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Mehr als angemalte Wirklichkeit – Über Rotoskopie-Kino

Ein Beitrag von Lucas Barwenczik

Seit hundert Jahren entstehen Filme mithilfe von Rotoskopie – ein Animationsverfahren, bei dem Zeichnungen direkt über die Bilder gemalt werden. Eine faszinierende Hybridform aus Real- und Zeichentrickfilm, die Filmwelten hervorbringt, die sich immerzu selbst hinterfragen.

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Teheran Tabu

Pessimisten nennen wir „Schwarzmaler“ und stellen uns dabei vor, wie sie die eigentlich schöne, gute Welt mit düsteren Schattierungen überziehen. Unverbesserlichen Optimisten werden „rosarote Brillen“ angedichtet, Konzernen und Filmstudios wirft man „Greenwashing“ und „Whitewashing“ vor. Die verwendete Sprache zeigt: In unserer Vorstellung ist die Realität oft eine Leinwand, die Menschen sich immer wieder ihrem eigenen Belieben nach einfärben. Heute existieren zahllose Möglichkeiten, diese Vorstellung wirklich im Blick auf die Welt abzubilden: Die Filter, mit denen wir Fotos und Videos bearbeiten, etwa durch Apps wie Instagram oder Snapchat. Plötzlich erstrahlt alles im Retrolook oder Fotografierte tragen ein Hundegesicht. Oder in Augmented-Reality-Software, die unseren Blick durch Wearables oder Smartphones um neue Elemente erweitern. Und eben im Kino, sogar schon seit einhundert Jahren – in dem Animationsverfahren Rotoskopie.

Am 9. Oktober 1917 wurde dem legendären amerikanischen Cartoonisten Max Fleischer (Erfinder von u.a. Popeye und Betty Boop) das Patent auf eine neuartige Technik erteilt, die zu diesem Zeitpunkt schon seit einer Weile in Gebrauch war. Das erste Rotoskop soll er aus Autoteilen und einem ausrangierten Filmprojektor gebaut haben. Es handelte sich um wenig mehr als eine transparente Leinwand, auf die Filmaufnahmen projiziert wurden, damit ein Künstler die Einzelbilder nachzeichnen – man könnte auch sagen: abpausen – konnte. Laufbilder, direkt auf einen Zeichentisch gestrahlt, ermöglichten dem Zeichner, Konturen von Architektur, Köperhaltungen und bedeutsamen Objekten Bild für Bild zu übertragen. Vor allem Bewegungen lassen sich auf diese Weise akkurater darstellen, denn ihre Grundlage sind nicht mehr Erinnerung, Beobachtung und Fantasie, sondern eben eine konkrete filmische Vorlage. Das Verhältnis zwischen Real- und Animationsfilm wurde dadurch neu verhandelt, die Übergänge fließender. So verwandelte Fleischer seinen Bruder Dave kurzerhand in die Figur Koko der Clown – der erste Cartoon-Charakter, der gewissermaßen von einem Darsteller gespielt wurde. Fleischer soll gesagt haben: „Wenn es im richtigen Leben passieren kann, dann ist es kein Zeichentrick.“ Die Rotoskopie ist also eine Art Kompromiss, eine Zwischen- und Hybridform – ein Teil der nur durch die Vorstellungskraft beschränkten Ausdrucksmöglichkeiten des Cartoons geht verloren, dafür werden die Bilder in einer physikalischen Realität verankert.

Ob der Cartoonist der tatsächliche Erfinder war, ist, wie so oft in der Kino- und Kunstgeschichte, unklar. Es gibt zahllose ältere Konstruktionen, die nach ähnlichen Prinzipien funktionieren wie das Rotoskop. Schon von Barockmalern wie Jan Vermeer wird angenommen, dass sie Gemälde unter der Zuhilfenahme von Spiegel-Apparaturen angefertigt haben könnten. Wie bei der Filmprojektion gibt es Annäherungen und Mehrfachschöpfungen.


(By Patent by Max Fleischer, artist unknown; Public Domain)

In ihrer hundertjährigen Geschichte stand die Technik nur selten im Vordergrund. Filme wie Teheran Tabu von Ali Soozandeh (seit dem 16.11 in den deutschen Kinos), die sie aktiv als zentrales Stilmittel einsetzten, sind eher die Ausnahme als die Regel. Im Sachbuch Rotoscoping: Techniques and Tools for the Aspiring Artist erklärt Benjamin Bratt die Rotoskopie gar zur „unsichtbaren Kunstform“ und stuft einen „roto artist“ dann als erfolgreich ein, wenn sein Eingreifen unbemerkt bleibt. Nach den Anfängen im Animationssegment und einer stetigen Verbesserung, die aus dem Zweikampf zwischen Fleischer und seinem größten Konkurrenten, Walt Disney, hervorging, wurde Rotoskopie zu einem wichtigen Werkzeug für Spezialeffekte im Allgemeinen. In der Regel wurden einzelne Elemente in das fertige Material eingefügt, Teile des Bilds farblich angepasst oder Hintergrundobjekte und Drähte entfernt. Ein typisches Beispiel für diesen Einsatz der Rotoskopie waren die Lichtschwerter der Star-Wars-Filme: Auf dem Set kämpften die Darsteller mit schnöden Holzstäben, die blitzende Energieklinge wurden anschließend vom Team hinzugezeichnet.

Die Rotoskopie wird oft zu einem sehr spezifischen Zweck eingesetzt: Um darzustellen, wie das Fantastische, Übernatürliche in jene Sphäre eindringen, die der Film als Realität begreift; um die Begegnung zweier Welten zu zeigen, die einander fremd sind. Ein gutes Beispiel ist das bekannte Musikvideo zu Take on Me der schwedischen Popgruppe A-ha, gedreht von Turtles-Regisseur Steve Barron: Eine junge Frau liest einen Comic und wird schließlich von der Hauptfigur in die gezeichnete Welt des Hefts hineingezogen. (Der ursprünglich aufwändige Effekt des Clips lässt sich heute mithilfe von Augmented-Reality-Apps mit wenigen Klicks reproduzieren.) Viele Filme, etwa die schrägen Geschichten von Regisseur Ralph Bakshi (Cool World), Alfred Hitchcocks Die Vögel oder der Sci-Fi-Kultstreifen Tron, funktionieren nach einem ähnlichen Prinzip – ausschlaggebend ist der visuelle Kontrast. Etwas anders geht der erstaunliche Dokumentarfilm Tower von 2016 vor: dieser setzt sich mit einem Amoklauf aus dem Jahre 1966 auseinander und benutzt Rotoskopie für die Dramatisierung der Erinnerungen der Betroffenen. Die Animationen kreieren dabei einen retrospektiven Blick, der gerade dadurch real wirkt, dass er immerzu auf seinen Status als Nachklang verweist. Regisseur Keith Maitland schwärmt: „Im Gegensatz zum Green Screen, wo der Computer die Hintergründe herausrechnet, ist Rotoskopie eine additive Technologie, insofern dass man nichts wegnimmt vom Ursprungsmaterial – man fügt zusätzliche Ebenen hinzu.“


(Filmstill aus Tower; Copyright: Go Valley)

Interessant wird es also auch dort, wo nicht nur einzelne Elemente, sondern gleich der ganze Film mit dem Verfahren bearbeitet wird. Realfilmaufnahmen verwandeln sich in Cartoons. Das Fantastische dringt nicht in die Welt ein, sondern überlagert und ersetzt sie. „Im Grunde drehen wir zwei Filme.“, beschrieb Produzent Tommy Palotta die Arbeit an Richard Linklaters A Scanner Darkly – Der dunkle Schirm.

Es ist ein faszinierendes Konzept: Die Künstler malen über Wirklichkeit, kopieren sie, bis eine zweite Version von ihr entsteht; ein Simulakrum, ein Ab- oder Traumbild. Man könnte an den französischen Philosophen Jean Baudrillard denken und an die vielen Theorien von der Welt als Simulation. Wir sehen Bilder, die Rückstände eines anderen enthalten und immer zwischen Eigentlichem und Uneigentlichem oszillieren. Für die Verfilmung eines Philip-K.-Dick-Romans wie Der dunkle Schirm drängen sie sich geradezu auf. Der Autor beschäftigt sich in vielen seiner Geschichten mit verschiedenen Realitäten und den Grenzen der menschlichen Wahrnehmung, einer seiner Romane trägt den Titel Simulacra, der Begriff taucht auch als Bezeichnung für Androiden immer wieder auf. Die Rotoskopie-Bilder des Linklater-Films wirken unwirklich, als würde ihre Echtheit immerzu in Frage gestellt. Durch Rotoskopie können Bilder entstehen, die an sich selbst zweifeln. Das ist auch bei Waking Life der Fall: Der episodische Traumfilm wabert und pulsiert durchgängig, scheint zu verlaufen, zu schmelzen. Wie eine Fata Morgana, kurz bevor sie endgültig durchschaut ist. (In A Scanner Darkley und Teheran Tabu funktionieren vor allem die Szenen so, in denen die Wirkung von Drogen dargestellt wird.)

Rotoskopie ist vor allem da ästhetisch ergiebig, wo eine solche Verfremdung der Ursprungsaufnahmen erkennbar ist – wenn die kopierte Welt, das Simulakrum, eine Variation und Interpretation darstellt. Für den Strukturalisten Roland Barthes war das „Simulacrum“ ein Instrument, um seinen ursprünglichen Gegenstand zu erforschen. In seinem Aufsatz Die strukturalistische Tätigkeit beschreibt er die Entstehung einer „Welt, die der ersten ähnelt, sie aber nicht kopieren, sondern einsehbar machen will“ und erklärt, dass diese „etwas zum Vorschein bringt, dass im natürlichen Objekt unsichtbar oder, wenn man lieber will, unverständlich blieb.“ Überträgt man diesen Ansatz auf die Rotoskopie könnte man argumentieren: Die nachgezeichneten Bilder sind da interessant, führen da zu Erkenntnis, wo sie ihre Ursprünge in Frage stellen und uns etwas Neues über sie aufzeigen.

Die neuen ästhetischen und ideologischen Fragen, die von Augmented Reality (eine computerunterstützte Wahrnehmung bzw. Darstellung, welche die reale Welt um virtuelle Aspekte erweitert) aufgeworfen werden, verhandeln Filmemacher in Rotoskopie-Filmen schon seit einhundert Jahren. In einem (sicher an vielen Stellen stark kritikwürdigen) Essay über das AR-Videospiel Pokémon Go beschreibt der Philosoph Slavoj Žižek die Wirklichkeitserweiterung um Pokémone als „Externalisierung des Grundmechanismus von Ideologie“ und ergänzt: „in ihrem Kern ist Ideologie, also falsches Bewusstsein, die ursprüngliche Version der augmented reality, der erweiterten Realität.“ Was würde das auf Rotoskopie-Filme übertragen bedeuten? Dass sich in der Beschaffenheit der rotoskopierten Bilder auch immer die Haltung zu den ursprünglichen ausdrückt. Welchen Teil des Wirklichen kann (muss? sollte?) man erretten, welche sind nur Illusion, die schon in der leichtesten Abstraktion verloren gehen? Linklaters Rotoskopie-Filme glauben nicht mehr an eine erfahrbare Wirklichkeit und vertrauen selbst den eingefangenen Körpern und ihren Bewegungen kaum noch. Wo man der Digitalität in Tron noch entkommen konnte, ist sie dort fast unausweichlich. Der Clip zu Take on Me glaubt an die eskapistische Kraft der Popmusik, Filme wie Tower glauben an die Macht der Erinnerung, an lebendige Geschichte. In Alois Nebel scheint die melancholische Atmosphäre so umfassend, dass sie die Welt in monochrome Farben taucht.


(Filmstill aus Alois Nebel; Copyright: Pallas Films)

Und der neuste Rotoskopie-Film Teheran Tabu, der in den Geschichten Einzelner den modernen Iran erklären will, seine Fassaden und blinden Flecken? Dort treibt ein ganz pragmatischer Grund zur Technik — der Schutz der eigenen Darsteller und Darstellerinnen. Rein ästhetisch kann man sicher skeptisch sein: Man muss der Rotoskopie natürlich keine Bestimmung, keinen singulären Zweck zuordnen. Aber man kann sich schon fragen, welchem Zweck die Technik dient, wenn sie einfach nur einen Instagram-ähnlichen Farbfilter über die Filmwelt legt. Die fehlende Diskrepanz zwischen Ursprungsmaterial und verfremdeter Kopie ist, was die Ästhetik von Teheran Tabu so beliebig wirken lässt. Eine unangenehme Vorstellung: Was, wenn uns AR bald erlaubt, selbst Filter und Verzerrungen über Kinobilder zulegen, und wir dieses neue Mittel nur so nutzen: Um sie unserem Belieben nach zu verformen, anstatt ihnen dadurch neue Erkenntnisse und Gefühle abzuringen?

Doch Regisseur Ali Soozandeh kann nicht einfach eine zweite Welt über eine erste legen, in Teheran erhielt er keine Drehgenehmigung. Er muss mühsam, mithilfe von Green Screens, einen Ort schaffen, durch die er die Abstraktionen von Menschen führen kann. Hier sind gewissermaßen die Darsteller selbst die Objekte, welche die Realität erweitern. Wieder treffen zwei Welten aufeinander, zwei Weltanschauungen und fiktiv ist nicht unbedingt eine der Ebenen, sondern ihr Zusammenspiel. Auch das kann die Rotoskopie leisten: Sie fügt zusammen, was unvereinbar schien.

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