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Klischee, Komik, Hochbegabung: Autismus in Film und Serien

Ein Beitrag von Teresa Vena

Anlässlich des Kinostarts des deutschen Dramas „Zwischen uns“, in dem ein autistischer Junge im Mittelpunkt steht, werfen wir einen Blick auf die Darstellung von Autismus in der jüngeren internationalen Film- und Serienproduktion. 

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The Innocents / Mary & Max / Zwischen uns
The Innocents / Mary & Max / Zwischen uns

Er hat einen Ohrenschutz auf dem Kopf, übt anhand von aufgemalten Smileys menschliche Emotionen wie „traurig“, „fröhlich“ und „wütend“ zu erkennen und will auf seine Fragen immer sofort eine Antwort, sonst wird er ungeduldig. Das sind nur einige der Verhaltensmuster, die Felix, der Protagonist von Max Feys Familiendrama „Zwischen uns“ kennzeichnen. Das muss „Asperger“ sein, darüber ist man sich bereits im Klaren, bevor es in der Geschichte offiziell bestätigt wird. 

Dass man die Merkmale sofort einordnen kann, liegt daran, dass man ihnen im gesellschaftlichen Diskurs in den vergangenen Jahren auffällig oft begegnet. Autismus ist ein eher junges Krankheitsbild und betrifft ungefähr ein Prozent aller Menschen weltweit. Er hat verschiedene Formen, entwickelt sich im frühen Kindesalter, die Symptome und der Schweregrad variieren, weswegen man auch von einem Autismus-Spektrum spricht. Die bekannteste Unterform ist das Asperger-Syndrom, es ist aber im Verhältnis eine milde Einschränkung.

Auch wenn die Medizin bereits in den 1930er und 1940er Jahren darüber diskutierte: Ins bereitere öffentliche Bewusstsein ist Autismus viel später getreten. Noch länger dauerte es beim Asperger-Syndrom, das ungefähr 20 Prozent aller als autistisch eingestuften Menschen betrifft. Menschen mit Asperger sind in der Regel fähig, selbstständig zu leben, und leiden nicht an einer reduzierten Intelligenzentwicklung wie andere Autisten. Seit ungefähr 1990 überschlägt sich die Forschung mit neuen Erkenntnissen, und damit ist das Bedürfnis gewachsen, sich auch in der Populärkultur damit zu beschäftigen. 

In der jüngsten Entwicklung des Spiel- und Dokumentarfilms lässt sich eine regelrechte Faszination für diesen menschlichen Zustand feststellen. Anders als bei psychischen Krankheiten wie Schizophrenie oder biopolarer Störung wird Autismus nie genutzt, um Betroffene als Gefahr für ihre Umwelt oder als Bösewichte zu zeichnen. Sie sind entweder Opfer, exzentrische Außenseiter oder Menschen, die zu Helden mutieren und sich damit einen Platz in der ihnen gegenüber sonst misstrauisch gestimmten oder abweisenden Gesellschaft erobern. In einzelnen Fällen dienen sie auch der allgemeinen Belustigung. 

 

Asperger-Syndrom

Meist konzentrieren sich Filmstoffe auf das Asperger-Syndrom, so wie etwa in Zwischen uns. Felix trägt einen Kopfhörer, weil er besonders lärmempfindlich ist. Er kann die Emotionen der anderen oft nicht gut lesen, deswegen braucht er eine visuelle Hilfe. Wird seine Routine gestört, neigt er zu jähzornigen Ausbrüchen, die sich in Geschrei oder auch in unkontrollierte Gewaltmanifestationen übersetzen. Das sind einige der Symptome, die dem echten Krankheitsbild entsprechen. Felix hat zudem die Tendenz, sich in sich selbst zurückzuziehen. Ausdrücken kann er sich vor allem in seinen Zeichnungen. 

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Die Inselbegabung

Die Vorstellung, alle Autist*innen besäßen eine Inselbegabung, ist sehr beliebt, auch wenn es in der Realität nur auf einen kleinen Teil zutrifft. Zu den berühmtesten fiktionalen Beispielen gehört die Sheldon-Figur in der Serie The Big Bang Theory (2007-2019) und dem Spin-off Young Sheldon (seit 2017), die für Physik hochbegabt ist. In der Krankenhausserie The Good Doctor (seit 2017), einer US-amerikanischen Bearbeitung des südkoreanischen Originals (2013), ist die Hauptfigur autistisch, aber ein Genie in Bezug auf Diagnostik und chirurgische Medizin. In der deutschen Serie Ella Schön (2018-2022) spielt Annette Frier eine autistische Anwältin. Die Kommissarin Saga Norén hat in der schwedisch-dänischen Kriminalserie Die Brücke (2011-2018) besondere analytische Fähigkeiten. Und schon in einem der frühsten Filme, die sich mit dem Stoff beschäftigen, Rain Man (1988) von Barry Levinson, hat der Protagonist, gespielt von Dustin Hoffmann, ein Talent für Zahlen. Er kann selbst die schwierigsten mathematischen Gleichungen im Kopf im Bruchteil von Sekunden lösen. Zudem hat er ein phänomenales Gedächtnis. 

Alle diese Figuren bekommen innerhalb der erzählten Geschichte eine wichtige Funktion. Sie machen sich nützlich. Ihre Begabung überwiegt ihre durch den Autismus verursachten Einschränkungen und rehabilitiert sie auf diese Weise. Ihre Macken, ihre „anormales“ Verhalten, lässt sich dadurch gesellschaftlich besser „aushalten“. Diese Sichtweise ist ein Spiegel der Werte unserer leistungsorientierten Gesellschaften. Im Übrigen spricht man passend dazu auch von „hochfunktionalen Autist*innen“, wozu Träger des Asperger-Syndroms, aber auch andere Autist*innen gehören. Um es weniger kritisch zu sehen, fasziniert die Menschen das Genie-Phänomen an sich seit jeher. Hochbegabte und damit außergewöhnliche Menschen werden bewundert, manchmal beneidet, manchmal bemitleidet, aber auf jeden Fall gaben sie schon immer die besten Helden und Heldinnen ab. 

 

Autistische Kinder 

Bei allen erwähnten Beispielen fällt auf, dass die autistischen Personen fast immer Erwachsene sind. Sie werden wegen ihres Verhaltens aber oft als solche von ihrem Umfeld nicht ernst genommen und wie Kinder behandelt. Die motorischen Macken, in der Regel ein trippelnder Gang, das Schiefhalten des Kopfes, das bemühte Vermeiden von Augenkontakt oder die Tendenz, mit den Armen zu wedeln, die fast jedem Protagonisten zugeordnet werden und meist auch dem realen Krankheitsbild entsprechen, unterstützen dieses Gefühl. 

Der Junge aus Zwischen uns ist eine Ausnahme, andere sind das Mädchen aus dem Autoren-Horrorfilm The Innocents (2021) des Norwegers Eskil Vogt oder der junge Mann in der südkoreanischen Serie Move to Heaven (2021). Sie alle haben auch eine besondere Begabung. Zwischen uns hebt sich von den anderen Werken insofern ab, als dass die Fähigkeit, gut zeichnen zu können, im Fall von Felix Selbstzweck ist. Im Vergleich dazu hat Anna in The Innocents telekinesische Kräfte, die entscheidend für den Ausgang der Handlung sind. Geu-ru arbeitet in Move to Heaven als Tatortreiniger und schafft es, durch seine besondere Assoziationsgabe und sein überdurchschnittlich gutes Gedächtnis im Nachlass der Menschen Hinweise zu finden, die auf ihr Leben schließen lassen. Er trägt dazu bei, dass unerfüllten Wünschen der Verstorbenen im Nachhinein doch noch entsprochen werden kann. 

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Eine Form von Autismus, wie sie in The Innocents dargestellt wird, ist sonst eher selten im Film zu sehen. Natürlich passt es hier zur fantastischen und märchenhaft-magischen Seite des Thrillers, dass die Protagonistin so undurchschaubar ist und sich nicht mitteilen kann. An sich ist aber diese schwere Variante der Kommunikationsunfähigkeit und Sprachstörung wichtiger Bestandteil von Autismus. In einigen Dokumentarfilmen, die in den vergangenen Jahren entstanden sind, bekommt man ein Bild davon. Eindrücklich zeigt es sich beispielsweise in Kommunion (2016) der Polin Anna Zamecka und nochmals gesteigert in Pénélope, my love (2021) der Französin Claire Doyon. Gerade Letzterer bricht mit der etwas romantischen Vorstellung, der man insgesamt durch die fiktive Bearbeitung des Stoffes über Autismus zu erliegen Gefahr läuft. 

 

Kommunikationsstörung

Recht realistisch ist die Sprach- und Kommunikationsstörung bei Autist*innen in Gilbert Grape (1994) von Lasse Hallström thematisiert. Der 17-jährige Arnie, gespielt von Leonardo DiCaprio, lacht viel, wiederholt Sätze und Wörter, äfft andere nach. Ähnlichkeit hat sein Verhalten mit der Tourette-Krankheit, die wissenschaftlich als eine der Nebenerscheinungen von Autismus gilt. Auch in Gilbert Grape handelt es sich aber insgesamt um eine relativ milde Form von Autismus. Motive, wie Dinge zu wiederholen oder beispielsweise auch Redewendungen und Metaphern wörtlich zu nehmen, waren bereits in Rain Man vorhanden. Hier werden sie schon fast als komisches Mittel genutzt. Auch die Direktheit und besonders die Ehrlichkeit, die Autist*innen im Film zugesprochen wird, sorgt oft für humoristische Szenen. 

Das ist beispielsweise in Snow Cake (2006) von Marc Evans so, wenn die Protagonistin, gespielt von Sigourney Weaver, ihrem Besuch unverblümt ins Gesicht sagt, dass ihn seine Brille unattraktiv mache oder die Torte der Nachbarin ungenießbar sei. Ähnlich verhält es sich im Bollywood-Film My Name is Khan (2010) von Karan Johar, in dem Shah Rukh Khan als Kosmetikvertreter arbeiten muss und gesteht, dass die Produkte im Grunde unbrauchbar seien. Der titelgebende Khan ist ebenfalls explizit ein Träger des Asperger-Syndroms, während es bei Snow Cake ungeklärt bleibt. 

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Emotionen zeigen

Was die beiden Figuren gemeinsam haben, ist, dass sie von anderen als gefühlskalt wahrgenommen werden. Es ist bei weitem nicht so, dass Autist*innen im Allgemeinen keine Emotionen zeigen können, vielen fällt es aber tatsächlich schwer. Oft weinen sie aber „innerlich“, wie es der Protagonist aus dem Animationsfilm Mary & Max (2009) von Adam Elliot sagt. Der titelgebende Max hat Asperger. Überhaupt ist der Film eine der eindrücklichsten und souveränsten künstlerischen Umsetzungen des Themas. Das schafft Zwischen uns in Teilen auch, doch ist der Film stellenweise arg sentimental und konzentriert sich vielmehr auf die Perspektive der Mutter des Jungen als auf den Jungen selbst. In Mary & Max also, einer Knetfigurenanimation, in der Toni Collette die Stimme von Mary und Philip Seymour Hoffmann die von Max spricht, wird wenig beschönigt.

Max ist überempfindlich gegenüber Lärm, Gerüchen, Helligkeit. Er missversteht Fremdwörter, will alles immer ganz genau wissen, ist oft taktlos und unhöflich, was aber einfach nur „ehrlich“ heißt. Die Figur ist außergewöhnlich differenziert gezeichnet. Zu den genannten Attributen kommt noch sein ausgesprochener Sinn für Ordnung, sein Bedürfnis nach strenger Routine und das Vorhandensein verschiedener Zwangs- und Angstneurosen. In dieser Weise gesammelt sind diese Eigenschaften bisher in keinem fiktionalen Charakter dargestellt worden.

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Angst- und Zwangsneurosen

Üblich ist allerdings die Darstellung von Angst- und Zwangsneurosen. Ella Schön in der gleichnamigen Serie muss die Dinge auf ihrem Schreibtisch präzise anordnen, genauso das Gemüse auf ihrer Brotscheibe. Khan im Bollywood-Film dreht durch, wenn er etwas Gelbes sieht. Beim jungen Chirurgen in The Good Doctor muss die Toilettenpapierrolle immer in die gleiche Richtung zeigen. Und bei Linda in Snow Cake darf man nicht mit Straßenschuhen ins Haus treten. Hier zeigt sich eine andere Ausnahme: Weibliche autistische Protagonistinnen sind weit seltener als männliche. Dies liegt vermutlich am alten, leidigen Thema, dass an sich Charakterrollen für Frauen weniger häufig sind als für Männer, doch man sollte auch erwähnen, dass Autismus dreimal so häufig beim männlichen Geschlecht als beim weiblichen vorkommt. 

Weniger die Angst-, aber dafür umso mehr die Zwangsneurosen gehören zu den Motiven, die oft einen Stoff ins Komische ziehen. Sie sind sowieso, auch außerhalb des Autismus-Themas, ein beliebtes Mittel der Komödie oder Satire, man denke zum Beispiel an die Figur des Privatdetektivs Monk in der gleichnamigen Serie (2002-2009) oder auch an den Protagonisten in Die Eisbombe (2008) von Oliver Jahn, der aus Angst vor Regen an Häuserfassaden entlangschleicht und dabei laut singen muss. 

Wenn ihr Verhalten also eher belächelt wird, so sieht man doch oft bewundernd auf die Hartnäckigkeit, die vielen Autist*innen im Film zugesprochen wird. Diese Hartnäckigkeit zeigt Cho-won, der sich im südkoreanischen Film Marathon (2005) von Jeong Yoon-cheol in den Kopf setzt, an einem Marathon teilnehmen zu wollen, und dafür trainiert. Oder die Figur des Jarrod in Eagle vs Shark (2007), dem Coming-of-age-Meisterwerk von Taika Waititi, der versessen trainiert, um an dem Mann Rache zu nehmen, der ihn einst in der Schule drangsaliert hat. Jarrod ist in der Geschichte nicht ausdrücklich als autistisch bezeichnet, doch könnte man ihn dafür halten. Vielleicht ist er einfach nur anders, ungehobelt zwar, wenn man unsere gängigen Maßstäbe ansetzt, aber auch äußerst wohltuend ehrlich. 

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