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Filmmusik verstehen durch Bette Davis

Ein Beitrag von Lucas Barwenczik

Es gibt eine interessante Anekdote über die Dreharbeiten von Edmund Gouldings Melodram „Opfer einer großen Liebe“ von 1939: In der besonders emotionalen letzten Szene des Films kämpft sich Bette Davis‘ durch einen Tumor erblindete Figur Judith mühsam eine lange Treppe hinauf. Cast, Crew und einige Besucher sahen am Set mit an, wie Davis ihre Hände um das Gelände klammerte und Stufe um Stufe hinaufkletterte.

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La La Land
Filmstill aus "La La Land"

Doch nach ungefähr der Hälfte der Strecke hielt sie plötzlich inne, nur um sich ruckartig umzudrehen und zügig zurückzulaufen. Sie wendete sich an den Regisseur: „Ed, wird Max Steiner die Musik für diesen Film komponieren?“ Der Regisseur antwortete überrascht, das wüsste er nicht, und fragte Davis, ob diese Frage denn wichtig genug sei, um den Dreh zu unterbrechen. „Nun, entweder werde ich diese Stufen hinaufklettern oder Max Steiner wird diese Stufen hinaufklettern“, antwortete Davis. „Aber ich soll verdammt sein, wenn wir es gleichzeitig tun!“

Vielleicht liegt in Davis impulsiver Entscheidung eine wertvolle Erkenntnis darüber, wie Filmmusik häufig eingesetzt wird und – im Kontrast dazu – wie sie eingesetzt werden sollte. Sie warnt vor zwei separaten Problemen: Zu viel Musik einzusetzen oder sie unmittelbar an das Geschehen zu binden, so dass sie redundant wird. Nur eine Szene zuvor hatte sich ihre Figur dazu entschlossen, selbst die engste Freundin aus ihrem Leben zu verweisen. „Keiner darf hier sein. Keiner!“, betont sie ihrem Gegenüber. Sie weiß, dass sie sterben wird, und ihr bleibt wenig mehr als die Hoffnung, ihre letzten Momente würdevoll zu gestalten. Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit gelten der Individualistin („Ich habe noch nie Anweisungen von irgendwem angenommen!“) als höchstes Gut. Nichts wäre da auf einer formalen Ebene schädlicher, als die Musik zu einem Charakter werden zu lassen, der sie begleitet, sie stützt, die Stufen schier hinaufträgt.

Im klassischen Hollywoodkino wurden dem Score vor allem zwei Aufgaben zugewiesen: Zum einen die Emotionen eines Charakters oder die Stimmung einer Szene auszudrücken, zum anderen beim Zuschauer selbst Emotionen hervorzurufen. Natürlich kann dasselbe Stück auch beide Effekte haben, es ist durchaus üblich darauf abzuzielen, die Empfindungen von Zuschauer und Figuren in Einklang zu bringen. In beiden Fällen hält sich die Musik meist eng an das Gezeigte, stellt gar nur eine reine Verdopplung des Gezeigten dar – eine Erklärung der Ereignisse und Emotionen, auch eine zusätzliche Betonung derer. Natürlich gab es immer Ausnahmen, doch eben nur solche, die die Regel bestätigen.

Seit diese Epoche in den 1960er Jahren zu Ende ging, hat es mehrfach Umbrüche und Paradigmenwechsel in der Filmmusik gegeben. Vor allem in den 1970er und 1980er Jahren, als eine neue Generation begann, Populärmusik die gleichen Kapazitäten wie klassischer zum Ausdruck „ernster Emotionen“ zuzuschreiben. Immer wieder versuchten avantgardistische Komponisten mit Experimenten die Kunstform vor sich herzutreiben. Gerade da, wo Anspruch behauptet werden soll, findet man oft ein Echo dieser Bemühungen. Sehr populär ist heute eine sphärische, getragene Dissonanz, man denke nur an Ryuichi Sakamotos und Alva Notos Untermalung von The Revenant, die wie alles im Film wirkt wie eine große Herausforderung, sich aber letztendlich als dröge Spiegelung von Alejandro González Iñárritus Leidensesoterik entpuppt. Selbst die extravaganteste Komposition kann von fürchterlich trivialer Wirkung sein, wenn sie falsch eingesetzt wird.

Gravity
Filmstill aus Gravity. Copyright: Warner Bros. GmbH

 

Wenn man sich anschaut, wie viele Regisseure ihre Musik einsetzen, hat man oft den Eindruck, seit den Zeiten von Bette Davis habe sich überhaupt nichts getan. Wo man hinschaut und -hört reproduziert die Musik naiv und wenig originell die Bilder. Wenn in Alfonso Cuaróns Gravity eine Raumstation oder ein Satellit explodiert, dann kann man das eigentlich nicht hören – der Film spielt im All, dessen Vakuum bekanntlich keinen Schall transportiert. Doch statt das visuelle Getöse einfach verhallen zu lassen, ihm vielleicht sogar durch die Stille eine elegische Fremdartigkeit zu geben, benutzt Cuarón die Musik von Steven Price, um den Explosionslärm des modernen Actionkinos im Film zu behalten. Von der angedeuteten Geschichte über Abgeschiedenheit und Weltflucht bleibt letztendlich nur Bombast. Das hat auch der Regisseur verstanden: Mittlerweile kann man eine musiklose Version des Films erwerben.

Selbst Filmemacher, bei denen die Musik auch inhaltlich im Mittelpunkt steht, gehen mit ihr merkwürdig prosaisch um. Isoliert betrachtet kann man von Justin Hurwitzs seichten Dreiakkord-Popkompositionen für La La Land halten, was man will, doch dem Film erweisen sie an vielen Stellen einen Bärendienst: Gerade die Art, in der die musikalischen Themen nicht entwickelt, sondern immer nur wiederholt werden, gibt dem Film ein repetitives Gefühl. Wenn es um Sehnsucht und Einsamkeit geht, wenn die Figuren nach einem Streit auseinandergehen, klingt wieder die Sehnsuchtshymne City of Stars an, mit ihren Sequenzgliedern, welche immer dieselben Auf- und Abwärtsbewegungen vollführen. Für Liebe und Gemeinsamkeit gibt es Mia & Sebastian’s Theme. Dieser Mangel an Variation ist gerade in einem Musical, in dem die musikalische Ebene noch direkter als üblich mit dem Innenleben der Figuren verknüpft ist, extrem schwierig. Chazelle kann auf der Drehbuchebene noch so oft behaupten, dass es sich um sehr komplexe Figuren handelt, aber die Musik erzählt in ihrer Einfältigkeit immerzu etwas Anderes.

La La Land
Filmstill aus La La Land. Coypright: StudioCanal Deutschland

 

Chazelles Regie war ja schon in Guy and Madeline on a Park Bench und Whiplash nah an der Ästhetik von Konzertaufnahmen und Musikvideos. Immer wieder spielt die Kamera die Bewegungen der Musik nach. Wenn dann etwa die Posaune im großen Finale von Whiplash einen Akzent setzt, dann vollzieht die Kamera die Bewegung des Zugstücks nach. Das sieht relativ beeindruckend aus, erzählt aber leider sehr wenig. Am ärgerlichsten ist dieser Ansatz im Mittelteil von La La Land, wo die Musik die endlosen Beziehungs-Montagen quasi vor sich hertreibt. (Den Oscar für die „Beste Filmmusik“ wird das Musical natürlich trotzdem gewinnen. Er enthält viel Musik, und die Academy zeichnet traditionell nicht das Beste, sondern vor allem das Meiste aus.)

Ein anderer, ebenfalls oscarnominierter Film stellt ein interessantes Gegenbeispiel dar. Jackie von Pablo Larraín benutzt die zwischen Dissonanz und Erhabenheit changierende Musik von Mica Levi nicht einfach deskriptiv, sondern als starkes, eigenes, narratives Instrument. Das filmische Psychogramm von Jacqueline Kennedy Onassis erzählt bruchstückhaft aus dem Innenleben der Präsidentenfrau. In seinem Buch Wie man einen Film macht erklärt Nouvelle-Vague-Regisseur Claude Chabrol über Filmmusik, „dass sie dem Zuschauer in Erinnerung rufen soll, dass das, was er sieht, nur ein Teil von dem ist, was ist.“ Genau das gelingt Larraín: Die schrägen Melodien tauchen auf wie Erinnerungen, während der Filmschnitt zwei verschiedene Zeitebenen miteinander verwebt, erzählt die Musik von einer dritten.

Jackie
Filmstill aus Jackie. Copyright: Tobis Film

 

Viele Sequenzen bleiben gänzlich still, vor allem dann, wenn die Protagonistin ganz bei sich ist und die Dinge unter Kontrolle hat. Der Score liegt unter den Bildern wie ein Unterbewusstsein und drängt sich in den Vordergrund, wo eine rein assoziative die zeitliche Logik verdrängt. Militärisch anmutende Trommelwirbel verwandeln eigentlich gewöhnliche Spaziergänge durch das Weiße Haus in gespenstische Totenparaden und immer wieder formen tremolierende, quietschende Streicher Momente von großer Eleganz, in denen sich die Kamera an der Schönheit und Symmetrie ergötzt, in Schreckensmomente um. Am stärksten ist eine kurze Sequenz, in welcher der musikalische Terror – ohne dass sich das Bild verändern würde – plötzlich in Festlichkeit umschlägt. Den größten Umbruch des Films können wir nicht sehen, das Gesicht von Hauptdarstellerin Natalie Portman ist vom Zuschauer abgewandt. Wir können ihn nur hören.

Die Filmmusik zu Opfer einer großen Liebe hat letztendlich wirklich Max Steiner komponiert. Doch man kann nicht behaupten, dass er neben Davis die Stufe emporklettert. Ein wenig schwillt die Musik an, kaum merklich. Sie umspielt den Aufstieg sanft, der im fertigen Film kaum gezeigt wird. Steiners Melodie scheint neben den Dingen zu schweben. Erst als Judith oben angekommen ist, wird sie nach und nach deutlicher und bekommt eine Finalität. Sie kann sich ihre Würde bewahren, sie bleibt selbstbestimmt. Im Original trägt der Film einen passenderen Titel: Dark Victory. Noch ihre letzten Worte lauten: „Ich möchte nicht gestört werden.“

Opfer einer großen Liebe
Filmstill aus Opfer einer großen Liebe. Copyright: Warner Home Video

 

Dem Kinopublikum sollte man dieselbe Würde zugestehen: Es muss nicht alles erklärt werden, und die übermäßige Betonung des ohnehin Offensichtlichen gibt einen Affekt der Lächerlichkeit preis. Manche Treppenstufe sollte das Publikum alleine erklimmen, ohne die Hilfe des Regisseurs, ohne musikalische Gehhilfen, Treppenlifte oder gar Fahrstühle.

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