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Geistergeschichten – Die Filme von David Lowery

Ein Beitrag von Lucas Barwenczik

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Das Echo übertönt die Stimme, die es hervorgebracht hat. Die Geschichten, die man sich später erzählt, wiegen schwerer als die ursprünglichen Ereignisse. Die Filme des amerikanischen Filmemachers David Lowery sind auf eine schwermütige Art nostalgisch. Seine Figuren scheinen immerzu auf der Suche nach etwas, das verlorenging. Liebesbeziehungen, Familien, vor allem aber ein nunmehr schwer greifbarer Zustand des Glücks, der immer in der Vergangenheit zu liegen scheint. Es sind Filme über den Tod, aber auch über das persönliche Vermächtnis, das noch während des Lebens zu wirken beginnt. Sein neuster Film heißt explizit A Ghost Story, doch Geistergeschichten sind eigentlich alle von ihnen. Denn was ist ein Geist in den meisten Geschichten? Ein Teil der Vergangenheit, der auch in der Gegenwart weiterbesteht und sich aus unerklärlichen Gründen weigert, die Welt zu verlassen. Solche Geister bestimmen die Leben seiner Figuren. Wenn sie nicht sogar selbst welche sind.


(Filmstill aus A Ghost Story. Copyright: Universal Pictures Germany)

Der texanische Regisseur passt, zumindest auf den ersten Blick, gut in das Bild des zeitgenössischen Indiefilmers. A Ghost Story ist bereits sein sechster Langfilm, einer breiteren Öffentlichkeit wurde er jedoch erst 2013 mit Ain’t Them Bodies Saints (dt. Titel: Saints – Sie kannten kein Gesetz) und der Disney-Produktion Elliot, der Drache bekannt. Viele der frühen Filme begreift er als Übungsphase, so wie es Musiker mit mehreren „ersten Alben“ gibt, debütierte auch Lowery wiederholt: Etwa mit dem Omnibus-Film Deadroom, der vier Begegnungen zwischen Menschen schildert, deren Leben von einem Todesfall überschattet wird. Oder St. Nick, die Geschichte eines Geschwisterpaars, das vor der Erwachsenenwelt in die texanische Wildnis flieht. In seinem Kurzfilm My Daily Routine von 2011 erklärte er noch: „Ich bin ein Schnittmeister von Beruf“. Doch Lowery ist vor allem einer jener Universalisten, welche das digitale Filmzeitalter vermehrt hervorbringt, weil neue technische Möglichkeiten ihnen eine Vielzahl von Rollen ermöglichen und manchmal sogar aufzwingen. Er hat Credits als Drehbuchautor, Regisseur, Kameramann, Produzent und eben auch solche als Schnittmeister vorzuweisen.

In seinem Schnitt lässt sich eine klare Handschrift erkennen, die ihn von anderen amerikanischen Indie-Filmemachern seiner Generation abhebt. Lowery hat unter anderem an Shane Carruths erstaunlichem Indie-Science-Fiction-Drama Upstream Color mitgewirkt, welches Chronologie und Kausalitäten auf ähnliche Weise versprengt, wie es auch Ain’t them Bodies Saints oder A Ghost Story tun. Gegenwart und Vergangenheit stehen dabei oft einmütig nebeneinander, Erinnerungen klingen sekundenlang an wie musikalische Themen. Ein Bilderfluss, der sich stets aufs Neue gabelt, nur um doch wieder zusammenzukommen und sich aus sich selbst zu speisen. Extrem lange Einstellungen, die Lowery zufolge durch Filmemacher wie Hou Hsiao-Hsien und Chantal Akerman inspiriert sind und wie im Slow Cinema einen einzigen Moment stark ausdehnen, wechseln sich ab mit sprunghaften Musikmontagen, in denen mit jedem Schnitt Tage, Wochen oder sogar Monate vergehen. Man ist nie ganz im Jetzt, oder genauer: Ein Jetzt scheint es nie wirklich zu geben, weil jede Gegenwart immer nur die Summe von Vergangenem ist.

Dieser ständige Blick zurück, die Retromanie, erfasst auch die merkwürdig zwischen den Zeiten gefangenen Filmwelten. Elliot, der Drache (eine Neuauflage des 1977 erschienen Elliot, das Schmunzelmonster) ist laut Regisseur in den frühen 1980er-Jahren angesiedelt, könne aber ebenso gut in den 1950ern oder auch im Jahr 2016 spielen. Es gibt wenig klassische Indikatoren, keine passenden Musikeinsätze als Orientierungshilfe, nichts was offensiv auf einen bestimmten Zeitgeist verweist. Lowerys Version der Südstaaten – nur selten verschlägt es fernab seiner Wahlheimat ihn in andere Regionen, etwa in den pazifischen Nordwesten – ist oft mehr Idee als wirklicher Ort. Ein erlebbarer Traum aus bis zum Horizont reichenden Weiden und Weizenfeldern, bei dem man unweigerlich an die Filme von Terrence Malick denkt, ist doch Ain’t Them Bodies Saints Lowerys Versuch, eine eigene Badlands-Variante zu entwerfen. Nur gelegentlich wird die ewige Natur unterbrochen von jenen traditionellen amerikanischen Holzhäusern, die architektonisch wie nie ganz der Pionierzeit entwachsen anmuten. Sie sind Spiegelbilder der entwurzelten, transzendental obdachlosen Figuren. In A Ghost Story sieht man, wie schnell sie in sich zusammenstürzen, aber auch, wie schnell sie neu aufgebaut werden.


(Filmstill aus Ain’t Them Bodies Saints. Copyright: Koch Films)

Oft wird eine folkloristische Perspektive eingenommen, eine Obsession mit Gebräuchen und Überlieferungen. Die allgemeine Zeitlosigkeit ist auch Ausdruck einer Tradition, die am Leben gehalten wird. Man erkennt es auch in Soundtracks und Scores. Obgleich es sich um eher ruhige, unaufgeregte Filme handelt, gibt es mehr Musik als Stille. Country, Folk und Indieklänge liegen wie ein Teppich unter den Bildern. Immer wieder tauchen Musiker auf, Protagonist C (Casey Affleck) aus A Ghost Story ist sogar selbst Musiker. Er – nach einem Unfall das titelgebende Gespenst – hat zu Lebzeiten ein Stück geschrieben, das seiner Ehefrau ein Portal zurück in die Zeit des Beisammenseins geben wird. (Es handelt sich um den Song I Get Overwhelmed der Band Dark Rooms, von dem alle anderen Musikeinsätze des Dramas ausgehen.)

Denn das ist der Grund, warum so oft der Blick zurückgeworfen wird, für die Figuren: geworfen werden muss. Der Tod liegt wie ein Schatten über ihren Leben. Elliot, der Drache erzählt die Geschichte eines Waisenkinds, das mit einem Drachen aufwächst. Seine Eltern sterben in der ersten Szene bei einem Autounfall. A Ghost Story wartet mit dem großen Crash etwa 15 Minuten. Der Einbruch der Gewalt erfolgt früh und plötzlich. Den Katastrophen und dem Sterben selbst schenkt Lowery dabei wenig Beachtung. Ein kurzer Schwenk, eine hektisch zerstäubte Sequenz, schon ist passiert, was nicht sein darf. Wichtiger ist ihm die Nachwirkung.

In einem Featurette für die Criterion Collection spricht Lowery über seine Bewunderung für David Gordon Greens Debütfilm George Washington. Dabei betonte er vor allem das ausgeglichene Zusammenspiel zwischen Naturalismus und Formalismus, die Balance zwischen strengen Bildkompositionen und spezifischen Momenten, die wie aus der Realität übernommen wirken. Eine Balance, die er auch in seinen eigenen Filmen spürbar anstrebt. Der genretypische Handkamera-und-Gegenlicht-Realismus wird mit starren Einstellungen und langsamen, artifiziellen Zooms kontrastiert. Man bekommt den Eindruck, Lowery strebt vor allem eine bestimmte Form von Authentizität an: Die performative Echtheit von Indie-Rock und Folk-Bands. Er sieht nicht nur aus wie ein Musiker von Bon Iver, sondern bedient sich auch an vergleichbaren Sujets: Liebe, Einsamkeit, Natur, Heimat.

Auch von einem anderen Vorbild, dem bereits erwähnten Terrence Malick, hat Lowery viel übernommen: Die Bedeutung von Natur und dem Zusammen- und Gegenspiel von Mensch und Landschaft, auch Voice-over spielen eine vergleichbare Rolle. Doch sie kommen nicht aus fremden Sphären herangeweht oder aus der Innenwelt der Figuren, sondern bilden den Inhalt von Briefen und längere Reden ab. Immerzu wird monologisiert, werden Vorträge gehalten und natürlich auch Geschichten erzählt. Der Kurzfilm Pioneer ist die vielleicht konzentrierteste Form seiner Geistererzählungen: Es gibt gar kein Ereignis mehr, sondern nur noch das Nacherzählen, die Vergangenheit überlagert den Moment ganz. Ein Vater erzählt seinem Sohn eine Gute-Nacht-Geschichte. Sie handelt vom Tod seiner Mutter, von der gemeinsamen Zeit miteinander, von ihrem Haus und schließlich vom Leben danach. Wie der Titel schon verrät, ist diese Geschichte mit der amerikanischen Historie verbunden, ein weißer Vater sitzt seinem schwarzen Adoptivsohn gegenüber, im Verlauf der nächsten Minuten werden sie die Plätze tauschen.


(Filmstill aus A Ghost Story. Copyright: Universal Pictures Germany)

Denn gänzlich unreflektiert blickt der Filmemacher nicht auf die Nostalgie seiner Figuren und Filme. Er sieht, dass die Idealisierung der Vergangenheit auch immer eine Abwehrhaltung gegenüber Veränderung darstellt. Wenn sich Bob Muldoon in Saints wie ein traditioneller Westernheld aufführt, dann ist er damit zum Scheitern verurteilt. Man mag die neue Welt noch nicht erkennen, aber sie ist da, und die Geister müssen in ihr zwangsläufig scheitern. Sie gehören hier nicht hin. Die Zeit marschiert ungebremst voran, gerade A Ghost Story reiht Vanitas-Motive aneinander, so dicht wie in Barockgedichten. Der sprunghafte, nicht-chronologische Schritt gibt den Filmen etwas Zyklisches. Der immer präsente Tod ist nicht nur ein schmerzhafter Verlust, sondern auch die Hoffnung auf Veränderung. Sicher, Lowerys Stammschauspieler Will Oldham mag wiederholt lange, aufbrausende Reden über den unweigerlichen Verfall aller weltlichen Dinge halten, doch am Ende richten sich die Filme auf ein hoffnungsvolles Ende. Vielleicht sind sie ein wenig esoterisch, funktionieren wie Tarot-Karten, wo der Tod ebenfalls nicht das Ende, sondern vielmehr Veränderung und Neuanfang bedeutet.

Lowerys Geistergeschichten enden so, wie die meisten anderen auch: Mit dem Exorzismus, der Befreiung, dem Weiterziehen in eine andere Welt, in ein anderes Leben. Verhandelt wird, wie der Mensch trotz der Unausweichlichkeit des Todes leben kann, und das Ergebnis ist: In der Hoffnung auf ein Vermächtnis. Dadurch, dass er in Geschichten erhalten bleibt. Oder in Liedern. In den endlosen Schleifen des Erzählens und Weitererzählens. Dadurch, dass das Echo seine Stimme überstrahlt und die Geschichten über ihn sein Leben immer von Neuem beginnen lassen.

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