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Für mehr Vorfilme im Kino

Ein Beitrag von Lucas Barwenczik

Meinungen
Nachbarschaft im Clinch

Einst hat man ihnen Gedichte geschrieben, der deutsche Kabarettist und Lyriker Hans Harbeck etwa reimte verzückt:

Und dann Grotesken, die mit froher Wucht
den Geist der Schwere treiben in die Flucht
und an der Hand von Unsinn immer Siegen
Die Keaton, Chaplin, Schünzel, Pat und Lloyd
Lachpillen in das Publikum gestreut
bringt das älteste Gebälk zum biegen

Heute singt keiner mehr solche Loblieder auf Vorfilme oder die Erfahrung vor dem Film im Allgemeinen. Bevor man sich eine Vorführung im Kino ansieht, wird man eher gequält: Mit lärmiger Werbung, uninteressanten bis nervigen Trailern, vielleicht wird man noch von den Minions oder den Darstellern von Fack ju Göhte dazu aufgefordert, das Handy auszuschalten. Das war – und das ist – nicht immer so.

Ein zusätzliches Programm rund um den Hauptfilm, also verschiedene Animations- und Real-Kurzfilme, sowie Nachrichten und Dokumentationen, war lange Zeit Kinostandard. Ausgerechnet als Reaktion auf die zunehmende Verbreitung des Fernsehens begannen Kinobetreiber und Industrie in den 1950er Jahren, das Programm nach und nach auf die einzelne Vorstellung zu reduzieren. Mit dem ausladenden Informations- und Unterhaltungs-Überangebot der Sender konnte man ohnehin nicht mithalten und so konzentrierte man sich auf das Kerngeschäft und sparte die Zeit lieber, um möglichst viele Vorführungen an einem Tag zeigen zu können.

Eigentlich ist diese Selbstbeschränkung längst überholt, ein Relikt, das wenig mit der heutigen Unterhaltungsbranche zu tun hat. Gerade neue Technik führt oft dazu, dass alte Ansätze wieder modern werden. Wenn im Jahr 2017 von der Konkurrenz für das Kino gesprochen wird, von einer Wachablösung, dann geht es meistens um Streaming- und Video-on-Demand-Dienste. Das lineare Fernsehen existiert noch, doch auch wenn man noch immer um die Freizeit der Kunden buhlt, gibt es gemeinsame Gegner. „Lineares Fernsehen wird es bald nicht mehr geben, außer im Museum“, erklärte Reed Hastings, Geschäftsführer von Netflix, der mit seinem Dienst auch das Kino aktiv bekämpft.

Überall wird das Event des Kinos beschworen, das gesellschaftliche Ereignis. (Auch hier auf kino-zeit.) Wenn es um die einfache, jederzeit zugängliche Verfügbarkeit von Einzelfilmen geht, haben die Internetangebote schon ihrem Wesen nach klare Vorteile gegenüber dem Ort aus Stein mit den festgelegten Laufzeiten. Diese wiederum haben gegenüber der chaotischen Beliebigkeit der reinen Angebotsmasse sehr viel besser die Möglichkeit, ihr Programm zu kuratieren (noch so ein vielgebrauchtes Schlagwort), ihm Struktur, Identität und innere Logik zu verleihen. Dazu könnten auch Vorfilme dienen. Sie machen aus dem Kinobesuch eine Gesamterfahrung mit verschiedenen Unterpunkten und bieten ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber dem einfachen Ausleihen im Internet. Ihre Auswahl hilft, einem Kino ein eigenes Profil zu verleihen. Sie können sich elegant als Teil einer Art Themenabend einfügen, einander ergänzen oder kontrapunktisch kommentieren. Zusammen mit einem anderen Film desselben Regisseurs ergeben sie eine Art Mini-Retrospektive, die bestimmte Obsessionen und Merkmale eines Autorenfilmers herausarbeitet. Und wenn sie zufällig und ohne Bezug zum späteren Film ausgewählt werden, bieten sie die lotterieartige Erfahrung einer Sneak Preview im Kleinen. In jedem Fall wächst der Feature Film schon allein durch den Kontrast, so wie ein König durch den ihm vorausstolzierenden Hofstaat oder ein Tour-Headliner durch seine Vorband. Genau wie diese können sie auch eine Grundstimmung erzeugen und als eine Art „Anheizer“ dienen.

Für interessierte Zuschauer sind Vorfilme im leider oft übervorsichtigen Arthouse-Sektor eine gute Möglichkeit, mit Ungewohntem konfrontiert zu werden, manchmal gar mit Experimental- und Avantgarde-Filmen. Über die Kurzstrecke schlägt sich auch der Sonntagsspaziergänger Pfade ins Dickicht – Vorfilme können eine Schule des Sehens sein, eine kinematographische Dekompressionskammer oder ein kleines, dezentes trojanisches Pferd.

Doch auch darüber hinaus spricht vieles dafür, dass es mehr Vorfilme geben sollte. So würde durch sie etwa wieder Spielraum für die regelmäßig marginalisierte und abseits von speziellen Festivals meist vernachlässigte Kurzfilm-Szene entstehen. Selbst Oscarprämiertes oder auf Filmfesten Ausgezeichnetes ist selten überhaupt zu sehen, von der idealen Darstellung auf der großen Leinwand ganz zu schweigen. Vorfilme sind eine Experimentierwerkstatt für neue Filmschaffende, die sich und das Medium ausprobieren, oder für etablierte Regisseure und Studios, die neue Techniken und Spielarten des Kinos erproben. Und das ganz ohne den Viralitäts-, Sensations- und Clickbait-Zwang vieler Onlineplattformen, auf denen Qualität oft in schierer Masse untergeht.

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(Preview zu Pixar-Kurzfilm Day & Night)

Es ist kein Zufall, dass die meisten der heute noch produzierten Vorfilme dem Animationssektor entstammen. Disney und Pixar beispielsweise leiten jede ihrer großen Animationsprojekte mit einem ihrer beliebten Vorfilme ein. Sie schließen an eine lange Tradition an, auf der Webpräsenz von Pixar werden die Vorzüge dieser Spielart deutlich betont: Im kleinen Rahmen können gefahrenlos neue Technologien und Erzählformen erforscht werden, die später auch in den Langfilmen zum Einsatz kommen, außerdem dienen sie als studiointerne Talentschmiede. Gerade in den letzten Jahren, in denen sich diese Studios auch den ein oder anderen Fehltritt erlaubt haben, waren die kleinen, verspielten Shorts oft besser und origineller als der Hauptfilm. Natürlich bringen sie den Konzernen noch weitere Vorteile: In der Verwertung für den Heimkinomarkt schafft man Anreize, bestimmte Gesamtpakete (z.B. eine Blu-ray-Veröffentlichung) zu erwerben, anstatt den isolierten Spielfilm zu kaufen oder zu leihen. (Ein Ansatz, der ähnlich funktioniert wie Vorbesteller-Prämien oder Vergleichbares in der Videospiel-Branche.)

Kurzum: Es sollte mehr Vorfilme geben. Diesem vermeintlich überholten Konzept zu neuem Leben und größerer Popularität zu verhelfen, könnte allen zum Vorteil gereichen, vom Kinogänger über die Betreiber bis hin zu Regisseuren und Studios.
Es ist kein Zufall, dass vielerorts Strukturen zu genau diesem Zweck entstehen. So zeigt der Anfang 2017 gegründete Filmvertrieb Neon bei Vorführungen von Nacho Vigalondos Colossal, einer Mischung aus Science Fiction, Fantasy und Komödie mit Anne Hathaway, zuvor Peter Huangs Vignettensammlung 5 Films About Technology.

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(5 Films About Technology)

Über den Vorfilm selbst kann man sicherlich streiten, doch das Geschäftsmodell ist interessant: Es verbindet die Stärken des Studiosystems, dass Filme in Paketen verleihen konnte, ohne die selben Zwänge und Gängelungen der Kinobetreiber aufzubauen. Regisseure von Kurzfilmen können sich sicher sein, dass ihre Filme von einem konzentrierten, aufmerksamen Publikum gesehen werden und werden einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Vor- und Hauptfilm ergänzen einander, wird der eine beworben, erhält auch der andere Aufmerksamkeit.

In Deutschland läuft seit 2010 die interessante Kampagne Kurz vor Film im Auftrag der AG Kurzfilm, der KFA und interfilm Berlin. Sie, so die Webpräsenz, „richtet sich an KinobetreiberInnen und möchte diese dafür begeistern, Kurzfilme als Vorfilme in ihren Kinos zu zeigen. Das Filmförderungsgesetz von 2009 unterstützt ausdrücklich den Einsatz von Kurzfilmen: Kinos, die regelmäßig Kurzfilme als Vorfilme platzieren, können eine jährliche Abspielförderung erhalten. Die KFA unterstützt interessierte Kinos bei allen Fragen der Antragstellung.“ Auch wenn die Kampagne in der Öffentlichkeit in den letzten Jahren weniger sichtbar war, kann man in einigen Kinos in Deutschland durch sie tatsächlich Vorfilme anschauen. Nicht immer will man Hymnen auf sie dichten, aber zumindest machen sie vorhergehende Ärgernisse wie Werbung oder Minions schnell wieder vergessen.

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