zurück zur Übersicht
Features

Happy End für Bollywood?

Ein Beitrag von Dennis Basaldella

Meinungen

In dieser Woche kehrt das Bollywood-Traumpaar Shah Rukh Khan und Kajol zurück auf die Leinwand und knüpft mit Dilwale genau an den Film an, der sie 1995 zu Filmstars gemacht hat. Ein guter Grund sich die Bollywood-Industrie genauer anzuschauen.

Bollywood, das sich aus den Wörtern „Bombay“ und „Hollywood“ zusammensetzt, ist der in Hindi produzierte Part des indischen Kinos.Obwohl Bollywood oft als synonym für das indische Kino verwendet wird, handelt es sich dabei um einen zwar prominenten, aber eben nur einen Teil der indischen Kinoindustrie. Bei genauerer Betrachtung ist der Begriff sogar irreführend, denn er vernachlässigt die anderen Filmindustrien auf dem indischen Subkontinent: Filmindustrien wie z.B. „Kollywood“, das das tamilische Kino meint, „Tollywood“, das für das im südost-indischen Bundesstaat Andhra Pradesh ansässige Telugu Kino steht, und all die anderen regionalen Filmindustrien in diesem Land mit über 1 Milliarde Einwohnern und 22 Amtssprachen. Es ist daher genau dieser allgemein bekannte, aber doch irrtümlich verwendete Begriff, der dazu führt, dass Statistiken zum indischen Kino oft auch falsch gelesen werden. Es steht jedoch außer Frage, dass das indische Kino mit zu den stärksten Filmindustrien der Welt gehört, oder um es in Zahlen auszudrücken: Während Hollywood im Jahr 2014 707 Filme produziert hat, hat die indische Filmindustrie mit 1966 fast die doppelte Anzahl Filme in die Kinos gebracht.

Kino der Attraktionen

Doch Bollywood ist mehr als nur eine in Mumbai (Bombay) ansässige Hindi-Filmindustrie, die den größten Anteil an der Gesamtproduktion des indischen Kinos ausmacht. Bollywood ist auch ein Phänomen, das in den letzten Jahren zunehmend Deutschland erreicht und auch hier die Menschen fasziniert – und dabei ist es mehr als nur eine Ansammlung an Filmen.

Zunächst ist Bollywood dem Hollywood-Kino in Sachen production value ebenbürtig, wenn nicht sogar teils überlegen. Darüber hinaus haben die Bollywood-Filme mit ihrem exotischen Flair mit Hollywood – oder besser – mit dem „westlichen“ Kino und dessen Geschichte noch gemein, dass sie genau das sind, was der Filmwissenschaftler Tom Gunning in der Frühphase des Kinos gesehen hat: ein Kino der Attraktionen. Das frühe Kino, das aus den Vaudeville-Theatern und den Nickelodeons entstanden ist, zielte auf die Attraktion. Im Bollywood Kino sind der Tanz und die Show die zentralen Attraktionen. So haben die Kartentricks von Georges Méliès vor laufender Kamera und Die Serpentintänzerin (1895) von Max Skladanowsky mit den Tänzerinnen Bollywoods in ihren farbenfrohen Saris mehr gemein als es auf den ersten Moment den Anschein hat.

Externen Inhalt ansehen?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen ein externes Video von YouTube präsentieren. Dafür benötigen wir Ihre Zustimmung in die damit verbundene Datenverarbeitung. Details in unseren Angaben zum Datenschutz.

Zustimmen und ansehen


(Die Serpentintänzerin, 1895, von Max Skladanowsky)

Das Faszinierende dabei ist, dass die bunte Welt, die der Bollywood-Film vermittelt, im krassen Gegensatz zur harten und armen Lebenswelt eines großen Teils der indischen Kinobesucher steht. Trotzdem, oder gerade deswegen, ziehen die Filme so viele Menschen in die Säle. Ein sehr treffendes Zitat, das dieses beidseitige Versprechen zwischen Filmindustrie und Zuschauer nach einer besseren Welt beschreibt, stammt aus dem Film Om Shanti Om von Regisseurin Farah Khan aus dem Jahr 2007. Als dessen Hauptfigur Om Kapoor (Shah Rukh Khan) auf der Bühne steht und sich für einen Filmpreis bedankt, sagt er in seiner Rede:

„I feel like the king of the world! Thank you for making me believe that, just like in our films, in life too, finally in the end everything is okay. Happy Endings! And if it is not happy then it’s not ‘the end’ my friends. The film is not over yet!“


(Trailer zu Om Shanti Om von Farah Khan)

Und so steckt im Bollywood-Film ein wichtiger Aspekt der hinduistischen Kultur, und zwar der, dass am Ende, nach dem Leid, das jede Inkarnation mit sich bringt, alles gut wird. Der Satz spiegelt aber nicht nur die Hoffnung wider, die in Bollywood steckt, sondern verweist damit auch auf eine Kerneigenschaft des Narrativen, die sich nach dem Kino der Attraktionen auch bei uns entwickelt hat: die Möglichkeit der Flucht, zumindest für kurze Zeit, in eine andere Welt, weg vom Stress und den Problemen des Alltags.

Emotionale Meisterschaft

Es wäre aber unvollständig zu sagen, dass Bollywood nur eine Ansammlung von mélièschen Kartentricks wäre und keine Story dahintersteckt. Im Gegenteil, Bollywood ist quasi meisterhaft in Sachen Dramaturgie.

Es gehört wohl zu den prägnantesten Eigenschaften dieser Filme, dass sie die Zuschauer bei einer durchschnittlichen Filmdauer von drei Stunden durch alle emotionalen Höhen und Tiefen  und die Bandbreite der Gefühle führen, sodass am Ende kein Auge trocken bleibt. So kann ich mich noch gut an meinen ersten Bollywood Film erinnern: Kal Ho Naa Ho (2003) von Nikhil Advani mit Shah Rukh Khan, Saif Ali Khan und Preity Zinta. Ein Film, der mich in der ersten Hälfte auf die höchsten der Gefühle katapultiert hat, um mich dann in der zweiten Hälfte gnadenlos mit heulenden Augen aus dem Kinosaal zu schicken. Es ist mitunter auch dieses Kollektiverlebnis, also das gemeinsame Mitfiebern und die Möglichkeit, im Dunkel des Kinosaals den Gefühlen freien Lauf lassen zu können, das einen besonderen Reiz von Bollywood ausmacht.

Externen Inhalt ansehen?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen ein externes Video von YouTube präsentieren. Dafür benötigen wir Ihre Zustimmung in die damit verbundene Datenverarbeitung. Details in unseren Angaben zum Datenschutz.

Zustimmen und ansehen


(Trailer zu Kal Ho Naa Ho von Nikhil Advani)

Vielfalt der Genres

Auch in der Bandbreite der Genres steht der Bollywood-Film Hollywood in nichts nach. Mumbai produziert neben dem „klassischen“ Genre der Liebesgeschichte auch Science-Fiction-Filme, Komödien, Horrorfilme u.v.m. Während im westlichen Kino die Genres mehr oder weniger getrennt sind, ist es in der Bollywood-Industrie schon fast zum Markenzeichen geworden, dass in einem einzigen Film mehrere Genres hemmungslos miteinander vermischt und verbunden werden. Was auf den ersten Blick als vermeidlich unprofessionell oder gar kindisch gesehen werden kann, zeugt im Gegenteil von Beherrschung des Themas und ist durchaus Programm. Die Übergänge zwischen diesen Genrewelten sind fließend und der visuelle Genre-Mix ist ein fester Bestandteil. So ist es nichts Besonderes, wenn in Main Hoon Na (2004) Superstar Shah Rukh Khan, der sich in diesem Film als Soldat undercover in eine Schule einschleust, um dort die Tochter eines ranghohen Generals zu beschützen, in einer Szene noch mit der weiblichen Hauptdarstellerin flirtet und bereits im nächsten Moment auf einer brennenden Rikscha seinen Widersachern entkommt. Die Nähe zu Actionfilmen wie Matrix oder Mission: Impossible kommt da nicht von ungefähr.

Doch trotz aller Ähnlichkeiten zum Westen verfilmt die Bollywood-Industrie auch Stoffe, die als „typisch“ indisch gelten können und in der Form wohl auch von keiner anderen Filmindustrie verfilmt werden könnten. Der bereits genannte Om Shanti Om ist ein gutes Beispiel dafür. Im Film von Farah Khan spielt das Thema der Wiedergeburt eine große Rolle. Was im Grunde genommen keine besondere Sache ist, denn in vielen Hollywood Filmen kommt dieses Thema vor. Doch in Om Shanti Om ist das Thema so eng mit der Dramaturgie und vor allem mit dem Sinn der Geschichte verbunden, dass der Film auch nur in einem Land gemacht werden konnte, in dem die Wiedergeburt ein inhärenter Teil der Gesellschaft ist, so dass sich kein Zuschauer fragt, warum bestimmte Dinge im Film so passieren, wie sie passiert sind.

Ein anderes Beispiel für ein typisch indisches Thema ist Lagaan — Once upon a Time in India von 2001 mit Aamir Khan, der im darauffolgenden Jahr für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert war. Der Film spielt im Indien des späten 19. Jahrhunderts, als das Land noch vom britischen Empire besetzt ist. So schlägt der dort tätige Offizier der britischen Armee den Dorfbewohnern vor, ihnen für drei Jahre die Steuern zu erlassen, wenn sie die britischen Soldaten im Cricket schlagen können. Dabei verweist der Film nicht nur auf ein Kapitel der indischen Geschichte, sondern behandelt mit einem Cricket-Wettkampf ein für Indien typisches Thema, da diese Sportart in Indien den gleichen Stellenwert hat wie Fußball in Europa oder Baseball in den USA.

Externen Inhalt ansehen?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen ein externes Video von YouTube präsentieren. Dafür benötigen wir Ihre Zustimmung in die damit verbundene Datenverarbeitung. Details in unseren Angaben zum Datenschutz.

Zustimmen und ansehen


(Trailer zu Lagaan — Once upon a Time in India von Aamir Khan)

In den letzten Jahren hat sich zudem eine Tendenz fortgesetzt, die schon in den Anfängen des Bollywood-Kinos zu finden war und jetzt wieder in den Vordergrund tritt: die der kritischen Themen. Drei interessante Beispiele sind hier My Name Is Khan (2010) von Karan Johar, Kai Po Che! (2013) von Abhishek Kapoor und Highway (2014) von Imtiaz Ali.

My Name Is Khan behandelt den Generalverdacht, unter dem die Muslime nach 9/11 standen, und hat damit nicht nur in Indien Relevanz, sondern weltweit. Dabei hat der Film teils biographische Züge, denn Hauptdarsteller Shah Rukh Khan ist selbst Muslim.


(Trailer zu My Name Is Khan von Karan Johar)

Kai Po Che! erzählt von dem in gewalttätige Ausschreitungen mündenden und immer noch andauernden Konflikt zwischen Hindus und Muslime in Indien.

Highway, der 2014 auf der Berlinale lief, behandelt das Thema der Straßenkriminalität und der Zwangsheirat und macht dies auch ohne den Einsatz von Tanz- oder Showeinlagen.


(Trailer zu Highway von Imtiaz Ali)

Event und Stars

Zu der Themenauswahl und die für Bollywood fast schon typische visuelle Umsetzung kommen noch der Event-Charakter und der Starkult. Die Zelebration von Bollywood zeigt sich nicht nur in den mittlerweile immer mehr werdenden Bollywood-Partys und -Shows, sondern beginnt schon im Kinosaal. Ähnlich wie die Fan-Events bei großen Filmreihen wie Star Wars oder Zurück in die Zukunft, wird auch der ganz normale Gang ins Kino bei Bollywood Fans gefeiert. So ist es auch keine Seltenheit, dass die Zuschauer – in Indien und in Europa – bei den Songs mitsingen oder den ersten Auftritt der Schauspieler auf der Leinwand beklatschen. Wie z.B. auf der Berlinale 2008, als beim Lied „Deewangi Deewangi“ in Om Shanti Om, das Who-is-Who Bollywoods zu einer Party der Hauptfigur Om Kapoor erscheint und das fachkundige Publikum im Saal jeden Auftritt bejubelte. So gesehen ist Om Shanti Om nicht nur ein Event für das Publikum, sondern auch ein Film, in dem Bollywood sich selbst und seiner Geschichte die Ehre erweist. Nicht ohne Grund ist der Nachname der Hauptfigur „Kapoor“ und verweist damit auf einen der wichtigsten Regisseure und Schauspieler des indischen Kinos, Raj Kapoor.

Ja, der Eventcharakter und vor allem der Starkult führen auch dazu, dass die Geschichte des Films in den Hintergrund rückt. Das nicht unbedingt in Sachen Qualität, sondern in Hinblick darauf, dass nicht nur Bollywood für indisches Kino, sondern auch bestimmte Personen pars pro toto für Bollywood stehen. Das prominenteste Beispiel ist hier wohl Shah Rukh Khan, der mit durchschnittlich drei bis vier Filmen im Jahr wohl zu den erfolgreichsten und auch in Europa bekanntesten Stars aus Indien zählt.

Dabei hat dieser Starkult eine durchaus ambivalente Position. Auf der einen Seite haben die zahlreichen Filme Shah Rukh Khan und all die anderen männlichen und weiblichen Bollywood-Schauspieler zu untersterblichen Ikonen der Filmindustrie gemacht, die mit ihrem Ansehen nicht nur die Filme vermarkten, sondern auch einen Popstar gleichen Kult abseits der Kinosäle entstehen lassen. Deshalb ist es auch gerade dieser Status, der z.B. Shah Rukh Khan oder Aamir Khan die Möglichkeit bietet, sich in der konservativen und schwierigen indischen Politiklandschaft für Gleichberechtigung und Fortschritt politisch zu engagieren. Auf der anderen Seite sind sie aber immer dem Diktat der gigantischen Bollywood-Maschinerie unterworfen, die vielmehr die große Nachfrage an entspannter und träumerischer Kinounterhaltung stillen will statt provokative Themen aufzugreifen und die fast schon wieder konservativ und auf Beständigkeit ausgerichtet ist.

Daher gerät Bollywood mit diesem Personenkult in eine teils fast absurde Schleife und steht immer wieder vor der Entscheidung, nur noch Kitsch und Massenware zu produzieren, um die Erwartungen der Zuschauer zu erfüllen, oder doch einer sehenswerten allumfassenden und vor allem sozialkritischen indischen Kinotradition zu folgen.

Insofern sind auch die Erwartungen hoch, wenn nun Dilwale mit Shah Rukh Khan und Kajol in Kinos kommt, die seit den 1990er Jahren und ihrem Erfolg in Dilwale Dulhania Le Jayenge (1995) als das Kinotraumpaar schlechthin gelten und 2016 an ihre Ursprünge anknüpfen wollen.

(Dennis Basaldella)

Dennis Basaldella, Medienwissenschaftler und Filmkritiker. Studium der Europäischen Medienwissenschaften an der Universität Potsdam. Beschäftigt sich in seiner Forschung mit dem Schwerpunkt Amateurfilm in der DDR. Seit 2014 Promotion an der Universität Hamburg. Er bloggt auf www.filmosophie.com.

Meinungen