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Kurzatmige Epik - Zwischen Überlänge und Hektik

Ein Beitrag von Andreas Köhnemann

Im Fachjargon der Kinobetreiber werden Langfilme in Abgrenzung zu Kurzfilmen auch als „abendfüllend“ bezeichnet. Seit jeher gibt es unter diesen Vertretern Werke, die unsere Abende mit ihrer stattlichen Laufzeit äußerst großzügig ausfüllen möchten.

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Suicide Squad
Filmstill aus "Suicide Squad" von David Ayer

Das Classical-Hollywood-Melodram Vom Winde verweht (1939) nutzt seine Laufzeit von 238 Minuten etwa, um auf Basis des gleichnamigen Margaret-Mitchell-Romans „the greatest romance of all time“ sowie (leider hochgradig rassistisch) die Historie der US-Südstaaten vom beginnenden Sezessionskrieg bis hin zur voranschreitenden Reconstruction zu erzählen; die Der-Herr-der-Ringe-Trilogie (2001-2003) entfaltet wiederum in ihren jeweils circa dreistündigen Teilen den vielfigurigen Fantasy-Kosmos des Schriftstellers J. R. R. Tolkien. Und der philippinische Filmemacher Lav Diaz bietet in seinen Arbeiten, die (wie im Falle von A Lullaby to the Sorrowful Mystery, 2016) auch mal 485 Minuten dauern können, die Möglichkeit zur Kontemplation.

Es ist daher keineswegs verwerflich, dass auch viele Blockbuster-Produktionen auf (Über-)Länge setzen. Bedauerlich und ärgerlich ist hingegen, dass etliche tentpole pictures, die uns oft weit über zwei Stunden an den Kinosessel binden wollen, trotz epischer Breite eine extreme Hektik ausstrahlen. Einige dieser Werke, zum Beispiel der 144-minütige X-Men: Apocalypse, entwerfen durchaus reizvolle, detailreiche filmische Räume; man vermag diese als Zuschauer_in aber kaum zu würdigen, da sie meist nur dazu dienen, das jeweilige Handlungspersonal durch sie hindurchzuhetzen. Orte und Figuren werden eingeführt, Konflikte angerissen, für eine Vertiefung bleibt jedoch aufgrund der Vielzahl von set pieces keine Zeit.

Filme wie Batman v Superman: Dawn of Justice (Länge: 151 Minuten) oder Suicide Squad (123 Minuten) wollen alles auf einmal — und versäumen es dabei, sich ihren Bestandteilen in angemessener Weise zu widmen. So kannibalisieren sich die vielen vermeintlichen Action- und Drama-Höhepunkte, an denen sich diese Comic-Adaptionen bis zu ihren Bombast-Finalen entlangzuhangeln versuchen, letztlich selbst und erzeugen ein anstrengendes ADHS-Kino, das sein Überangebot an Schauplätzen, Akteur_innen und Geschehnissen wenig überzeugend als Komplexität ausgeben will. Die seelischen Narben der (Super-)Held_innen und Gegner_innen vieler Blockbuster-Schöpfungen der vorigen Jahre sind im Zuge dieser Methode lediglich Accessoires, die die aufwendigen Kostüme ergänzen — und in die nicht nur kein Geld, sondern offenbar auch keinerlei Mühe investiert werden muss. In dieser Hinsicht begnügt sich ein Großteil der Filme mit Dramaturgie-Bausteinen, die schon durch etliche Drehbuch- und Regie-Hände gereicht wurden.

Suicide Squad
Bild aus Suicide Squad von David Ayer; Copyright: Warner Bros. Pictures Germany

 

Schade ist das vor allem deshalb, weil dadurch viel vorhandenes Potenzial verschenkt wird. Man mag in Bezug auf Jared Letos Joker-Darstellung in Suicide Squad geteilter Meinung sein; ohne Zweifel verfügt die Hintergrundgeschichte, die den Joker und die Protagonistin Harley Quinn (Margot Robbie) verbindet, jedoch über einen gewissen Reiz. Hier wird eine Amour fou angeschnitten, die das Leben der einst als Therapeutin tätigen Harleen Frances Quinzel von Grund auf veränderte: Es geht um fatale Faszination, ein schwer begreifliches Opfer und eine Liebe fernab von gängiger Romantik, irgendwo zwischen The Honeymoon Killers und Sid & Nancy.

Das Problem ist aber, dass sich Drehbuchautor und Regisseur David Ayer in der Schilderung und Gestaltung auf wenige, recht beliebige Sätze und Bilder beschränkt, sodass der hochdramatische Strang eher einem reißerischen Trailer oder einem willkürlich in den Film hineinmontierten YouTube-Clip gleicht. Die zur völlig durchgeknallten „Harley Quinn“ mutierte Frau bleibt einem fremd, die Beziehung zum Joker reichlich diffus — und ein spektakulär inszenierter Schlüsselmoment zwischen den beiden wirkt seltsam leer; der Song Gangsta von R&B-Künstlerin Kehlani, der hier zu hören ist, hat wesentlich mehr zu sagen als der audiovisuelle Rest der Passage.

Gut möglich, dass sich ein kommendes spin-off dem Ganzen ausführlicher widmen wird — als Teil von Suicide Squad ist diese backstory allerdings eine herbe Enttäuschung, kaum besser als die spannungslose, schwach gespielte Romanze zwischen dem Offizier Rick Flag (Joel Kinnaman) und der Archäologin June Moone (Cara Delevingne), das klischeehafte Ein-Vater-kämpft-um-seine-Tochter-Drama um den Auftragskiller Deadshot (Will Smith) sowie die vielen anderen, stets unterentwickelten Stränge dieses kinematografischen Flickenteppichs.

Doch nicht nur Comic-Verfilmungen leiden unter der beschriebenen ADHS-Dramaturgie. Adam McKays The Big Short glückt in seiner Laufzeit von 130 Minuten zwar ganz unbestreitbar die Visualisierung komplizierter Sachverhalte, die ab 2007 zur Finanzkrise führten; mit seinen Figuren geht das Werk dagegen ebenfalls nicht allzu bedachtsam um. Christian Bales Interpretation des Hedgefonds-Managers Michael Burry nimmt sich weniger wie die umfassende Verkörperung eines (real existierenden) Menschen als vielmehr wie ein Bewerbungsvideo für die Academy Awards aus — welches letztlich auch Erfolg hatte und mit einer Nominierung belohnt wurde. Statt einer Auslotung der Person gibt es ein Exzentrik-Best-of; die Spielfreude seiner Hauptdarsteller, zu denen neben Bale noch Ryan Gosling, Steve Carell und Brad Pitt zählen, beutet der Film (vielleicht unbewusst) in ähnlicher Weise aus, wie er es auf ganz bewusster Ebene mit der Bekanntheit seiner Gaststars (etwa Margot Robbie und Selena Gomez) macht, die in der Luxus-Badewanne oder am Casino-Tisch schwierige Finanzbegriffe möglichst anschaulich erklären.

Auch RomComs wie Valentinstag (2010), Happy New Year (2011) und Mother`s Day (2016) setzen in jüngster Zeit verstärkt auf Masse statt Klasse sowie auf Hektik und den schnellen Gag statt auf Ruhe, Sinnlichkeit und Feinsinn. Garry Marshall — der im Juli 2016 verstorbene Schöpfer von Pretty Woman (1990) — hetzt in seinen circa zweistündigen Ensemblestücken Abziehbild-Figuren durch weitgehend belanglose Geschichtchen, in denen sich meist alles rasch in Wohlgefallen auflöst oder im Klamauk entlädt.

Stoffe für dramatische Erzählungen — die Trauer um eine im Krieg gefallene Frau, die Suche nach der leiblichen Mutter, die Konfrontation mit Rassismus und Homophobie in der eigenen Familie — werden in Mother`s Day mit den allernötigsten Standardsituationen abgearbeitet. Die sexuelle Orientierung einer von Sarah Chalke verkörperten lesbischen Figur bleibt deren einzige erkennbare Eigenschaft; bei kaum einer der zahlreichen Rollen hat man das Gefühl, dass es sich um Menschen mit gelebten Leben handeln könnte. Zu den Ausnahmen gehört die PR-Agentin Kara (Jessica Biel) aus Valentinstag: Biel schafft es, einen Charakter entstehen zu lassen, von dem man zwar gern mehr gesehen hätte, der jedoch auch im Rahmen des Episodischen nicht unvollständig oder halbherzig in die (Leinwand-)Welt geworfen anmutet.

Valentinstag
Bild aus Valentinstag von Garry Marshall; Copyright: Warner Bros. France

 

In unabhängig produzierten Werken findet man dies auch heute noch deutlich häufiger. So wimmelt etwa Todd Solondz` Wiener Dog von Haupt- und Nebenfiguren — und doch wird fast allen die Möglichkeit gegeben, zum Leben zu erwachen. Wenn zum Beispiel Greta Gerwig als Dawn Wiener ihrem Ex-Mitschüler Brandon (Kieran Culkin) wiederbegegnet und sich ein leicht peinliches, aber vielverheißendes Gespräch entspinnt oder Zosia Mamet als Enkelin nach langer Zeit ihre Großmutter (Ellen Burstyn) aufsucht, weil sie Geld braucht, tun sich mit wenigen Dialogzeilen, Gesichtsausdrücken und Bewegungen glaubwürdige Kosmen auf. Gleiches gilt für Kelly Reichardts neues Werk Certain Women, in welchem Michelle Williams den Zustand einer Ehe, Kristen Stewart die Frustration über eine schlechte Job-Situation und Lily Gladstone das Aufkeimen von Liebesgefühlen wunderbar präzise zur Anschauung bringen und damit zur Tiefe ihrer jeweiligen Erzählstränge beitragen.

Certain Women
Bild aus Certain Women von Kelly Reichardt; Copyright: Sony Pictures

 

Wiener Dog (Länge: 88 Minuten) und Certain Women (107 Minuten) sind tatsächlich abendfüllend, da es Solondz und Reichardt gelingt, dass man als Zuschauer_in mit- und nachdenkt — über die gezeigten Situationen und die vorgestellten Personen. Die Blicke und Gesten von Gerwig und Mamet beziehungsweise Williams, Stewart und Gladstone begleiten einen (mindestens) den ganzen Abend.

Das Tohuwabohu in Suicide Squad oder die zahlreichen Irrungen und Wirrungen in Mother`s Day hat man indes schon zur Hälfte wieder vergessen, ehe der Abspann einsetzt. Nicht weil die Filme insgesamt zu lang oder ihre Geschichten und Figuren per se uninteressant wären — sondern weil ihnen der lange Atem, die Sorgfalt und Hingabe fehlen.

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