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Gibt es einen "richtigen" Sitzplatz im Kino?

Ein Beitrag von Lucas Barwenczik

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La La Land

Im Kino stehen sich zwei Räume gegenüber, einer vor und einer hinter der Leinwand. Jeder spürt, fast instinktiv, dass es wichtig ist, wie die Menschen in den Bildern verteilt sind: Wo sie stehen, wer näher an der Kamera und wer weiter von ihr entfernt platziert wurde. Durch diese Verteilung im Raum erzählen uns Filmemacher oftmals etwas über sie und ihre Beziehungen zueinander. Natürlich ist es auch von Bedeutung, wie die Menschen sich im anderen Raum – dem vor der Leinwand – positionieren. Man könnte, gewiss etwas pathetisch, erklären: Der präferierte Sitzplatz ist Ausdruck der eigenen Haltung zum Kino.

In unserer immer weiter kartographierten Welt, zunehmend ohne weiße Flecken auf den Landkarten des Alltags, ist aus der Wahl des idealen Sitzplatzes fast eine eigene Wissenschaft geworden. Man kann sich dem Problem auf verschiedene Weisen näheren: Technisch und pragmatisch, philosophisch und idealistisch. Auf verschiedenen Nachrichtenseiten kursierte etwa ein „Persönlichkeitstest“ der „japanischen Psychologin Dr. Hiromi Mizuki“, die den verschiedenen Plätzen im Saal bestimmte Identitäten und psychologische Profile zuordnet. Demzufolge verfügen Menschen in der ersten Reihe oft über ein „geselliges Wesen“ und den Wunsch, sich mit anderen Menschen verbunden zu fühlen. Wer sich für einen vorderen Platz am Rand entscheidet, akzeptiert Unannehmlichkeiten und ordnet sich den Wünschen anderer unter. Wer in der Mitte der letzten Reihe sitzt, gilt als verschlossen, gesammelt, schüchtern und ängstlich gegenüber dem Einfluss anderer; wer dort an den Rändern sitzt, den treibt der Wunsch, nicht von den anderen Zuschauern gesehen zu werden. Und so weiter. Dieser Test ist natürlich wenig mehr als ein pop-psychologisches Kuriosum und nicht im Geringsten empirisch fundiert, vergleichbare Aussagen über z.B. die Platzwahl in Klassenzimmern stehen auf deutlich festeren Füßen. Und doch deckt er sich in Teilen mit den vagen Kategorien und Vorstellungen, die wir bestimmten Sitzplätzen im Kino fast automatisch zuordnen.

Wer könnte sich etwa Köpfe von Nouvelle Vague und Cahiers du Cinéma wie Jean-Luc Godard, François Truffaut oder Claude Chabrol irgendwo anders im Kino als in der allerersten Reihe vorstellen? Der Sitzplatz ist Teil ihres Bildes im kollektiven Filmgedächtnis, so sehr wie etwa Godards Sonnenbrille. Wer sich für die erste Reihe entscheidet, setzt sich zu ihnen und ihresgleichen, heute auch: zu ihrer Tradition. Diese Position ist längst Klischee auch der modernen Cinephilie geworden. Man rückt so nah wie möglich ans Bild heran, mit dem entschiedenen Wunsch, hineinzustürzen, Teil der Filmwelt zu werden; strebt nach der Immersion, die heute oft vor allem neuste Technologie verspricht, ohne auf sie zurückgreifen zu müssen. Man lässt sich von den Bildern umzingeln, blendet alles andere – Notausgangsschilder, spiegelnde Umgebungsstücke – aus und trägt seine Obsession damit stolz nach außen. Das Licht trifft zuerst die eigene Retina, und nur die bereits verbrauchten Überreste dringen noch zu jenen durch, die sich dem Phänomen mit weniger Begeisterung nähern. Ein wenig so, wie die größten Apple-Fans ganz vorne in der Schlange stehen und auf das neuste iPhone-Modell warten, sitzt man hier in der vordersten Reihe, um die neuen Bilder als erstes in sich aufnehmen zu können. Man wird eine Avantgarde (im Ursprungssinne des Begriffs: eine Vorhut), auch wenn man den anderen nur um Sekundenbruchteile voraus ist.

Auch das Bild vom Sitzen in der letzten Reihe ist filmisch umfassend beschrieben. Die hinterste Sitzreihe wird in der Schule und Geschichten über sie oft mit Desinteresse und Distanz assoziiert, in Coming-of-Age-Erzählungen ist sie das Biotop der Coolen und der Schulhofschläger. Ihre Entsprechung hier: Popcornwerfer, verliebte Paare und Kritiker Roger Ebert (der sich ungern in die Notizen schauen ließ). Im Kino stellt die letzte Reihe den maximalen Sicherheitsabstand zum Bild da, eine Mischung aus Vorsicht und Ablehnung. Wer eher für seinen Mitbesucher als für den Film da ist, könnte solch einen Platz auswählen, um nicht allzu sehr von den Ereignissen behelligt zu werden. Anders als bei den Cine-Strebern aus der ersten Reihe ist hier der offene, soziale Raum des Kinos von Bedeutung. Man blickt erst über die Gesamtheit des Publikums und dann auf die Leinwand, denkt also ihre Präsenz fast immer mit. Es ist eine Position des doppelten Voyeurismus: Zum einen die des Filmzuschauers, zum anderen die, von der man nahezu jeden im Saal vor sich sieht, von ihnen aber nicht gesehen wird. Dabei geht sicher manches Detail verloren, das aus der Ferne kaum mehr zu erkennen ist. Dafür sieht man das große Ganze, statt in der visuellen Brandung unterzugehen.

Alle Plätze dazwischen sind logischerweise ein Kompromiss zwischen den Extremen. Eine graduelle Verschiebung von der Bedeutung von Größe und Nähe hin zu Überblick und analytischer Distanz. Oftmals wird die Mitte aus technischen Erwägungen gewählt, etwa weil die 3D-Technik dort die überzeugendsten Resultate hervorbringt. Oder weil die Akustik für diesen Bereich optimiert wurde. Solche Aussagen sind natürlich stark vom Kinosaal abhängig. Steve Martz, Vorsitzender des bekannten, einflussreichen Ton- und Bildunternehmens THX, rät, sich an den Rand des letzten Saaldrittels zu setzen, zwei Drittel der Länge von der Leinwand entfernt – die Position, für die Soundsysteme meist optimiert werden, damit ein gleichmäßiger Raumklang entstehen kann. Dort säßen die Techniker bei der Kalibrierung, bestätigt auch Gizomodo-Autor Andrew Tarantola. Und Ralph Davis, Vice President of Facilities für die amerikanische Kinokette AMC, bietet eine geometrische Erklärung für die Suche nach dem besten Platz: Ihm zufolge sollte der Blickwinkel des Zuschauers auf die Leinwand nicht breiter als etwa 30 Grad Horizontal und 35 Grad Vertikal sein.

Die Entscheidung zwischen Rändern und Mittelbereich ist wieder eine Entscheidung für oder gegen die absolute Immersion in die Filmwelt. Natürlich aber auch eine pragmatische für jeden, der voraussieht, den Saal verlassen zu müssen, sei es wegen des Films oder aufgrund körperlicher Bedürfnisse. Und allein die Bereitschaft zu diesem letzten Akt der Verweigerung gegenüber einem Film – das Verlassen des Saals – ist umstritten und ein eigener, unerschöpflicher Themenkomplex. (Dürfen, müssen, können wir als Zuschauer fliehen bzw. aufgeben?)

Natürlich muss der „beste, richtige“ Platz im Kino nicht unbedingt ein fester sein. Vielleicht läge auch ein Wert im ständigen Perspektivwechsel. Entweder um dem Medium, dem Phänomen Kino, immer wieder neu zu begegnen. So wie Lehrer John Keating (gespielt von Robin Williams) aus Peter Weirs Der Club der toten Dichter seinen Schülern rät, auf Tische zu steigen und auf dem Boden zu kriechen, um die Welt neu zu sehen. Oder um jedem Film in seinem eigenen, speziellen Wesen gerecht zu werden: Ist vielleicht für jede Komödie, jedes Drama, jeden Actionfilm etc. ein anderer Sitzplatz der richtige? Sollte man Filme von Godard sehen, wie er sie sah, in der ersten Reihe? Die von Bresson aus der Distanz? Sollte man an leise Filme nah heranrücken und vor lauten zurückweichen? So frei ist man in der Wahl (leider?) selten, vor allem dann nicht, wenn, wie bei den meisten großen Multiplex-Ketten, schon im Vorhinein Plätze reserviert werden.


(Filmstill aus Der Club der toten Dichter. Copyright: Walt Disney Germany)

Darüber hinaus ist die Frage auch, ob nicht schon eine solche Reaktion auf einen Film seiner Wirkung schaden würde. Gegen die (technische) Anpassung eines Kunstwerks an die eigenen Bedürfnisse spricht vieles. Wie viele andere moderne Medien ist auch das Kino eine Erfahrung zwischen Steuern und Gesteuertwerden. Wäre es nicht manchmal faszinierend, einen Platz zugewiesen zu bekommen, zufällig, zwischen Fremden? Herausgerissen aus der Routine des Stammplatzes, an dem man immer sitzt, gelöst von den Menschen, mit denen man in den Saal spaziert ist? Die Meisten wird diese Vorstellung abschrecken, sie passt nicht in unser gewohntes Schema, sie ist unpraktisch und verspricht nicht unbedingt eine positive Erfahrung. Und doch: Die Zeit, in denen das Kino mit dem Raum vor der Leinwand gearbeitet hat, sind leider vorbei. Ein Filmemacher wie William Castle ist heute nur noch als Marketing-Genie und Gimmick-Experte bekannt, nicht aber als Forscher, der mutig in einen Raum vorstieß, der heute noch im Kino vernachlässigt wird: der vor der Leinwand.

Bis zu einem gewissen Grad hat jeder Zuschauer eine andere Erfahrung, auch über seine Vorprägung und individuelle Interaktion mit dem Film hinaus. Sie verändert sich minimal, abhängig davon, von wo genau man auf die Leinwand blickt. Was, wenn diese Unterschiede verstärkt würden, wenn Filme auch visuell andere Geschichten erzählen würden, abhängig davon, wo genau der Zuschauer sitzt? Die technische Entwicklung strebt im Kino (oder in dem, was nach dem Kino kommt?) zu einer Rückkehr zur Individualerfahrung hin. VR und Co. kündigen sich als ein isolierendes Beisammensein an. Interessant wäre, auch die technischen Möglichkeiten zwischen diesen Extremen – Kino als Kollektiv- und Individualerfahrung – zu erforschen. Den zweiten Raum zu nutzen.

Im Idealfall wären dann alle Überlegungen über einen richtigen und falschen Sitzplatz überflüssig: Der richtige, passende, beste Platz wäre immer der, an dem man gerade sitzt. Was, so trivial es klingen mag, auch jetzt schon der Fall ist. Es kommt nur darauf an, wie man einem Film begegnen will.

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