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Features

Paul Thomas Anderson: Grand American Auteur

Ein Beitrag von Sebastian Seidler

Nach dem in London gedrehten „Der seidene Faden“ kehrt Paul Thomas Anderson mit sonnendurchsetzter Lebenslust ins Valley zurück: „Licorice Pizza“ ist hell, mäandernd und mitreißend. Eine Annäherung an die Erzählkunst dieses großen Regisseurs. 

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Paul Thomas Anderson
Paul Thomas Anderson

Mit der Behauptung, dass „Licorice Pizza“ genau das sei, was das Kino jetzt im Hier und Heute braucht, dürfte man sich nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen: Es ist ein Film, in dem man versinken will und dessen Charakteren man gar noch in die entlegensten Winkel ihrer filmischen Welt folgen möchte, selbst wenn sie im Grunde nichts weiter tun, als mehr oder weniger alltägliche Abenteuer zu erleben. Es ist jener Sog des Erzählens, von dem eigentlich alle Filme von Paul Thomas Anderson leben. 

Dabei erscheint dessen Filmografie auf den ersten Blick durchaus uneinheitlich und stilistisch disparat. Dennoch lassen sich alle Filme, angefangen vom Thriller Last Exit Reno (Hard Eight, 1996) über den epischen There Will Be Blood (2007) bis hin zum streng komponierten Liebesfilm Der seidene Faden (2017), eindeutig dem Schaffen des Amerikaners zuordnen. Selbst dann, wenn sich ästhetischen Mittel über die Zeit hinweg wandeln: Die Bildsprache wird im Vergleich zum an Scorseses GoodFellas (1990) geschulten Boogie Nights (1997) ruhiger, die Kamera nimmt sich immer mehr zurück, und die ausgeklügelten Plansequenzen drängen mit jedem Film weniger in den Vordergrund als noch bei Magnolia (1999). 

Thomas Flight argumentiert in seinem ansonsten fabelhaften Video-Essay The Evolution of a Style – How Paul Thomas Anderson Changed, dass Paul Thomas Anderson seinen Stil verfeinere, sich als Filmemacher weiterentwickelt habe. Gerade Der seidene Faden sei sorgfältiger kadriert, und der Regisseur vertraue mehr in die Kraft seiner Bilder. So einfach ist die Sache aber auch wieder nicht. Dieser verwinkelten und ästhetisch so unterschiedlichen Filmografie lediglich eine lineare Entwicklungsgeschichte überzustülpen, verkennt, dass PTA – so die liebevolle und geläufige Namensabkürzung des Regisseurs – immer schon ein vollendeter Filmemacher gewesen ist, dessen Kunst darin besteht, die Form seiner Filme aus den jeweiligen Figuren heraus zu entwickeln. 

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Die Entfaltung räumlicher Landschaften

Je nachdem, was seine Figuren und damit seine Geschichten benötigen, bedient er sich mit allergrößter Leichtigkeit unterschiedlichster filmischer Werkzeuge, Grammatiken und Filmsprachen. Eben daraus ergibt sich diese enorme Vielfältigkeit des Anderson’schen Kanons, der am Ende eben durch dessen empathische Fähigkeit als Geschichtenerzähler zusammengehalten wird; mit unendlicher Vorstellungskraft schöpft er aus dem Durcheinander menschlicher Existenzen, formt daraus Figuren und lässt aus diesen die Geschichten erwachsen. 

Dabei bedarf es oft nicht mehr als das Aufeinandertreffen zweier Figuren, damit der Film wie eine chemische Reaktion in Fahrt kommt. Das Kino von PTA ist eines der Relationen und Beziehungen. Und eben diese Beziehungen eröffnen Welten. Wie bereits Thomas Flight – erneut sei auf dessen analytisch äußerst präzisen Kommentar verwiesen – zeigt, beginnt das gesamte filmische Schaffen dieses Regisseurs mit einem solchen Aufeinandertreffen: Am Anfang von Last Exit Reno sitzt John (John C. Reilly) vor einem Diner – niedergeschlagen, in sich versunken. Da tritt Sydney (Philip Baker Hall) auf ihn zu und bietet ihm einen Kaffee und eine Zigarette an. So treffen diese beiden Figuren also aufeinander, und so beginnt dieses ganze Drama um Anerkennung und väterliche Bezugspersonen. Für unsere Sache spielt es keine Rolle, was in dem Dialog gesprochen wird. Es reicht völlig, dass diese beiden Figuren kollidieren. 

In einem Gespräch über das Drehbuchschreiben sagt Anderson, dass es eigentlich die Figuren seien, die den Weg der Geschichte bestimmen und sich wie von selbst ganz und gar eigensinnig entwickeln. Er selbst müsse eigentlich nur noch die Wege nachzeichnen. Andere Filmemacher_Innen arbeiten in dieser Hinsicht wesentlich technischer (Christopher Nolan), thesenhafter (Catherine Breillat, David Cronenberg) oder vom Bild und der Atmosphäre kommend (David Lynch). Bei Anderson beginnt alles mit den Figuren, aus denen er unterschiedliche Landschaften heraus entfaltet.

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Mal sind diese (ästhetischen) Landschaften reich an Weite (There Will Be Blood), die sich in einen gewaltsamen Wahn verjüngt; oder nautische Gebilde, in denen sich die Flüssigkeiten am Ende nicht mehr vermischen wollen (The Master). Es gibt die neurotischen Klangräume (Punch-Drunk Love), die zucken und stolpern, wie die Neurosen und Psychosen der Hauptfigur pulsieren. Da gibt es die aristokratische Festung (Der seidene Faden), die sich wie eine zweite Haut um die Figuren herum legt, und eben Last Exit Reno, bei dem die Casinos den Figuren und ihren Verfassungen entwachsen. 

Zunächst ist da aber der Anfang, an dem Sydney und John schließlich das Diner verlassen. Die Kamera verharrt an Ort und Stelle; zurück bleiben die Kaffeetassen und der Aschenbecher. Fenster, Tisch, Tassen und Aschenbecher – mehr braucht man nicht für eine Welt. Diese profanen Gegenstände und ihre Abstände zueinander werden zu einer Landschaft. Etwas hat Spuren hinterlassen, und Spuren verweisen nicht nur auf das, was gewesen ist, sondern immer auch auf das noch Kommende. Und schließlich lässt sich über alles, wirklich alles eine Geschichte erzählen. Es kommt nur darauf an, auf welche Art und Weise (weshalb die Form eines Film immer wichtiger ist als die Geschichte).  

 

Stützende Verdichtungen

Jede filmische Welt benötigt eine innere Stimmigkeit, die bei Paul Thomas Anderson aus einer paradoxen Gleichzeitigkeit heraus entsteht: Die Figuren bevölkern diese Welträume, und diese Welträume bevölkern die Figuren. Diese Gleichzeitigkeit ist der Schlüssel, die DNA von PTA. Damit dieses Gebilde allerdings aufrechterhalten wird, braucht es narrative Verdichtungen gleich Stützbalken, in welchen die großen Geschichten sich im Kleinen abspielen.  

In Inherent Vice (2014), dieser bekifft-flirrenden Noir-Krimi-Adaption eines Romans von Thomas Pynchon, ist nicht nur der abgehalfterte Privatdetektiv Doc (Joaquin Phoenix) ständig zugedröhnt. Der Film selbst ist auf Droge, verflechtet seine Figuren durch Absurditäten und in einem Tempo, das gleichzeitig schnell und abdriftend langsam ist, sodass wir im Grunde nichts begreifen können, sondern zum Vorbeigreifen gezwungen sind. 

Und dann gibt es in diesem Film diese wunderbare Szene, in der Doc und seine große Liebe Shasta (Katherine Boyer Waterston) einem völlig bescheuerten Hinweis, den sie durch ein Ouija-Brett erhalten, nachgehen. An dem aufgesuchten Ort befindet sich letztlich nichts. Es regnet in Strömen, die blaue Stunde taucht die Straßenecke in ein Dazwischen, und dazu darf Neil Young singen: „Will your restless heart come back to mine, on a journey through the past? Will I still be in your eyes and on your mind?“

Es ist diese romantische Vignette, dieser kurze Moment melancholischer Erinnerung, in der PTA seinem Film den nötigen Halt gibt; genau darum geht es in Inherent Vice, um Doc und seine Liebe, und die Melancholie des Abschieds. Der Kriminalfall ist Nebensache, bleibt im Hintergrund. Auch gibt es keine Entwicklungen der Figuren, keine lächerliche Drei-Akt-Struktur, keine Szenen, die einzig und allein im Film sind, um von A nach B zu kommen. Die Figuren bewegen sich ja ohnehin; wir lernen sie mit jeder Szene besser kennen. 

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Diese Szenen der Verdichtung gibt es in allen Filmen. Bei The Master ist es die Motorradszene, in der Freddie (Joaquin Phoenix) sich nicht an die vereinbarten Regeln hält und die angebliche Autorität von Lancaster vorführt. In Der seidene Faden liegt die gesamte Geschichte dieser komplizierten Liebeserzählung in den Bildern der „ersten Liebesnacht“, wenn Reynolds (Daniel Day-Lewis) Alma (Vicky Krieps) die Maße nimmt, um ihr ein Kleid zu nähen – dieser erotisch aufgeladene Akt spielt die Dialektik aus Verführer und Verführter, das Wechselspiel der Machtpositionen elegant aus. 

Von da ist der Sprung zum Zauber von Licorice Pizza nicht mehr weit. Aus London zurück ins Valley, wo die Landschaft die Namen Alana und Gary tragen wird. Alana Kane (Alana Haim) und Gary Valentine (Cooper Hoffman) werden gemeinsam durch die Straßen des San Fernando Valleys mäandern. Sie werden sehr viel laufen – freudig oder in Sorge. Auf ihrer Reise durch diese Landschaft aus Asphalt, Geschäftsideen und Eifersucht wird es immer wieder diesen Wechsel zwischen kindlicher Albernheit und erwachsener Verwandlungskunst geben. Alana ist 25, und Gary ist 15. Dieser Altersabstand ist eine gesellschaftliche Grenze, die es zu überwinden gilt. 

Denn weder ist Alana erwachsen, noch ist Gary ein Kind. Daher ist Licorice Pizza ständig in Bewegung, weil man nur dann, in dieser ständigen Bewegung sich einer klaren Verortung entziehen kann – bis man eben irgendwann ineinander prallt. Alana/Gary sind, ebenso wie Reynolds/Alma oder Doc/Shasta nicht einfach Figuren in einem Film, die einen Konflikt durchleben. Sie sind der Film.

Meinungen

Wilhelm Etzel · 27.01.2022

Dieser Film hat wirklich jeden Preis verdient, für den er nominiert wird ; gleiches gilt sinngemäß für den Regisseur !
< Prädikat : 5 Sterne plus DELUXE-BENEFIT > für den vorzüglichen CAST und das Drehbuch!

Schon lange sind 2 x 2 Stunden im Kino nicht mehr so fröhlich und beschwingt vergangen , wie bei Licorice Pizza !
Ich habe mir nämlich die OV -Fassung doppelt gegönnt, einschließlich Popcorn und Getränke !

Florian · 26.01.2022

Ein super Feature von Euch, freu mich schon sehr auf den neuen Film!