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Kunst im Kino: Mit Tanz und Malerei aus der Krise

Ein Beitrag von Katrin Doerksen

Von wegen, Kino in der Krise. Zu Tausenden strömen die Leute an die Ticketschalter, um bei Cola und Popcorn live übertragene Opern, Ballett und Konzerte zu sehen oder virtuell durch die großen Museen der Welt zu spazieren. Bleibt dabei der Film auf der Strecke?

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David Hockney

Im Dezember 2012 wollten in Großbritannien mehr Menschen die Aufführung des Royal Ballet von Tschaikowskis Der Nussknacker live im Kino sehen als James Bond 007 — Skyfall. Und das ist noch längst nicht alles. Diesen Januar startet die mittlerweile fünfte Staffel der Filmreihe Exhibition On Screen in den deutschen Kinos – Filme, die es auch über eine große Entfernung hinweg möglich machen, die neuste Ausstellung in der National Gallery oder der Royal Academy of Arts anzusehen.

Die drei neuen Filme der Serie – diesmal geht es um David Hockney, Paul Cézanne und Canaletto – sind später im Fernsehen zu sehen, im Streaming oder als DVD zu haben. Aber gemacht sind sie fürs Kino. Man muss nur in die Programme der Multiplexe schauen, die der Yorck-Gruppe und zahlreicher Arthauskinos: dort finden sich neben den aktuellen Kinostarts nicht nur die Exhibition-On-Screen-Filme, sondern auch Live-Übertragungen aus den großen Theatern der Welt, von Ballettbühnen, aus Opernhäusern und Konzertsälen. Diese Events – zum Mehrfachen eines Kinotickets, doch zum Bruchteil einer Theaterkarte – haben sich als gutes Geschäftsmodell für ständig vom Existenz-Aus bedrohte Lichtspielhäuser etabliert. Sie locken Zuschauer auch unter der Woche vermehrt an, wenn sonst die Säle leer blieben, und steigern nicht zuletzt das Prestige des Hauses. Exhibition On Screen gibt auf der eigenen Website an, bisher Filme in über 50 Ländern zu zeigen und insgesamt mehr als eine Million Tickets verkauft zu haben.

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[Clip aus Der Nussknacker — Schneeflocken-Walzer (The Royal Ballet)]

Aber warum genau hat dieses sogenannte Eventkino einen derartigen Erfolg? Fungiert es lediglich als Ersatz für immobile Kulturinteressierte nach dem Motto: Besser als gar keine Oper? Oder ist es der unmittelbaren Theatererfahrung vorzuziehen? Ist die Frage, an welchem Ort man eine Aufführung sieht, letztlich vielleicht eine Frage der Wertschätzung der Künste? Dächte man sie noch in Hierarchien, läge schließlich der Schluss nah, dass sie alle im Ansehen gesunken sind: für die Oper ist jetzt das Kino gut genug und Filme kann man dafür zuhause auf dem Laptop schauen.

Die Idee jedenfalls, via Live-Übertragung ein größeres Publikum zu erreichen, ist in den Künsten nichts Neues. Im Januar 1910 sendete die New Yorker Metropolitan Opera erstmals Teile von Tosca und I Pagliacci im Radio. Seither wird stetig an Radio- und TV-Übertragungstechnik gefeilt, Mitschnitte erscheinen auf DVD und Blu-Ray und seit einigen Jahren sind Livestreams eben auch im Kino zu sehen. Über die Jahre professionalisierten sich diese Versuche zunehmend, passten sich an aktuelle Sehgewohnheiten an, wenn sie sich in den meisten Fällen auch noch nicht im großen Stil rentierten. Diese Veränderungen lassen sich auch an den Exhibition-on-Screen-Filmen nachvollziehen. Die ersten Episoden der Reihe erinnern noch an Bildungsfernsehen: etwas steif, etwas statisch. Experten stehen beschreibend und analysierend vor Gemälden, es wird viel erklärt. Bei den neueren Filmen ist die Bildqualität deutlich besser. Sie haben mit konventionellen Dokumentarfilmen über Künstler kaum etwas zu tun, erzählen in der Regel kein komplettes Leben nach und graben auch nicht viel Archivmaterial aus. Stattdessen dient eine Ausstellung als roter Faden: die Arbeiten darin werden genau betrachtet, Experten ordnen sie in einen größeren kunsthistorischen Kontext ein und bieten Interpretationen an. Die Filme fühlen sich an, als laufe man in Anwesenheit des Künstlers durch eine Ausstellung – nur ohne die Drängelei oder ein kaputtes Mikrofon. An erster Stelle steht das Erleben.

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[Trailer zu David Hockney at the Royal Academy]

Oder, um das eigentliche Schlagwort zu benutzen: die Immersion. Während der opening credits von Fight Club kann ich durch Synapsen, das Nervensystem und Fettgewebe fahren und über eine Pore aus Edward Nortons Kopf austreten, kann also in eine künstliche Welt eintauchen, ohne dabei an räumliche Grenzen gebunden zu sein wie noch im Theater. Virtuelle Realität treibt die Immersion sogar noch weiter und das Bewusstsein soweit in den Hintergrund, dass die virtuelle Umgebung sich real anfühlt. Ich muss nicht einmal nur passiv im Sessel sitzen, kann sogar interagieren, meinen Körper und seine Grenzen vergessen. Halleluja! Wer wollte nicht so einen aktiven Konsumenten in diesen Zeiten, in denen die weltpolitische Lage einen manchmal glauben macht, der Biedermeier sei eigentlich eine ziemlich gute Idee? Die entscheidende Frage dabei ist, ob der im Eventkino erreichte Grad an Immersion wirklich für mehr (Hirn)aktivität beim Zuschauer sorgt. Beispiel Exhibition On Screen: Die neuen Filme der Reihe drängen zugunsten des dynamischen Kinofeelings oftmals die tiefgründigeren Fakten und Analysen an den Rand, die Interpretationen der Experten fallen manchmal oberflächlich aus. David Hockney zu unterstellen, es gehe ihm bei seinen Portraits in erster Linie um die Individualität der Abgebildeten, grenzt an eine Beleidigung. Und auch an den Übertragungen aus der Oper wird Kritik laut: es besteht der Verdacht, die Operninszenierungen richteten sich heute in erster Linie nach den Bedürfnissen der Kameraleute, die Solisten würden zu sehr nach Kinotauglichkeit ausgewählt.

Dabei steht das Geschäftsmodell mit den Übertragungen noch immer auf unsicheren Beinen, es könnte den Opernhäusern sogar noch mehr Publikum abspenstig machen. Die niedrigeren Ticketpreise lassen das Kino schließlich attraktiver erscheinen als die Oper und wo es Streams gibt, findet das Material leicht seinen Weg zu YouTube oder illegalen Plattformen. Tatsächlich bestätigte eine 2014 in Großbritannien durchgeführte Studie, dass das Publikum im Kino sich nicht aus anderen Altersgruppen und sozialen Schichten zusammensetzt als im Theater. Außerdem fühlten 85% der Kinozuschauer nicht gerade das dringende Bedürfnis, nun auch einer Aufführung live beizuwohnen. Andererseits: das Publikum ist heute allein durch den Umstand schon deutlich aktiver, dass es selbst entscheiden kann, was es wann, wo und wie schaut. Bietet ein Film zum Beispiel keine Action, visuelles Spektakel, bahnbrechende Effekte oder einen irren Sound, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass es das Heimkino dem großen Saal vorzieht, schon angesichts gestiegener Ticketpreise. Wenn das Kino also in einer seiner vielbeschworenen Krisen steckt, dann wohl in einer Identitätskrise. Es verändert sich stetig mit seinen Zuschauern: in den ersten Jahren kamen die Leute nicht zuletzt, weil sie die neuartigen Maschinen sehen wollten. Im Grunde ist das Kino ständig in der Identitätskrise, muss sich immer wieder neu definieren.

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[Trailer zur Saison 2017-18 (Metropolitan Opera)]

Die Leute in der britischen Studie von 2014 hielten jedenfalls fest: das Kino ermögliche es, die Oper als völlig neue Kunstform zu erleben. Sogar das Publikum der MET versammelt sich in den Pausen inzwischen vor aufgestellten Bildschirmen: denn die Umbauten werden mit Blicken hinter die Kulissen überbrückt, Interviews mit Stars und der Crew geführt. Ins Kino werden schon vor Beginn der Aufführung die Geräusche, das Ambiente im Zuschauerraum, angespanntes Gemurmel übertragen. Aber das eigentliche Ereignis ist natürlich die Darbietung selbst. In einem Übertragungswagen laufen Aufnahmen von bis zu dreizehn Kameras zusammen: verschiedene Einstellungen, Bildausschnitte, Perspektiven, Kamerafahrten. Und, immer wieder hoch gelobt: Großaufnahmen der Stars. So nah, dass man Schweißtropfen erzittern, Tränen fallen sieht. Nicht umsonst ist bei der Opernübertragung ins Kino immer wieder vom besten Platz im Haus die Rede.

Die Filme der Exhibition-On-Screen-Reihe können mit nicht ganz so spektakulären Bildern aufwarten, Schnitt und Kameraarbeit sind hier aber ebenfalls wichtig: die Kamera lässt den Blick durch die Ausstellungsräume schweifen, konzentriert sich in starren Einstellungen auf einzelne Bilder und Tableaus, kann durch den Schnitt Zusammenhänge zwischen Werken herstellen, die vor Ort vielleicht nicht aufgefallen wären. In den schönsten Momenten geht aber auch hier die Kamera ganz nah heran: Details, einzelne Pinselstriche werden dann sichtbar, manchmal Fingerabdrücke des Künstlers in der nassen Farbe, Infrarotaufnahmen offenbaren die Bleistiftzeichnungen und Korrekturen unter der sichtbaren Oberfläche. Diese Detailaufnahmen machen das Performative der Malerei sichtbar – den Entstehungsprozess, die Methoden und Denkweisen des Künstlers, wenn die Meisten von ihnen auch nicht mehr selbst zu Wort kommen können wie David Hockney. Die Kamera simuliert aber auch ziemlich akkurat die Wahrnehmung des Besuchers in einer Ausstellung, der sich einen Überblick über die Räume verschafft, ab und zu näher an ein Bild herantritt. Vielleicht sehen wir hier der Aufwertung des Mediums Films selbst zu: auf seine Konventionen und Sehgewohnheiten können sich scheinbar alle zuerst einigen.

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[Clip aus Calanetto and the Art of Venice]

Nehmen wir die Beziehung zwischen Film und Malerei: man muss wohl von zwei Polen sprechen, die ständig miteinander interagieren, sich ergänzen, in Frage stellen, Grenzen überschreiten. Jan Vermeer gilt als Vorvater der Fotografie, benutzte für seine Gemälde wahrscheinlich eine camera obscura. In seinem wohl berühmtesten Portrait, Das Mädchen mit dem Perlenohrring, „setzt“ er das Licht so dramatisch wie später in Großaufnahmen von Hollywoodstars. Seinen Bildern gibt das eine fast narrative Qualität. Man fragt sich: Was ist die Geschichte dieses Mädchens? Dabei muss man sich im Grunde bei allen Bildern fragen: Was liegt außerhalb des Rahmens? Was wurde willentlich weggelassen? Oder bei Filmen: Was liegt außerhalb der Kadrage? Was wurde geschnitten? Was sehe ich wirklich und was nehme ich auf Grundlage des Gesehenen nur an? Peter Webbers Film Das Mädchen mit dem Perlenohrring beschäftigte sich 2003 mit all diesen Fragen. Viele bezichtigten ihn der Langeweile. Aber wie das natürliche Licht darin diffus durch beschlagene Fenster fällt, wie Scarlett Johansson in ihrer Rolle der Hausmagd Grit darüber spricht, aus welchen Farben sich die Wolken zusammensetzen – das bekommt mehr von der Essenz Vermeers zu fassen als jeder raffinierte Plot es könnte.

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[Clip aus Das Mädchen mit dem Perlenohrring]

Neue Arten des Reisens wie der Zug, aber auch die Wissenschaften veränderten im 19. Jahrhundert den Blick auf die Welt und damit auch die Malerei. Panoramen, fragmentarische Skizzen, Szenen des alltäglichen Lebens – diese neuen Motive wurden später mit der beweglichen Kamera, der Montage weiterentwickelt. Andersherum reichert die Malerei den Film an. Man denke an das Rotoskopie-Verfahren. Oder an den gerade erschienenen Loving Vincent, den einzigen Film, der komplett aus Ölgemälden besteht. Schauspieler wurden dafür in Kulissen und vor Greenscreens aufgenommen – als Grundlage für 125 Künstler, die jeden Frame im Stil Vincent van Goghs malten. Die 65.000 Bilder wurden anschließend hochauflösend abfotografiert und aneinander montiert. Hier verschwimmen die Grenzen nun vollkommen: betrachten wir noch Gemälde, einen Film, digitale Fotografien? Alles gleichzeitig?

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[Behind the Scenes von Loving Vincent]

Das digitale Bild wird nicht mehr fotografisch aufgenommen – es wird durch Algorithmen erzeugt. Wir mögen zwar noch in alten Strukturen denken, glauben in Gollum einen Schauspieler zu sehen. Aber eigentlich sehen wir Body-Doubles, Motion Capturing, Pixel — eine Melange von einem Bild. Einen Frame, in dem am Computer jedes Einzelteil komponiert wurde wie einst in einem Gemälde. Und doch: obwohl es in seiner Beschaffenheit so radikal anders ist, imitiert das digitale Bild den Film. Lensflares funkeln, als falle Sonnenlicht in einem bestimmten Winkel auf die Linse, und in der Postproduktion wird das Material in kleinteiliger Handarbeit so bearbeitet, dass es den Look bestimmter Filmemulsionen annimmt. Denken wir also Realismus, dann denken wir nicht mehr an die Realität, wir denken an die Konventionen der fotografischen Aufnahme. Der Film ist unsere experimentelle Wissenschaft – und das Kino sein Labor.

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