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Frauen wählen: Wieder wiederentdeckt

Ein Beitrag von Sonja Hartl

Keine Britin hat bei mehr Filmen Regie geführt als Muriel Box. Sie war die erste Frau, die einen Oscar für das beste Originaldrehbuch erhalten hat. Und dennoch ist sie weitgehend unbekannt. Eine (erneute) Wiederentdeckung.

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Muriel Box - Portrait
Muriel Box - Portrait

Muriel Box hat von 1952 bis 1964 bei zwölf Filmen Regie geführt. In der britischen Filmindustrie ist das für eine Frau einsamer Rekord. Die Britin, die ihr am nächsten kommt, ist Sally Potter mit acht Filmen in 34 Jahren. Zum Vergleich: Maurice Elvey hat von 1913 bis 1956 151 mal Regie geführt.

Zwölf Filme in zwölf Jahren sind dennoch eine beachtliche Leistung. Muriel Box arbeitete zu einer Zeit, in der im britischen Kino viele Filme produziert wurden, oft mit knappen Budgets und in engen Zeitfenstern. In den 1950er Jahren gab es neben ihr mit Wendy Toye nur noch eine weitere Regisseurin in einer Industrie, die von Männern dominiert und kontrolliert wurde und immer noch wird. Sie haben beide ungefähr zur selben Zeit angefangen und aufgehört, aber weder vor ihnen noch viele Jahre nach ihnen gab es mehr als eine Handvoll Regisseurinnen. Dennoch ist sie weitgehend ins Vergessen geraten, bis die diesjährige Retrospektive in San Sebastian ihre Filme wieder zeigte. Und nicht nur das: Das Beispiel von Muriel Box zeigt, dass es immer wieder Versuche gibt, der Leistung von Frauen in der Filmgeschichte Anerkennung zu zollen, dass sie aber oftmals nur kurze Zeit von Dauer sind.

 

Der Weg in die Filmindustrie

Geboren wurde Muriel Box als Violette Muriel Baker am 22. September 1905 in New Malden, Surrey, ihre Familie gehörte zu den „respectable poor“ (Rachel Cook, Muriel Box: Her brilliant career). Ein Freund der Familie bot 1914 an, dass sie jeder Zeit in das Kino kommen könnten, das er betrieb – und Muriel nahm ihn beim Wort. Es sollte nicht der letzte Zufall bleiben, der sie zum Film führte: Im Sommer 1920 wurde sie im Zug von einem Mann angesprochen, während sie die Zeitschrift Picture Show las, und sie unterhielten sich über Filme. Am Ende gab er ihr seine Karte – und es stellte sich heraus, dass es Joseph Grossmann war, damals Studio Manager von Stoll Pictures Productions. Doch zunächst machte Muriel Box eine Ausbildung zur Sekretärin und arbeitete ab 1929 bei British Instructional Films. Als sie ihren Job verlor, kontaktierte sie Joseph Grossmann, der sich an sie erinnerte und sie bei British International Pictures als continuity girl anstellte. Ein typischer Karriereschritt für eine Frau in der Filmindustrie der damaligen Zeit. Im Jahr 1932 lernte sie den Autor Sydney Box kennen, gemeinsam schrieben sie Theaterstücke und heirateten drei Jahre später. Im Zweiten Weltkrieg produzierte Sydney Box mit seiner Dokumentarfilmfirma Verity Films Propaganda-Kurzfilme und bereits bei diesen Filmen führte Muriel Box Regie – bis das Ministerium entscheid, dass Road Safety for Children kein angemessenes Projekt für eine Frau war. Zu dieser Zeit wollte Sydney bereits Langfilme drehte, überließ seiner Schwester Betty Verity Films und zog 1943 mit seiner Ehefrau zu den Riverside Studios weiter. Ihr erstes gemeinsames Projekt, „29, Acacia Avenue“, wurde von Filmproduzenten J. Arthur Rank abgelehnt. Aber zu dieser Zeit hatten sie bereits angefangen, an ihrem größten gemeinsamen Erfolg zu arbeiten: dem Melodram Der letzte Schleier (The Seventh Veil, 1945).

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Erfolge und Schwierigkeiten

Der letzte Schleier ist ein Film über eine Pianistin, die ihre Angst besiegen muss – und in dem Psychoanalyse ernst genommen wird. Mit einem Budget von 92.000 Pfund hat er allein in den USA über eine Million Dollar eingespielt. In England wurden 18 Millionen Tickets verkauft. Oder wie Muriel Box es in ihrer Autobiographie Odd Woman Out schreibt: „with almost monotonous yet very comforting regularity, it broke every known record.“ Muriel und Sydney Box wurden für den Oscar für das beste Originaldrehbuch nominiert und ausgezeichnet – in einem Jahr, in dem u.a. Ben Hecht für Notorious, Jacques Prévert für Les enfants du paradis, Raymond Chandler für The Blue Dahlia ebenfalls nominiert waren. Damit ist Muriel Box die erste Frau, die in dieser Kategorie einen Oscar gewonnen hat.

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Nach diesem Erfolg wurde Sydney Box von J. Arthur Rank angeboten, Gainsborough Pictures zu leiten. Die Firma hat zwei Studios: Sydney übernahm Shepherds Bush, seiner Schwester Betty übertrug er die Leitung in Islington, das sie „the poor man’s studio“ nannte. Muriel Box übernahm die Drehbuchabteilung. Als sich 1949 J. Arthur Rank entschied, beide Studios zu schließen und in den Pinewood Studios zu produzieren, war das für Betty Box ein wichtiger Karriereschritt. Lange Jahre war sie die einzige Produzentin in der britischen Filmindustrie, aber eine der wichtigsten und erfolgreichsten. Auch sie ist eine der Frauen, deren Erfolge zu wenigen bekannt ist. Muriel und Sydney Box waren indes zunehmend frustriert, weil ihre Projekte regelmäßig abgelehnt wurden. Ein Jahr später gründete Sydney Box daher seine eigene Firma, London Independent Producers, und der erste Film war eine Adaption des Theaterstücks The Happy Family. Während der Vorbereitungen erzählte er, dass Muriel und er gemeinsam Regie führen würden, um Agenten zu beruhigen. Die Vorurteile gegenüber Regisseurinnen waren groß. Eigentlich sollte bereits 1950 die Anthony-Thorne-Adaption Paris um Mitternacht (So Long at the Fair) das Regiedebüt von Muriel Box sein. Aber dessen Star Jean Simmons bestand darauf, dass sie ersetzt werde. Es waren nicht nur Männer, die gegenüber Regisseurinnen Vorurteile hatten, sondern auch Frauen. Kay Kendall, die bei Simon und Laura 1955 erfolglos versuchen würde, Muriel Box loszuwerden, hat später dazu gesagt, dass sie sich bei einer Regisseurin „strange and uncomfortable“ (zit. nach Cooke) fühle. Ihre Kollegin Muriel Pavlow führte aus, dass sie glaube, mit einem Regisseur besser zurechtzukommen. Diese Vorurteile durchzogen die gesamte Branche: Frauen war als Editorinnen besser, weil sie sensibel waren, aber als Regisseurinnen fehle ihnen das Talent, außerdem, so glaubte man, könnten sie keine große Crew führen.

 

Alles ändert sich

Aber bei The Happy Family (1952) führte Muriel Box alleine Regie und dieser Film veränderte alles: Sie hat ihn innerhalb der vorgegebenen Zeit und des festgelegten Budgets fertiggestellt, er bekam gute Besprechungen und ermöglichte ihr, direkt mit dem nächsten Projekt weiterzumachen. Sie schrieb und inszenierte den halb-dokumentarischen Film An der Straßenecke (Street Corner, 1953) über die Erfolge von Polizistinnen – ein Film mit überwiegender weiblicher Besetzung und aus dezidiert weiblicher Perspektive gedreht. In ihrem gesamten filmischen Werk hat sie nach neuen Ausdrucksformen des Lebens von Frauen gesucht, sie hat in Unterhaltungsfilme feministische Themen und Überzeugungen eingebracht. Dazu gehörten kontroverse Themen wie Prostitution und illegale Abtreibungen. Aber auch Vorstellungen über die Ehe wie in Simon und Laura. Hier spielen Kay Kendall und Peter Finch ein Schauspieler-Ehepaar, das in einer Fernsehserie ebenfalls ein glückliches Paar mimt, in ihrem wahren Eheleben aber alles andere als glücklich ist. Aus heutiger Sicht ist dieser Film ein erstaunlicher satirischer Vorgriff auf Reality TV und vermeintliche Authentizität.

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Nach Muriel Box‘ eigener Aussage ist es The Truth About Women (1957), der für sie die größte Bedeutung hat: Ein älterer Aristokrat erinnert sich an die zahlreichen Frauen in seinem Leben und in jeder Episode wird deutlich, dass die Geschlechter nicht gleichgestellt sind und die patriarchale Gesellschaft ungerecht ist. Doch diese Zeiten sind vorbei: Eine Frau sollte gleichberechtigter Partner sein, formuliert eine der Figuren am Ende.

Muriel Box‘ Filmen liegt ein Feminismus zugrunde, den sie in ihrem Leben stets gezeigt und verteidigt hat. Aber ihr war stets bewusst, dass es die starke Unterstützung eines Mannes – ihres Ehemanns – war, der ihr viele Projekte überhaupt erst ermöglichte. Nach der Trennung konnte sie ihre Regiekarriere nicht weiter verfolgen. Bis zu ihrem Tod 1991 war sie politisch aktiv. Sie kämpfte für atomare Abrüstung und eine Reform des Scheidungsrechts, sie schrieb Romane, gründete Großbritanniens ersten feministischen Verlag Femina Books und setzte sich für die Rechte von Frauen in der Filmindustrie ein.

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Frauen in der Filmindustrie

In einem Interview sagte Muriel Box folgendes über die Männer, die die Filmindustrie kontrollieren: „It’s so odd why they can’t have the grace to say, ‚We know we have all the good opportunities as men to direct and do everything‘. Why they can’t give women a chance, they haven’t any confidence at all in them, they never say to women let us try and see what she’s done.“ Eine Beobachtung, die auch heute weiterhin zutrifft. Dass die britische Filmindustrie derzeit von Regisseurinnen wie Lynne Ramsey, Amma Asante, Andrea Arnold oder auch Sally Potter bestimmt wird, ist historisch eine Ausnahme.

Aber noch etwas anderes zeigt die Geschichte von Muriel Box, die ebenso unbekannt ist wie die ihrer Schwägerin Betty Box. Es sind immer wieder dieselben Namen, die „wiederentdeckt“ werden. In der zweiten Welle des Feminismus in den 1970er Jahren waren es die Werke u.a. von Lois Weber, Alice Guy, Ida Lupino oder Dorothy Arzner. In den 1990er Jahren begannen die Frauen der klassischen Phase des British Cinema ihren Anteil einzufordern: Jill Craigie, Kay Mander, Wendy Toye und Muriel Box. Doch hatten diese Versuche nur wenig Bestand: Alice Guy wird gerade abermals wiederentdeckt, bei Ida Lupino gibt es stets ein Neu-Entdecken, ebenso bei Dorothy Arzner. Aber wenn dieselben Namen immer wieder ausgegraben werden müssen, dann wurden sie nicht in die Geschichte des Kinos aufgenommen. Und das muss sich dringend ändern. Ein für alle Mal. Denn es gibt noch so viele vergessene Frauen zu entdecken.

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