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Kunst im Schatten der Zensur: Das Chinesische Kino seit 2000

Ein Beitrag von Teresa Vena

Welche Titel sehen wir im Westen und welches Bild Chinas vermitteln sie — dürfen sie überhaupt vermitteln?

Meinungen
Eine Sekunde

Anlässlich des Kinostarts von „Eine Sekunde“ von Zhang Yimou lohnt es sich, einen Blick auf die Entwicklung des chinesischen Films der vergangenen 20 Jahre zu werfen. Diese Zeit fällt mit der sogenannten sechsten Generation chinesischer Filmemacher und Filmemacherinnen zusammen, die seit ungefähr 1997 aktiv ist. Zhang Yimou selbst wird allerdings noch der vorherigen Generation, der fünften, zugerechnet, deren Anfänge um 1979 datierbar sind und mit dem Ende der Kulturrevolution zusammenhängen. Zhang ist daher ein interessanter Gradmesser für die Wandlung, die das Kino seitdem erfahren hat. 

Der Fall Zhang

Nun kommt er also endlich ins Kino — der Film, der einen kleinen Skandal auslöste. Eine Sekunde von Zhang Yimou war 2020 als Beitrag für den internationalen Wettbewerb der Berlinale ausgewählt worden. Kurz vor der offiziellen Premiere zog man den Film zurück, angeblich aus technischen Gründen. Vermutet hat man hierzulande allerdings, dass die chinesische Filmzensur interveniert habe. 

Stattdessen zeigte damals das Festival einen früheren Film des Regisseurs, Shadow, einer seiner vielzähligen Historien-Kampfkunst-Epen, die Geschichten von Liebe, Ehre und Dynastien erzählen, die weit weg von einer aktuellen oder jüngst vergangenen Realität des Landes entfernt scheinen. Ihnen wohnt etwas Abstraktes, Stilisiertes und gleichzeitig Monumentales inne, das durchaus seine Faszination hat, aber über den eigentlichen Unterhaltungswert hinaus kaum nachhallt.

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Eine Sekunde ist zwar in der Zeit der chinesischen Kulturrevolution situiert, doch in diesem Fall sind die Vorbehalte der Zensur nur wenig nachvollziehbar. Sicherlich verweist Zhang auf die tyrannischen Maßnahmen der Mao-Zeit. Sein Protagonist ist ein Entflohener eines Arbeitslagers, gemeint ist ein sogenanntes Umerziehungslager. Doch der Film, in erster Linie eine Hommage an das Medium Film selbst, ist zu stilisiert, um als ernsthafte Kritik gelten zu können. 

 

Die vorsichtigen „Alten“

Seine Darstellung von Armut und kollektiver Solidarität hat romantische Züge, und er verliert sich in eine diffus melancholisch-sehnsuchtsvolle Sichtweise. Gefahr, die Gräuel der Kulturrevolution, die ungefähr von 1966 bis 1976 andauerte, anschaulich zu machen, läuft der Film nicht. Das soll und darf man offiziell allerdings auch nicht. Obwohl sich das heutige China von Maos Lehren verabschiedet hat, ist eine Aufarbeitung seines Wirkens nicht erwünscht. Dafür müsste man Zugeständnisse in Bezug auf die eigene Unfehlbarkeit machen, durch die man nur eine Schwächung der Machtstellung der politischen Führung befürchtet. 

Die Kulturrevolution und ihre Folgen sind deswegen noch lange nicht abwesend in den Werken der chinesischen Filmemacher und -macherinnen. (Es sei hier nur kurz erwähnt, dass der Beruf in China noch in einer großer Mehrzahl von Männern ausgeübt wird.) Die Auseinandersetzung damit aber unterscheidet sich zwischen der fünften und der sechsten Generation. Zhang Yimou (*1951) genauso wie Chen Kaige (*1952) und Feng Xiaogang (*1958), die zur ersteren gezählt werden, haben einige Filme gedreht, die man einem märchenhaften Symbolismus zuordnen könnte. Da sind bei Zhang beispielsweise Der Baum der Helden (2010), bei Chen Xiaos Weg (2002), bei Feng Afterschock (2010) — Werke, die ihre Geschichten vordergründig realistisch erzählen, aber derart ins Sentimentale und Überhöhte greifen, dass sie den Charakter von heroisierenden Melodramen erhalten. 

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Die äußeren Verhältnisse, in denen die jeweiligen Protagonisten leben, sind zwar hart, doch in sich selbst finden sie immer die Stärke, sich ihnen anzupassen. Es geht nie um einen Kampf gegen die Verhältnisse, auch bekommt „das System“ nie ein Gesicht. Stattdessen zeigen die Filme Figuren, die ausharren, ihre Situation nicht intellektuell reflektieren, sondern fleißig und arbeitsam „nützliche“ Mitglieder eines Ganzes sein wollen: wie die junge Frau in Der Baum der Helden, deren Vater im Umerziehungslager ist und die sie sich als Lehrerin daher keine Fehler erlauben darf, wozu auch die Liebesbeziehung zu einem jungen Mann gehören würde. 

 

Chinas Selbstbild

Schaut man auf das Repertoire der drei Regisseure, fällt auf, dass die bereits erwähnten Historien-Kampfkunst-Epen den größten Teil ihrer Filmografie ausmachen. Darin erzählen sie vom kaiserzeitlichen China, von häufigen Streitigkeiten zwischen wehrhaften Teilreichen und von Helden, die für deren Fortbestand ihr Leben gaben. Die Geschichten verarbeiten Eigenschaften und Tugenden des chinesischen Volkes, die man noch heute mit den Plänen und dem Ehrgeiz einer Weltmacht vereinbaren kann. 

Es ist daher nicht erstaunlich, dass diese Filme ihre Finanzierung finden. Ab 1979 fiel die alleinige Produktion von Filmen durch den Staat weg, der sie vorher offen zur Propaganda nutzte. Plötzlich fand man sich auf dem „freien“ Markt wieder und musste Geldgeber suchen. Durch die doch weiterhin präsente Kontrolle des Staates über die Zensur ist eine Anpassung an seine Vorstellungen unumgänglich. Und der Staat bleibt der größte Finanzierungspartner. Dies ist bei Zhang, Chen und Xiaogang unübersehbar. Deswegen sind sie auch nicht die eigentlich interessanten Positionen aus unserer, das heißt westlichen Sicht. 

Dennoch haben sie, und tun es immer noch, das Bild des chinesischen Films international beeinflusst. Wenn es nach der chinesischen Regierung ginge, wären sie es auch, die vor allem exportiert würden. Dass wie im Falle von Zhangs Eine Sekunde die Zensur eingegriffen haben soll, könnte an einem gewissen Automatismus gegenüber allen Werken liegen, die ins Ausland gehen sollen. Aber eben auch am Wunsch, andere Genres vorzuziehen.

 

Propaganda

Es ist im übrigen Chen, der für den Film verantwortlich zeichnet, der zu absoluten Rekordbesucherzahlen in China geführt und umgerechnet 909 Millionen Euro eingenommen hat: The Battle at Lake Changjin. Man ist sich darüber einig, dass dieser Film, der den Koreakrieg aus Sicht Chinas neu interpretiert, reine Propaganda ist. Kurios ist, dass als Co-Regisseure Größen wie Tsui Hark und Dante Lam aus der Hong Konger Filmindustrie mitgewirkt haben, da sich beide Filmkulturen traditionell eigentlich voneinander fernhielten. 

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Gegen den Verleih und die Verbreitung solcher Filme sollten wir uns vorsehen. Filme, die versuchen, die Geschichte zugunsten ihrer Produktionsländer neu zu schreiben, sind auch außerhalb Chinas nicht unbekannt – die USA machen es seit Jahrzehnten vor. Ob sie aber eine Plattform erhalten sollten, ist zu debattieren. 

Nun muss man dazu sagen, dass dieser Film in erster Linie für das Inlandspublikum entstanden ist. Und man kann umgekehrt davon ausgehen, dass bei weitem nicht jeder Film aus China, den wir bei uns im Kino oder auf den Festivals sehen, im Inland Verbreitung findet. Welche Filme aus der Sicht der chinesischen Kulturpolitik zu welcher Kategorie gehören, ist von außen nur schwer festzustellen. 

 

Was schauen die Chinesen?

Zu den Filmen, die man als für das eigene Publikum geeignet ansieht, gehören Titel wie das Porträt eines über alle Zweifel erhabenen, altruistisch handelnden Mannes in Spring Follows Winter (2019) von Liu Jungfeng, die Familiengeschichten im Stil des poetischen Realismus Knife in Clear Water (2017) von Wang Xuebo, Looking Up (2019) von Deng Chao, Mountain Cry (2015) von Larry Yang oder die Komödie mit fantastischen Elementen The Island (2018) von Huang Bo. 

Gemeinsam haben diese Filme einen etwas märchenhaften Tonfall und vor allem die Konzentration auf das Private und Weglassen des Politischen. Letzteres ist ein entscheidendes Charakteristikum, das für alle Filme aus China gilt, die sich einer grundsätzlich realistischen Erzählung verpflichten. Dazu gehören auch fast alle Filme, die uns im Westen bekannt geworden sind und sich auf vielen großen Festivals wie Rotterdam, Cannes, Locarno und Berlin in den vergangenen Jahren gut behauptet haben. Das Märchenhafte allerdings haben diese Autoren abgestreift, sie verzichten auf eine Stilisierung der Bildsprache. 

 

Die Stadt als Moloch

Die Vertreter der sechsten Generation sind Filmemacher und Filmemacherinnen, die frühestens Ende der 1960er Jahre geboren wurden. Sie haben eine ausgesprochen pessimistische Sicht auf ihr Land. In ihren Filmen, bei denen man von hartem Realismus sprechen kann, überfällt die Protagonisten – und damit meist auch die Zuschauer – oft eine schmerzhafte Hoffnungslosigkeit. Perspektiven für die Zukunft malen sich die Menschen erst gar nicht mehr aus. Sie sind zu sehr mit der Anpassung an ihre Lebensumstände beschäftigt. 

Diese sind sowohl in der Stadt wie auch auf dem Land gleich schwierig. Die Städte werden immer als gesichtslose Moloche inszeniert, die die Zeichen des rasanten Wirtschaftsaufschwungs zeigen: rein äußerlich mit hohen, einfarbigen und normierten Hochhäusern und Wohnmaschinen, aber auch im Verhalten der Menschen gespiegelt, die an sozialer Bindung untereinander verlieren, ihre Ellenbogen nutzen, um sich durchzusetzen, sich teils am Rande der Legalität bewegen, sich in der Anonymität verlieren und vereinsamen.  

In Diao Yinans (*1969) Uniform (2001) muss ein junger Schneider für die hohen Krankenhauskosten seines Vaters aufkommen und lässt sich deswegen verführen, eine nicht abgeholte Polizeiuniform zu nutzen, um sich Gefälligkeiten und Bußgelder zu erschleichen. In Night Train (2007) wünscht sich eine Justizbeamtin nichts anderes als einen Partner und besucht deswegen so regelmäßig wie vergeblich Partnervermittlungstanzabende. In Feuerwerk am helllichten Tage (2014), Gewinner des Goldenen Bären der Berlinale, führen im ganzen Land verteilte Leichenteile zu einer scheinbar harmlosen Textilreinigungsangestellten, und in Der See der wilden Gänse (2019) hat ein Mitglied einer Gang an allen Fronten zu kämpfen.

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Trotz aller Härte des Erzählten und einer vielfach streng dokumentarischen äußeren Form, insbesondere wenn es um die Bildfindung und den Erzählrhythmus geht, haben Diaos Filme etwas Metaphorisches in sich. Das gilt auch für Werke wie Hu Bos (*1988) fast vierstündiges Gesellschaftsdrama An Elephant Sitting Still (2018), in dem das vage Versprechen auf die Sichtung eines weißen Elefanten im nahegelegenen Zoo die Figuren kurzzeitig von ihrer tristen Gegenwart ablenkt. Die Tatsache, dass Hu nach Beendigung seines ersten Langfilms sich mit 29 Jahren das Leben nahm, verstärkt die depressive Aura des Films im Rückblick. 

Diese und ähnliche Filme zeigen, wie bescheiden die materiellen Lebensbedingungen und vor allem die Wohnsituation meist sind. Das thematisiert auch Xin Zhu (*1996) in seinem Drama Vanishing Days (2019), in dem ein Mädchen versucht, der Enge der elterlichen Wohnung zu entkommen, und eine Alternative zum alles umgebenden Beton der Stadt findet. Guo Xiaolou (*1973) erzählt von der Diskrepanz zwischen Wunschvorstellung und Realität bei ihrer Protagonistin, die in She, a Chinese (2009) von der Provinz in die Stadt zieht, um dort ein vermeintlich besseres Leben führen zu können. Genauso naiv ist auch die Hauptfigur in Beijing Bicycle (2001) von Wang Xiaoshuai (*1966), die von einem auf dem freien Markt agierenden Fahrradkurierunternehmen ausgenutzt wird. 

 

Das Land als Hort der Armut

Der Konflikt zwischen Stadt und Land prägt viele Filme der vergangenen Jahre. Ausgesprochen wird dieser beispielsweise in Walking Past the Future (2017) von Li Ruijun (*1983), in dem eine junge Frau in der Stadt mit der Teilnahme an Medikamententests Geld verdient, während ihre Eltern zurück aufs Land kehren und vor dem Nichts stehen, weil ihnen in der Zwischenzeit ihr Grundstück enteignet wurde. Ein besseres Schicksal erleidet auch das ältere Ehepaar in Lis Film Return to Dust (2022) nicht, das von seiner Umgebung skrupellos ausgenommen wird. Um die vom Modernisierungsprozess Abgehängten in der Provinz geht es in vielen Filmen. Die Stadtflucht und die harte Realität der Rentabilität der Landwirtschaft im neuen Finanzsystem wird spürbar gemacht. 

Ein ähnliches Thema sind die Folgen der Schließung staatlicher Fabriken in der Provinz. Entstanden sind eindrückliche Porträts verwaister Nachbarschaften. In Winter Vacation (2010) von Li Hongqi (*1976), Gewinner des Goldenen Leoparden in Locarno, drohen ein paar übrig gebliebene Jugendliche in einer Provinzstadt des winterlichen Nordens vor lauter Langeweile zu sterben. Langweilig ist es auch meist den Protagonisten in Jia Zhangkes (*1970) Werken, so wie dem titelgebenden Helden Xiao Wu (oder Pickpocket) (1997), der als Alter-Ego des Regisseurs gilt und mehrfach (Platform, 2000, Unknown Pleasures, 2002, Still Life, 2006) in seinen Filmen vorkommt. 

Unter den Autoren der sechsten Generation ist Jia derjenige, der seine Kritik am ehesten historisch vertieft. In seinen Filmen findet sich meistens ein expliziter Bezug zur Vergangenheit, wobei er sich auf die Zeit nach der Kulturrevolution beschränkt. Der Regisseur hat auch eine Reihe an Dokumentarfilmen gedreht, mit denen er vor allem die Folgen des Baus des Drei-Schluchten-Talsperre und dessen massive soziale, ökologische und wirtschaftliche Folgen festhalten wollte.

 

Die Emanzipation des Individuums

Jia zeigt, wie die Öffnung Chinas gegenüber dem Westen das Land neu geprägt hat, wie Mode und Musik eine neue Generation hervorgebracht haben, die, bewusst oder unbewusst, mit dem Aufbruch der traditionellen Familienstrukturen beschäftigt ist. Dazu gehört eine gewisse Emanzipation des Individuums und damit auch der Frau sowie der Unwille, nur der Konventionen wegen in lebenslangen Ehen zu verharren, was Jia in Mountains May Depart (2015) oder in Asche ist reines Weiß (2018) auf ganz eigene, eindrückliche Weise verarbeitet. Andere Beispiele sind Someone to Talk to (2016) von Liu Yulin (*1987) oder The Bargain (2021) von Wang Qi (*1988), in denen es ebenfalls um Scheidung und Ehebruch geht.

Von alternativen Familienmodellen erzählen einige Filme der vergangenen Jahre. Ein wichtiges Thema ist dabei unter anderem die Ein-Kind-Politik unter Mao, die für tiefgreifende Traumata sorgte, wie sie Wang Xiaoshuai in In Love We Trust (2007) und Bis dann, mein Sohn (2019) aufgreift. 

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Die aktuellen Autorenfilme aus China sind nicht offen politisch, aber dennoch implizit, indem sie die Realität in ihrem Land ungeschönt zu reflektieren versuchen, was in einem Land mit starker Zensur an sich schon eine politische Stellungnahme bedeutet. Sie beschreiben eine wenig solidarische, harte und depressive Gesellschaft, die so ist, weil sie zweifelsohne Wunden der jüngeren Vergangenheit leckt und unaufhaltsam in die Richtung einer vermeintlichen Selbstoptimierung steuert, der bei weitem nicht alle gewachsen sein werden.

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