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Features

Sandra Hüller – Frei von Eitelkeit

Ein Beitrag von Andreas Köhnemann

Ab dem 2. November ist Sandra Hüller in „Anatomie eines Falls“ im Kino zu sehen – wie immer in einer furchtlosen Darbietung. Ein Blick auf eine Schauspielerin, die uns stets aufs Neue zu verblüffen vermag.

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"Sisi & Ich" / "Anatomie eines Falls" / "The Zone of Interest"
"Sisi & Ich" / "Anatomie eines Falls" / "The Zone of Interest"

Sandra Hüller, geboren am 30. April 1978 in Suhl, studierte von 1996 bis 2000 an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin und avancierte nach ihrem Abschluss rasch zum Theaterstar. Sowohl für ihre Leistungen auf der Bühne als auch vor der Kamera hat sie zahlreiche Auszeichnungen (darunter den Bayerischen Filmpreis, den Silbernen Bären der Berlinale, den Deutschen Filmpreis und den Europäischen Filmpreis) erhalten; durch ihr 2020 veröffentlichtes Mini-Album Be Your Own Prince, bestehend aus selbst komponierten Songs, hat sie ein weiteres Mal demonstriert, dass sie ein kreativer Tausendsassa ist.

In seiner Laudatio zur Verleihung des Douglas-Sirk-Preises an Hüller beim Filmfest Hamburg 2023 nannte ihr Kollege Jens Harzer den Widerspruch zwischen Überlegenheit und Unterlegenheit als ihre schauspielerische Einzigartigkeit. Hüller zeige eine „Verlorenheit, die aber unbedingt und unmissverständlich auf ihre Unabhängigkeit und Eigenständigkeit“ bestehe. Dieses Paradox bezog Harzer im Laufe seiner Rede auch auf ihr Spiel in Justine Triets Anatomie eines Falls.

 

Eine Frau vor Gericht

Ihre Figur, die ebenfalls Sandra heißt und als Schriftstellerin tätig ist, wird darin zur Hauptverdächtigen, als deren Ehemann ums Leben kommt. Der gemeinsame elfjährige Sohn findet den Vater tot am Fuße des Familienchalets im Schnee liegen. War es ein tragischer Sturz? Oder Suizid? Oder hat Sandra ihren Gatten womöglich gestoßen? In einem Indizienprozess wird sie mit allen schmerzhaften Details ihrer Ehe öffentlich konfrontiert. Der von Harzer beschriebene Widerspruch kommt dabei perfekt zum Ausdruck. Sandra wirkt erschöpft – und doch souverän. Sie vermeide es, „sich einschätzen zu lassen“, bringt Harzer es auf den Punkt.

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Cosmic Dancer

In Sisi & Ich (2023) spielt Hüller die 42-jährige Irma Gräfin von Sztáray, die zur Hofdame der Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn, verkörpert von Susanne Wolff, wird. In dieser Rolle muss sie einiges erdulden und erleiden. Von ihrer gängelnden, übergriffigen Mutter bekommt Irma anfangs die Nase blutig geschlagen, auf Sisis Sommersitz auf Korfu wird sie dazu aufgefordert, ihre Ausdauer und ihr Durchhaltevermögen unter Beweis zu stellen: laufen, springen, Klimmzüge machen. Sie muss sich einem rigorosen Essensreglement unterwerfen und sich immer wieder auf die Launen der Kaiserin einlassen. Vor allem aber muss Irma damit umgehen, sich hoffnungslos in die Monarchin verliebt zu haben. Eine Liebe mit ungleichen Machtverhältnissen, im ständigen Wechsel zwischen Nähe und Distanz, zwischen Zärtlichkeit und Grausamkeit.

Hüller vermittelt die Tragik ebenso wie die Komik – und nutzt dafür auch gekonnt die grandiosen Kostüme, die Irma trägt. Von der ungelenk-linkischen und überwiegend devoten Frau im unpraktischen rosa Seidenkleid mit Puffärmeln entwickelt sich Irma im Laufe der Handlung zu einer selbstbewussteren Frau, die in moderner, schlicht-eleganter Kleidung ihrer Zukunft entgegenläuft. Zu ihrem Leitmotiv wird der Song Cosmic Dancer von T. Rex, den Hüller hier selbst interpretiert: „I danced myself right out the womb / Is it strange to dance so soon?“

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Kleine Rolle, große Wirkung

Sisi & Ich ist die zweite Zusammenarbeit von Sandra Hüller und der Filmemacherin Frauke Finsterwalder. 2013 hatte Hüller eine Rolle in dem episodisch erzählten Deutschlandporträt Finsterworld, in dem sich die (Co-)Drehbuchautorin und Regisseurin ein paar recht ausgefallenen Leidenschaften widmet. So wirft sich etwa der Polizist Tom in ein anthropomorphes Tierkostüm und sucht die Nähe anderer Fursuit-Träger:innen. Hüller verkörpert dessen überspannte Freundin  Franziska, die zunächst nichts von Toms Fetisch weiß.

Verglichen mit vorherigen Leinwandparts von Hüller – beispielsweise in ihrem furiosen Kinodurchbruch Requiem (2006) von Hans-Christian Schmid als junge Frau in der süddeutschen, extrem katholischen Provinz der 1970er Jahre, an der ein verhängnisvoller Exorzismus vorgenommen wird, oder in Nanouk Leopolds ungewöhnlichem Charakterdrama Brownian Movement (2010) – ist Franziska in diesem Ensemblefilm eher nur ein kleines Puzzlestück. Doch gerade anhand solcher Auftritte, die nicht zwangsläufig das Zentrum bilden, lässt sich oft die Größe eines Talents beweisen. Denn Hüller schafft es, auch in wenigen Minuten, bei geringer Screentime Glanzpunkte zu setzen – mal tragische, mal komische, sehr häufig tragikomische.

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Figuren mit markanten Makeln

Franziska, eine ehrgeizige Dokumentarfilmerin, die frustriert von ihrem Fernsehjob ist, reagiert ausgesprochen unbeherrscht auf Toms Coming-out als Furry – und Hüller lässt uns erkennen, dass diese Überreaktion weitaus grotesker ist als jedwede Furry-Montur, und dass Franziskas aufgesetzte Intellektualität letztlich als befremdlichere Verkleidung begriffen werden sollte. Allein schon durch diese von Hüller so prägnant interpretierte Situation ist Finsterworld auch mehr als zehn Jahre später noch ein ziemlich treffendes Bildnis der Bundesrepublik.

Unter der Regie von Jan Schomburg, mit dem sie 2011 die komplexe Trauerstudie Über uns das All gedreht hat, gibt Hüller in Vergiss mein Ich (2014) die (vermeintlich) beste Freundin der Protagonistin. Dies könnte in den Händen einer anderen Person, ähnlich wie Franziska, eine undankbare Randfigur sein, aber Hüller macht mit der ihr eigenen Freiheit von jeglicher Form von Eitelkeit aus jedem peinlich berührten, hochgradig irritierten Blick und jeder Geste der emotionalen Überforderung, die sich in diesem Fall aus der retrograden Amnesie der Heldin und aus deren argloser Ehrlichkeit ergeben, ein eindrückliches Erlebnis. Frauke – so Hüllers Rollenname in Vergiss mein Ich – und Franziska sind keine Personen, die wir besonders mögen müssen. Allerdings werden wir sie ganz gewiss in Erinnerung behalten, da Hüller ihnen markante Makel, glaubhaft nervige, unangenehme Eigenschaften verleiht, die nichts mit einer Karikatur, sondern sehr viel mit dem echten Leben, mit uns und unserem Umfeld, zu tun haben.

 

Whitney Schnuck, Sekretärin des deutschen Botschafters

In Maren Ades Toni Erdmann (2016), einem Mix aus Vater-Tochter-Tragikomödie und Businesswelt-Satire, hätte Hüllers Hauptrolle leicht zu dem werden können, was insbesondere Frauen in komödiantischen Stoffen häufig zu verkörpern haben: die leider zumeist völlig langweilige Stimme der Vernunft, die erhabene, kopfschüttelnde Spaßbremse neben dem lustigen (Anti-)Helden, der zwar schrecklich albern ist, dem aber im Endeffekt die Sympathien des Publikums gelten sollen. Doch Hüller alias Ines Conradi ist mehr als das. Die als Unternehmensberaterin in Rumänien tätige Ines und ihr Vater, der von Peter Simonischek gespielte geschiedene Alt-68er Winfried, haben einander oft enttäuscht und verletzt und sind einander fremd geworden. Das lassen uns Hüller und Simonischek in der authentisch-unbeholfen anmutenden Interaktion zwischen Tochter und Vater fortwährend spüren.

Wenn Winfried mit einem schiefen Scherzgebiss, einer zotteligen Perücke und einem Billig-Anzug die schillernde titelgebende Kunstfigur erschafft und so in Ines’ privaten und beruflichen Kreisen aufzutauchen beginnt, ist das zunächst einmal natürlich eine One-Man-Show für Simonischek. Aber wenn Ines als Whitney Schnuck, die „Sekretärin“ von Toni, der sich ohne zu zögern selbst zum deutschen Botschafter erklärt, im heimeligen Ambiente einer Wohnung in Bukarest beim traditionellen Ostereierfärben eigentlich eher widerwillig eine schier unglaubliche Gesangseinlage (Greatest Love of All) hinschmettert, stellt das sofort allen vorangegangenen Irrwitz noch locker in den Schatten – bis zur äußerst bizarren Teambuilding-Nacktfeier gegen Ende, zu der sich Ines spontan hinreißen lässt, einfach weil sich das für diesen Anlass auserwählte Kleid gerade nicht ordentlich anziehen lässt.

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Wie Hüller dabei subtil die Verwunderung von Ines über sich selbst sichtbar macht, gibt der Figur die nötige Glaubwürdigkeit. Bemerkenswert ist überdies, dass Hüller in ihrer Interpretation abermals nicht um unsere uneingeschränkte Gunst buhlt: Den mal unterschwelligen, mal völlig offenkundigen Sexismus, dem sich Ines in ihrer von Männern dominierten Branche ausgesetzt sieht, überträgt sie selbst direkt auf ihre jüngere Assistentin – und auch das klassistische Gebaren ihrer Arbeitsumgebung hat sie längst übernommen. Ines ist, wie bei Hüller üblich, ein ambivalenter Charakter mit Fehlern und vielen, teilweise unschönen Facetten.

 

Das Multitalent

Hüllers Wandelbarkeit lässt sich zum Beispiel an ihren Leinwandauftritten in den Jahren 2017/18 veranschaulichen. 2017 übernahm sie einen Part als Neulehrerin in Bora Dagtekins Fack ju Göhte 3 – und im Jahr darauf wechselte sie vom klamaukig-überdrehten Schulkosmos der Erfolgsreihe nahtlos in die zärtlich-leise Welt von Thomas Stubers In den Gängen, um in der ostdeutschen Peripherie als Mitarbeiterin in der Süßwarenabteilung eines Großmarkts mit einem von Franz Rogowski schüchtern-verdruckst dargebotenen Gabelstaplerfahrer zu flirten. Dass Hüller in Dagtekins Mainstream-Komödie nicht – wie es ihr Theater- und Arthouse-Kino-Hintergrund wohl nahegelegt hätte – den feinsinnigen Kontrast zum betont proletenhaften Protagonisten gibt, sondern mindestens in gleichem Maße rabiat und hedonistisch durch den Nonsens-Plot marschiert, ist ein zusätzliches hübsches Detail.

In internationalen Produktionen gelingt es ihr ebenso, in wirkungsvollen Nebenrollen einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. So etwa in der ersten Kollaboration mit Justine Triet – der französisch-belgischen Tragikomödie Sibyl – Therapie zwecklos (2019). In dem zwischen Bitterkeit, Leichtfüßigkeit und Absurdität äußerst virtuos balancierenden Gefühlschaos ist Hüller als deutsche Regisseurin Mika, die sich am Rande des Nervenzusammenbruchs bewegt und das Filmset kurzerhand durch einen Sprung von einem Boot ins Mittelmeer vorzeitig verlässt, ein aberwitziger Höhepunkt. Mikas Gekränktheit, ihre desolat kaschierte Eifersucht bringt Hüller erneut so wunderbar uneitel zum Ausdruck, dass wir diese Figur, die total lächerlich erscheinen könnte, in all ihrer Menschlichkeit begreifen.

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In Alice Winocours Proxima – Die Astronautin aus demselben Jahr verkörpert Hüller wiederum beinahe das genaue Gegenteil der fahrigen Mika: eine kühl erscheinende, patent auftretende Psychologin, die der Protagonistin und deren Tochter dabei helfen soll, sich auf die vorübergehende, durch den Beruf der Mutter bedingte Trennung einzustellen. Während Hüller in Sibyl die Spitze des neurotischen Verhaltens bildet, ist sie im hochemotionalen Geschehen von Proxima der analytische Gegenpol.

 

Die Sandra-Hüller-Festspiele

Neben Anatomie eines Falls, der als Gewinner der Goldenen Palme hervorging, lief bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 2023 auch das historische Drama The Zone of Interest des Briten Jonathan Glazer, in dem Hüller als Hedwig Höß, die Frau des Konzentrationslagerkommandanten von Auschwitz, zu sehen ist. Wie sie sich als Gattin eines Kriegsverbrechers banalen Sorgen hingibt und alles ausblendet, was nicht in ihre idyllische Vorstellung passt, ist eigentlich unspielbar. Doch Hüller schafft es immer wieder aufs Neue, uns zu überraschen. Und so wird es gewiss noch lange Zeit weitergehen.

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