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Über das Essen von Blumen im Kino

Ein Beitrag von Patrick Holzapfel

Die assoziative Kraft des Kinos: Wie es der Zufall so will, wird man konfrontiert mit einigen Bildern und Szenen, in denen Blumen gegessen werden. Es sind sinnliche Eindrücke, sie kommen meist plötzlich, sie übertreten Normen, man versucht sich zu erklären warum. Dann geht man raus an die frische Luft, die ersten Blumen strecken sich durch die Frühlingsluft, ganz sachte, im noch kalten Wind.

Meinungen
Elvira Madigan

Man schaut auf die Blume dort und ihre Farben und überlegt, ob man sie essen soll. Schließlich eine Ausstellung mit Bildern von Georgia O’Keefe. Ihre Oriental Poppies springen förmlich ins Auge, man kann sie riechen und hören und es wird klar, welches Potenzial zur Synästhesie im Sehen liegt, welches Begehren vom Auge zum Mund führen kann, sodass man alles Schöne, kräftig aus sich Leuchtende essen möchte. Was folgt ist der Weg, den man dann mit dem Kino durch die schmackhafte Blumenwiese gehen kann.

Nun mag man vielleicht glauben, dass es Bedeutsameres geben könnte, als die Frage nach den Blumen, die im Kino gegessen werden, aber womöglich lassen sich bedeutsame Fragen anhand ungewöhnlicher Phänomene weitaus besser beschreiben als in der Frontalität, die sonst überhand gewinnt.

Im Rausch der Verzweiflung stopft die titelgebende Seiltänzerin in Bo Widerbergs Elvira Madigan — Das Ende einer großen Liebe Blumen in ihren hungrigen Körper. Im weißen Kleid kriecht sie über eine Wiese und sucht wild atmend nach etwas Essbaren. Sie reißt die Pflanzen aus der Erde und schluckt sie herunter. Nur ist es so, dass nicht alle Blumen und Blüten essbar sind, daher übergibt sich die Frau postwendend vor der sanften Kamera. Einige Zeit zuvor fragt sie ihren Partner, den ehe- und fahnenflüchtigen Sixten: „Können wir Liebe auf unser Brot schmieren?“. Ist dieses Bild der gegessenen Blumen ein Ausdruck dieser Frage? Sich von Schönheit ernähren, von Farben und dem Duft der Blüten. Ist die Ernährung von Blumen ein metaphorisches Bild oder geht es letztlich nur um das körperliche Einbrechen in die schöne Unberührtheit einer Blume?

Auf einer Suche nach dem Motiv der gegessenen Blumen im Kino ist Elvira Madigans Frage vielleicht ein erster Anhaltspunkt. Blumen, selbst jene, die man essen kann, machen kaum satt. Sie sind gewissermaßen brotlos, vielleicht schaden sie auf Dauer sogar. Dieses Vorurteil teilen sie mit der Schönheit und der Kunst. Im Essen von Blumen liegt der Versuch, das Gegenteil zu beweisen. Elvira Madigan ist dafür ein perfekter Film, weil er von zwei Liebenden handelt, die den Gesetzen einer „zivilisierten“ Welt entkommen wollen, die ähnlich des vergleichbaren Pärchens in Badlands von Terrence Malick auf der Flucht im Exil der Natur leben. Diese Filme zeigen auf ihre Art und auch in ihrer Form einen Pur- und Urzustand von Liebe an. Vor allem Widerberg mit seinen penetranten Zu-Nahaufnahmen und dem Schleier von Mozart, den er um die weichen Bilder stülpt, filmt durch die blühende Blume eine Wahrnehmung, die man als liebend empfinden kann. Kein Wunder, dass im Englischen die Bezeichnung „Eating Flowers“ in etwa bedeuten kann, dass man Schmetterlinge im Bauch hat.

In dieser schwebenden Ästhetik lauert aber bereits ein Abgrund, der den Zustand der paradiesischen Zweisamkeit als zeitlich begrenzt ankündigt. Wenn die Dinge uns zu schön, zu pur erscheinen, dann wird es schwer, an sie zu glauben. Es ist die Gewissheit, das Blumen verwelken. Man denkt an Le bonheur von Agnès Varda, einem Film, der fast im Gelb von Sonnenblumen ertrinkt, oder an die zahlreichen Blumen der Erinnerung in Vertigo von Alfred Hitchcock. Die blühende Liebe bei Widerberg oder Malick wird inszeniert wie die Leerstelle dessen, was man nicht wahrhaben will, eigentlich wie eine Bedrohung. Das Paradies wird nicht toleriert, man könne sich Blumen eben nicht aufs Brot schmieren. Dass es trotzdem versucht wird, ist ein Akt der Rebellion, der Anarchie. Die Isolation und vollkommene Zweisamkeit der Liebenden als Angriff auf die gesellschaftliche Ordnung. So wie man durchaus sagen muss, dass es unter bestimmten politischen Umständen schon problematisch sein kann, wenn man etwas nur als schön wahrnimmt. Wenn man die Blumen isst, blühen sie womöglich in einem weiter und verwelken nicht. Man denkt an Věra Chytilovás Daisies, einem Film, der nicht nur nach Blumen benannt ist, sondern in seiner Widerspenstigkeit eigentlich nur aus zwei Dingen zu bestehen scheint: Essen und Blumen. Es ist jene Freude am Exzess, am Austritt, die mit den gegessenen Blumen in Verbindung steht. Eine Abkehr von gesellschaftlichen Ordnungen, ein Vergessen von Lebenswegen und aufgezwungenen Funktionen. Das ist vergleichbar mit den Lotophagen, den Lotosessern in Homers Odyssee. Einige der Männer von Odysseus verfallen ihnen und wollen die Reise nicht fortsetzen, ehe sie Odysseus gewaltvoll weiter zerrt. Ihr Blumenessen lenkt ab, verführt, deutet auf eine andere Welt. Ist Blumenessen ein subversiver Akt?

Holy Motors
© Arsenal

Kein Wunder, dass der wildeste und beeindruckendste Anarchist der jüngeren Kinogeschichte, Monsieur Merde aus Holy Motors und Tokyo! von Leos Carax, gar nicht genug Blumen in seinen Rachen zu bekommen scheint. Blumen, Finger und Geld gehören auf seinen Speiseplan. Er scheint keiner wirklichen Logik zu folgen, aber es ist klar, dass es mitunter genau darum geht. Die Logik des Sehens von schönen Blumenbouquets, die Arrangements der Dinge und letztlich auch die Separation der Sinne wird durchbrochen. Das gilt natürlich dann besonders, wenn die Blumen, die gegessen werden, nicht frei wachsen, sondern sauber gepflanzt oder zur Zierde danieder gelegt wurden. Ist nicht unser vorsichtiges Riechen an Blumen ein erster Impuls zum möglichen Essen derselben? Man denke an Bambi und die erste Begegnung des Rehkitzes mit Blumen. Vor lauter unschuldiger Begeisterung steckt es seinen ganzen Kopf in ein Blumenfeld. Es ist nicht nur ein animalischer, sondern ein menschlicher Trieb. In dieser Bewegung drückt sich etwas aus, was man sich nach dem Kindesalter abgewöhnt. Das Berühren von unberührbaren Dingen, das Essen von Blumen, das Trinken von Parfüm. Denn wieso sollte etwas, das gut riecht, nicht auch gut schmecken?

Ein anderer Anarchist des Kinos ist Alejandro Jodorowsky. In seinem Fando y Lis wird fast beiläufig in eine Rose gebissen. Wie bei Carax äußert sich bei Jodorowsky auch eine Nähe zum Surrealismus, zur Sinn-Enteignung, Umfunktionierung von Elementen, Dingen und Lebewesen. Das nonchalante Spiel mit dem Regelbruch wird im Fall der gegessenen Blumen beim chilenischen Filmemacher allerdings weitaus weniger wahnsinnig in Szene gesetzt als bei Carax. Vielmehr ist es die Beiläufigkeit, die Monotonie, die einem in Fando y Lis auffällt. Eine Frau beißt völlig geistesabwesend in die Blüte. In der Szene liegt Langeweile und Dekadenz. Nun muss man aufpassen, wenn man zu viel Metaphorik in Blumen legt, schließlich stehen sie für den Tod und die Liebe zugleich, aber das Essen von Blüten wird durchaus häufig in Verbindung mit sexueller Frustration eingesetzt. Ohne zu genau auf freudianische Spielereien eingehen zu wollen, sei bemerkt, dass der Akt des Beißens in eine Blume prinzipiell kaum ohne ein negatives Gefühl ablaufen kann. Es ist ein gewaltvoller Akt, vielleicht vergleichbar mit dem Entfernen von Geschenkpapier. Im Kino, in dem das Sehen eine so dominante Rolle spielt, ist dieser Effekt sehr intensiv, weil Blumen zunächst die Augen ansprechen. Ihre Schönheit wird dann zwischen Zähnen zerrieben. Was man nicht im Kino sehen kann, ist, ob die Blüten im Magen ihre Farbe verlieren. Man muss davon ausgehen. Es ist eine sich erschöpfende oder bereits erschöpfte Lust. Das Begehren fällt in sich zusammen beim Blumenessen. Entweder, weil man aus innerer Abgestorbenheit in eine Blume beißt oder in verzweifelter Ekstase, die nirgendwo hinführt außer in die Zerstörung dessen, was man schön findet, was man als Liebe oder Tod versteht. Es ist also das Bild einer Abkehr in Form einer Umarmung. Als würde man zur Bewahrung von Schönheit Schönheit opfern, um nur mit ihr zu leben.

Es gibt eine geteilte und doch sehr unterschiedliche Faszination für Blumen in der Freundschaft des Malers Claude Monet und des Schriftstellers Octave Mirbeau. Letzterer lieferte die Vorlage für sämtliche Versionen von Le journal d’une femme de chambre, das Jean Renoir, Luis Buñuel und zuletzt Benoît Jacquot verfilmten. Neben Blumen begeisterten sich beide Künstler für das Essen. Mirbeau gründete gar einen literarischen Speiseclub. Monet und Mirbeau liebten beide die Arbeit im Garten. Es gibt in ihren Briefwechseln immer wieder Verweise auf eine Liebe zu Blumen, die mehr will, als diese nur anzusehen. Mirbeau sammelte auch viele Blumenbilder von Van Gogh, den er in seiner Zeit als einer der wenigen Kunstkritiker verteidigte. In seinem Der Garten der Qualen schreibt er: „Blumen sind gewaltvoll, furchtbar, prachtvoll … wie Liebe.“ Der Verzehr von Blumen als Liebesbild? Es ist keine Überraschung, dass es in seinem Tagebuch einer Kammerzofe einen Mann, den alten Militärnachbarn, gibt, der seine Blumen derart zu lieben scheint, dass er sie einfach isst. Eine Szene wie gemacht für die feinen und untragbaren Perversionen einer nach rechts kippenden Bourgeoise, an denen Renoir und Buñuel so interessiert waren. Geht es in den liebevoll arrangierten Blumengärten, aus denen man isst, wann immer man will, womöglich auch um eine Form von Besitz? Ein Machtspiel? Aus dem Roman: „Auf einmal pflückte er in seltsamer und charmanter Weise eine kleine orangefarbene Blume, drehte den Stiel zwischen seinen Fingern und fragte mich: ‚Haben Sie jemals eine solche gegessen?‘. Ich war so überrascht, ob dieser grotesken Frage, dass ich nur mit geschlossenem Mund dastand. Der Kapitän erklärte: „Nun, ich habe sie gegessen. Sie schmecken vorzüglich. Ich habe alle Blumen in diesem Garten gegessen. Manche sind gut, manche sind nicht so gut und manche bemerkt man kaum. Aber ich, ich habe sie alle gegessen.“ Er zwinkerte und schnalzte mit der Zunge, er schlug sich sanft auf den Bauch und wiederholte dann mit lauterer Stimme durch die ein Akzent des Misstrauens drang: „Ich habe wirklich alle gegessen.“ Die Art, in der der Kapitän gerade sein seltsames Geständnis von sich gab, zeigte mir, dass seine Eitelkeit im Leben darin lag, alles zu essen. Ich amüsierte mich über seine Manie.“

Das Abartige am Essen von Blumen kann auch komödiantisch betont werden wie in einer Folge der Simpsons, in der Homer Simpson sich seinem „Secret Shame“ stellen muss, der darin liegt, dass er sich heimlich auf die Toilette schleicht, um dort Tulpen zu essen.

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(Ausschnitt aus Die Simpsons)

Oder in Monsoon Wedding von Mira Nair, in dem aus Nervosität die bei indischen Zeremonien traditionellen Ringelblumen verspeist werden. Ringelblumen zählen sowieso seit Jahrhunderten zu den Blumen, die gegessen werden. In Leona Woodring Smiths The Forgotten Art of Flower Cookery wird eine Ringelblumen-Käsesuppe empfohlen. Ist es tatsächlich eine verlorene Kunst oder ist es eine Abartigkeit? Es ist interessant, wie sich unterschiedliche Formen und Aggregatzustände von Liebesempfindungen im Essen von Blumen darstellen lassen. In allen Beispielen ist es eine Handlung, die über das hinausweist, was sie ist. Der Symbolcharakter der Handlung ist auch deshalb so bemerkenswert, weil sie in erster Linie Ausdruck einer Körperlichkeit ist. Die Einverleibung von Schönheit und Liebe ist ein brutaler und zärtlicher Akt zugleich.

Bleiben eigentlich nur zwei abschließende Bemerkungen. Zum einen soll nicht verschwiegen werden, dass in der Kinogeschichte Blumen, die Menschen essen, deutlich häufiger vorkommen, als Menschen, die Blumen essen. Und zum anderen, dass Kino auch bedeuten kann, sich von Schönheit zu ernähren. Dann wäre ins Kino gehen wie Blumenessen, aber dieser Vergleich ginge wohl zu weit. So oder so liegt in beiden Tätigkeiten ein anarchistisches Potenzial, die Möglichkeit einer anderen Welt, in der man Sinne ausleben und Grenzen übertreten kann.

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