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Spiel mit Perspektiven: Über die Montage in "Pelikanblut"

Ein Beitrag von Gesa Jäger

Heike Gnidas „Pelikanblut“ spielt mit den Stilmitteln zweier Genres und will das Publikum gezielt an der ein oder anderen Stelle verwirren. Wie dem Film das gelingt, erklärt, Gesa Jäger.

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Pelikanblut - Aus Liebe zu meiner Tochter (2019) - Trailer (deutsch)

Vier Filme sind für den Deutschen Filmpreis in der Kategorie Bester Schnitt nominiert. Doch was macht ihre Montage auszeichnungswürdig? Vier Editor*innen aus dem Bundesverband Filmschnitt versuchen, dies in Worte zu fassen und Einblick in Stilistik und die Erzählformen der Filme zu geben. Heute: Gesa Jäger über „Pelikanblut“.

Pelikanblut ist eine ungewöhnliche Kombination aus Drama und Horrorfilm – dass sie funktioniert, ist nicht zuletzt der Montageleistung von Heike Gnida zu verdanken. Der Film bewegt sich fließend zwischen den Genre-Konventionen. Er lässt die Zuschauer*innen durch symbolische Bilder, subtil eingesetztes Sound-Design sowie ein stimmig austariertes Erzähltempo nie los, sondern sorgt dafür, dass man sich freiwillig in eine Schlinge begibt, die sich nach und nach zuzieht.

Wiebke unterhält einen Hof, auf dem sie Pferde trainiert. Sie ist alleinerziehende Mutter ihrer Adoptivtochter Nicolina und entscheidet sich, mit der fünfjährigen Raya ein weiteres Waisenkind bei sich aufzunehmen. Raya hat mit ihrer traumatischen Vergangenheit zu kämpfen und wird im Verlauf des Films sowohl für Nicolina als auch für Wiebke zu einer großen Gefahr.

Schon die erste, für den Einstieg in den Film gewählte Einstellung lässt zwei Deutungen zu: Pferde liegen nachts wie tot auf einer nebligen Koppel. Eines erschrickt, springt auf und läuft aus dem Bild — sie haben nur geschlafen. Diese Täuschung, diese kurze Unsicherheit lässt bereits das unterschwellige Gefühl aufkommen, sich nicht auf das Gesehene verlassen zu können.

Auf Augenhöhe

Im Zusammenspiel mit der sensiblen Bildgestaltung von Moritz Schultheiß wird uns durch die Montage im Subtext immer wieder eine Gefahr vermittelt: Wenn sich Wiebke und Nicolina im Waisenhaus Raya zum ersten Mal sehen, bleiben wir eine gefühlte Ewigkeit auf Wiebkes Gesicht. Die Kamera fährt an sie heran, Wiebke und Nicolina gehen auf die Knie. Wir sehen ihre Freude und Überraschung in ihren Augen, dann betritt Raya das Bild, ohne dass wir ihr Gesicht erkennen können. Sie bleibt ein Geheimnis, aber ein mächtiges: Von Nicolina über Wiebke zu Raya entsteht eine aufsteigende Linie – Raya ist die „Größte“ und damit Mächtigste im Bild. Erst jetzt schneidet Heike Gnida auf Rayas Gesicht und wir sehen sie zum ersten Mal. Wieder sehen wir die – nun absteigende – Linie, von der stehenden Raya über die kniende Wiebke hin zu Nicolina, die beinah schon von Wiebke verdeckt wird. Ein früherer Schnitt auf Rayas Gesicht wäre erwartbar gewesen, als Zuschauer*in ist man neugierig. Die Montage zögert dies aber hinaus und macht Raya dadurch geheimnisvoll. Zusätzlich findet die Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb eines Bildes statt und manifestiert sich durch den Schnitt in den folgenden Einstellungen. Montage und Kamera bereiten uns hier deutlich auf eine Veränderung der Machtverhältnisse vor: In den folgenden Szenen wird Raya beginnen, Wiebke und Nicolina zu terrorisieren.

Immer wieder verknüpft die Montage die Pferde und deren Gemütszustand geschickt mit der Handlung. Zum Beispiel wenn Raya, nachdem sie aus dem Kinderheim geholt wurde, zum ersten Mal auf den Hof kommt: Wir sehen, wie alle drei gemeinsam das zum Willkommen geschmückte Haus betreten, Schnitt auf ein von Fliegen umschwärmtes Pferd, das „skeptisch“ in Richtung des Hauses zu schauen scheint. Im nächsten Bild räumt Raya ihr Regal ein, während Wiebke und Nicolina ihr zufrieden dabei zusehen. Das Bild des Pferdes dazwischen, das aus einem anderen Kontext stammt ist hier so eingesetzt, dass es die Situation kommentiert. Es entsteht der Eindruck, das Pferd wüsste mehr als man selbst – es entsteht eine Vorahnung.

Bewusste Achssprünge

Eine weitere, auffällige Sequenz ist das Gespräch zwischen Wiebke und dem Kinderpsychologen. Auf Wiebkes Suche nach Hilfe wurden eine Reihe von Tests an Raya durchgeführt, deren Ergebnisse nahe legen, Raya in eine Einrichtung für traumatisierte Kinder zu geben – obwohl Wiebke ihr versprochen hat, sie nicht wegzugeben. Die Montage dieser Szene beginnt unauffällig: Wiebke lässt sich auf das Gespräch ein und hört dem Psychologen zu. Ab dem Vorschlag, Raya wegzugeben, geht das Gespräch zwischen den beiden aber plötzlich „über die Achse“ – sie scheinen sich nicht mehr in die Augen zu sehen. Ein Achssprung entspricht nicht der natürlichen Sehgewohnheit, führt beim Publikum zu räumlicher Desorientierung und wird deshalb meist vermieden. An dieser Stelle wurde der Effekt aber bewusst eingesetzt: Obwohl die beiden aufeinander reagieren, miteinander sprechen, erscheint Wiebke auf diese Weise distanziert und als würde sie sich nicht auf die Idee des Psychologen einlassen wollen.

Heike Gnida gelingt es, über den gesamten Verlauf des Filmes durch die geschickte Auswahl der richtigen Momente das Schauspiel der Kinder auf ein hohes Niveau zu heben, sodass sie neben den Erwachsenen bestehen können. Darüber hinaus schafft sie es, mit dem subtilen Einstreuen von Momenten der Verunsicherung und dem mutigen Einsatz symbolischer Bilder, den Übergang vom Drama zum Horrorfilm so behutsam und kaum merklich zu zeichnen, dass man sich am Filmende erstaunt fragt, was einem da gerade geschehen ist.

Dieser Text entstand im Rahmen der BFS Veranstaltungsreihe „ungeSCHNITTen — Gespräche mit Filmeditor*innen“, die aufgrund der Covid-19-Auflagen aktuell nicht stattfinden kann. Die Autor*innen sind Filmeditor*innen und schreiben hier über die Schnitt- und Montagearbeit der vier Filme, die beim Deutschen Filmpreis in der Kategorie Bester Schnitt nominiert sind.

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Gesa Jäger
Gesa Jäger studierte Montage an an der Filmuniversität Babelsberg, arbeitet als freie Filmeditorin in Berlin und ist aktives Mitglieder im Bundesverband Filmschnitt.

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