die Fenster durch die Geschosse zersplittern, sind mittlerweile bekannte Topoi. Dabei fasst Sternberg die Stadt in präzise Bilder, in denen düstere Gassen und im Grunde genommen bekannte urbane Gegenden zu geheimnisvollen Orten werden. Josef von Sternbergs Lichtsetzung ist vom Expressionismus beeinflusst, zugleich zeugen seine Filme aber von einem größeren Naturalismus.

Erst der Tonfilm machte es dann möglich, dass die Feuergefechte und der Großstadtslang der Gangster zu hören sind. Deshalb sind Little Caesar (Mervyn Leroy, 1930), The Public Enemy (William Wellman, 1931) und Scarface (1932, Howard Hawkes) das Dreigestirn des amerikanischen Gangsterfilms. Alle drei erzählen die Geschichte eines kleinen, ehrgeizigen, gewissenlosen Gangsters, der sich seinen Weg an die Spitze mordet, betrügt und raubt, ehe ihn seine eigenen Defizite und Fehler zu Fall bringen. Dadurch ist der Gangster auf der einen Seite ein Volksheld, von den Zeitungen bewundert, ein Aufsteiger, der aus sozial benachteiligten Elternhäusern stammt und mit Härte, Cleverness und Anstrengung erfolgreich ist – und damit die korrumpierte Version des amerikanischen Traums verwirklicht. Auf der anderen Seite sind die drei Hauptfiguren durch klare Defizite gekennzeichnet: Rico hat in Little Caesar Komplexe wegen seiner Größe, Tom erscheint in The Public Enemy als ‚schwarzes Schaf‘ in der Familie mit einem Soldatenbruder und Polizistenvater und Antonio Camonte begehrt in Scarface seine Schwester. Damit antizipieren diese Filme das wenig glamouröse Gangsterleben des Film noir.

Schon der amerikanische Gangsterfilm der 1930er Jahre erzählt von den Rückständigen der Gesellschaft und übte Sozialkritik, doch erst der Film noir wird die Desillusionierung und Ernüchterung aufgreifen, die viele Menschen angesichts des Ersten Weltkriegs, der Weltwirtschaftskrise und Roosevelts New Deal ergriffen hat. Dadurch wurden die USA in dem grundlegenden Glauben an die Eigenverantwortung, die Selbstbestimmung und den Kapitalismus erschüttert. In diese Zeit passten dann nicht mehr Geschichten von Aufsteigern, die von der Polizei gejagt werden. Neue Helden mussten her, in Filmen ohne einfaches Gut-Böse-Schema. Ende der 1930er Jahre gab es nur vereinzelte Werke in diese Richtung, You only live once (Fritz Lang, 1937) zum Beispiel. Erst der Film noir wird die Aussichtslosigkeit als Lebensgefühl behandeln.

(Sonja Hartl)

Sonja Hartl schreibt über Filme und (Kriminal-)Literatur, am liebsten über die Verbindungen von ihnen. Sie betreibt das Blog Zeilenkino, ist Chefredakteurin von Polar Noir und Jury-Mitglied der KrimiZeit-Bestenliste. Seit sie The Maltese Falcon gesehen hat, ist sie an den Noir verloren. Hoffnungslos.

Der zweite Teil über den Film noir folgt in einer Woche, am 16. April 2016.

Meinungen