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Falconetti – expressiv, überragend, paradox

Ein Beitrag von Andreas Köhnemann

In unserer Serie Wiederentdeckt geht es um Personen, die die Filmgeschichte prägten und dennoch seltsamerweise „untergingen“. Wir wollen an ihre Verdienste erinnern und ergründen, was aus ihnen im Laufe ihres Lebens wurde. Den Anfang macht Maria Falconetti, die in „La passion de Jeanne d’Arc“ eine exzeptionelle Darbietung liefert.

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Maria Falconetti als Johanna von Orleans
Maria Falconetti

Als Titelfigur in Carl Theodor Dreyers „La passion de Jeanne d’Arc“ (1928) hatte die Vollblut-Theaterschauspielerin Maria Falconetti den ersten großen und zugleich letzten Filmauftritt ihrer Karriere. Sie ging in die Historie eines Mediums ein, das sie selbst zeitlebens gering schätzte.

Kaum ein Vortrag, Text oder Video-Essay über die filmische Großaufnahme kommt ohne einen Hinweis auf ihr ausdrucksstarkes Gesicht in Dreyers Werk aus. Und doch sind Falconettis Name und Falconettis Biografie zu sehr in Vergessenheit geraten. Roger Ebert schreibt in Bezug auf die Schauspielerin von den „Augen, die dich niemals wieder verlassen“ – hinter diesen Augen steckt aber auch eine Lebensgeschichte.

In einem gefilmten Interview sagt Falconettis Tochter Hélène einen überaus bemerkenswerten Satz über ihre Mutter: „Auf der Bühne war sie natürlich und im wahren Leben theatralisch.“ Eine paradox erscheinende Aussage – die jedoch erstaunlich gut zu einer Frau passt, in deren Leben und Ausstrahlung es diverse Paradoxien gab und deren einzige große Kinorolle ebenfalls höchst paradox anmutet: Falconetti verkörpert in La passion de Jeanne d’Arc einen zutiefst bestürzten, verletzlichen Menschen und zugleich eine von ihrem festen Glauben beseelte Heilige.

„Es ist schwer, sie zu beschreiben“, meint Hélène Falconetti in besagtem Interview über ihre Mutter. Unter dem Namen Renée Jeanne Falconetti wurde sie am 21. Juli 1892 in Pantin – einer französischen Stadt in der Region Île-de-France nordöstlich von Paris – als Tochter des von Korsika stammenden Seidenverkäufers Pierre Falconetti und der zwei Dekaden jüngeren Lucie Lacoste geboren. Als sich das Paar trennte, lebte Falconetti zeitweilig bei ihren Großeltern mütterlicherseits, später in einem Heim und ab 1910 wieder bei der Mutter.

Während sie sich im Rahmen einer Stelle bei einer internationalen Gesellschaft in England aufhielt, lernte Falconetti den deutlich älteren Millionär Henri Goldstuck kennen, mit welchem sie in ein Haus nach Paris zog. Da sie seit ihrer Kindheit davon geträumt hatte, Schauspielerin zu werden, nahm sie Unterricht – und sie bestand die Aufnahmeprüfung am Conservatoire national supérieur d’art dramatique.

 

Die Seele hinter der Fassade

Nach ihrem professionellen Bühnendebüt im Jahre 1915 war sie in einigen dramatischen Rollen, vor allem aber in Lustspielen zu sehen. Für kurze Zeit gehörte sie zum Ensemble der Comédie-Française, ehe sie zu den Boulevardtheatern zurückkehrte. Als sie in dem Stück La Garçonne auftrat, saß eines Abends Carl Theodor Dreyer im Publikum.

Ihre 1915 geborene Tochter Hélène, die hauptsächlich bei ihrer Großmutter aufwuchs und 1987 die Doppel-Biografie Falconetti über ihre Mutter und ihren eigenen, ebenso als Schauspieler tätigen Sohn Gérard Falconetti (1949-1984) veröffentlichte, schildert den Abend folgendermaßen: „Dreyer war von dieser Frau beeindruckt, die Charleston auf der Bühne tanzte.“ Trotz modisch-jungenhafter Frisur und reichlich Schminke im Gesicht habe er in ihr die Züge der Protagonistin für sein Kino-Projekt über Jeanne d’Arc entdeckt. Oder wie Dreyer es selbst ausdrückt: „Da war eine Seele hinter dieser Fassade“; er habe in Falconetti „die Reinkarnation der Märtyrerin“ gefunden.

So verabredeten sich die Schauspielerin und der Regisseur in Falconettis Wohnung auf der Champs-Elysées. Alsbald kam es zu einem Screen-Test, bei dem Falconetti keinerlei Make-up trug – und Dreyer sah in der damaligen Mittdreißigerin, die vom Theaterpublikum als „extrovertiert“ und von ihrer Tochter als „furchteinflößend“ empfunden wurde, eine Frau, die die Einfachheit sowie die Leidensfähigkeit der 19-jährigen, vor Gericht stehenden Jeanne d’Arc verkörperte. Eine Paradoxie – und doch, wie sich herausstellen sollte, die optimale Wahl.

 

Ein perfektionistisches Duo

Falconetti war, wie ihre Tochter meint, rasch von dem Projekt begeistert; gleichwohl hatte sie gewisse Vorbehalte gegen das vergleichsweise junge Medium Film. Mit ihren Mitstudierenden von der Schauspielschule hatte sie „zum Spaß“ in zwei Filmen mitgewirkt – im Kurzfilm Le clown sowie im 90-Minüter La comtesse de Somerive (beide 1917); abgesehen davon hatte sie der septième art stets recht wenig Interesse entgegengebracht.

Es gibt zahlreiche Legenden darüber, wie Dreyer seine Hauptdarstellerin während den von Mai bis November 1927 in Boulogne-Billancourt südwestlich von Paris stattgefundenen Dreharbeiten mit fragwürdigen Methoden gequält haben soll, um deren leidenden Gesichtsausdruck hervorzurufen. Hélène Falconetti äußert jedoch, dass damals von journalistischer Seite etliche Gerüchte in die Welt gesetzt wurden. „Das Arbeitsklima war perfekt“ – Falconetti war ebenso perfektionistisch, ebenso „besessen“ wie Dreyer. Es gab immer wieder intensive Gespräche zwischen den beiden, in welchen alle Details einer Szene diskutiert wurden. Die meisten Szenen wurden so oft gedreht, bis alles makellos erschien.

La passion de Jeanne d’Arc (in Deutschland unter den Titeln Die Passion der Jeanne d’Arc, Die Passion der Jungfrau von Orléans sowie Johanna von Orléans bekannt) gilt inzwischen als kinematografischer Meilenstein. So landete das Werk etwa 2010 auf Rang 1 der Essential-100-Liste des Filmfestivals in Toronto und wurde 2012 auf Platz 9 der 50 Greatest Films of All Time der viel beachteten Kritiker_innen-Umfrage von Sight and Sound gewählt. Auch die zeitgenössische Filmkritik erkannte in Teilen die Wucht und Stärke des Dramas; zum wirklichen Publikumserfolg wurde La passion de Jeanne d’Arc seinerzeit indes nicht.

 

  • Maria Falconetti - Bild 1
    Maria Flaconetti in Carl Theodore Dreyers "Die Passion der Jeanne d’Arc"
  • Maria Falconetti - Bild 2
    Maria Flaconetti in Carl Theodore Dreyers "Die Passion der Jeanne d’Arc"
  • Maria Falconetti - Bild 3
    Maria Flaconetti in Carl Theodore Dreyers "Die Passion der Jeanne d’Arc"
  • Maria Falconetti - Bild 4
    Maria Flaconetti in Carl Theodore Dreyers "Die Passion der Jeanne d’Arc"

 

Eine Klasse für sich

Neben der heutigen Wertschätzung des Werks im Allgemeinen gilt die Bewunderung insbesondere der Darbietung Falconettis. Man kenne die Geschichte des Stummfilms nicht, wenn man nicht das Gesicht von Falconetti kenne, schreibt Roger Ebert. Pauline Kael soll (zitiert nach Ebert) angemerkt haben, dass es sich womöglich um „the finest performance ever recorded on film“ handle. Falconettis Art und Weise, Jeanne d’Arc zu porträtieren, sei eine Klasse für sich – außerhalb schauspielerischer Gefilde, meint Steve Rose im Guardian; ihre expressiven Züge würden dem Stummfilm eine Stimme geben, befindet James Berardinelli.

Die Bandbreite an Gefühlen, die Falconetti als Jeanne d’Arc so innig-überzeugend zum Ausdruck bringt, reicht von Verunsicherung und Angst über tiefen Schmerz und Verzweiflung bis hin zu leiser Hoffnung und einem würdevollen Vertrauen in das eigene Handeln sowie in den eigenen Glauben: Ja, sie werde allein sein – allein mit Gott. Es seien „jene Momente, die die Kunst von Handwerk trennen, die einem Kunstwerk Ewigkeit verleihen – und hohen spirituellen Wert“, so Hans Messias im ersten Band der Reclam-Filmklassiker-Edition.

Dreyer und sein Kameramann Rudolph Maté erzählen das Verhör und die Verurteilung Jeanne d’Arcs in erster Linie über Großaufnahmen von gänzlich ungeschminkten Gesichtern. Falconettis Gesicht wird zumeist in der Aufsicht, oft mit geneigtem Kopf gefilmt. Es geht in La passion de Jeanne d’Arc um eine Frau, die mit mächtigen Theologen und deren Scheinheiligkeit konfrontiert wird – eine Frau, die sich gegenüber den Fragenden zwar klug zu behaupten weiß, jedoch erkennen muss, dass ihr frühes Lebensende unausweichlich ist, dass sie ihren inneren Frieden nur dann finden kann, wenn sie ihren Tod akzeptiert. Diese Bilder der Konfrontation und der Erkenntnis, diese expressiven Blicke sind es, durch die Falconetti zur internationalen Ikone wurde – als Schmerzensfrau, als Märtyrerin, vor allem aber als Mensch.

 

Von der kreativen Unabhängigkeit in den Bankrott

Falconetti selbst empfand La passion de Jeanne d’Arc hingegen nicht als Höhepunkt ihrer Karriere; der Premiere des Werks sowie den anschließenden Aufführungen blieb sie fern. Hélène Falconetti erinnert sich an eine gemeinsame Sichtung des Films in späteren Jahren, als sie von ihrer Mutter überraschend nach Italien eingeladen wurde. Beide sahen das Drama an diesem Tag zum ersten Mal: „Ich wartete auf eine Reaktion, aber es kam keine.“ Der siebenten Kunst konnte Falconetti offensichtlich nach wie vor wenig abgewinnen; auch in der von ihrer Tochter geschilderten Kino-Situation war sie ganz der Theatermensch, indem sie ihre Aufmerksamkeit den Reaktionen des Publikums widmete.

Die Höhepunkte ihrer Karriere waren für Falconetti die Theaterauftritte, die parallel zum Dreh sowie in den Folgejahren stattfanden. Vier Tage nach dem Ende der strapaziösen Dreharbeiten stand Falconetti bereits wieder auf der Bühne: In Lorenzaccio spielte sie den männlichen Titelpart – wie es ihr großes Vorbild Sarah Bernhardt bei der Uraufführung des Stücks im Jahre 1896 getan hatte, wodurch ein Jugendtraum in Erfüllung ging. „Das war ihr größtes Glück“, meint Hélène Falconetti; „auf der Bühne vergaß sie sich vollkommen.“ Auch in Bernhardts Paraderolle der Kameliendame war Falconetti zu sehen.

Nach dem Tod von Henri Goldstuck im Jahre 1928 ging Falconetti dem Vorhaben nach, in einem eigenen Theater Stücke ihrer Wahl aufführen zu lassen sowie selbst als Regisseurin aufzuführen – künstlerische Freiheit zu genießen und über maximalen Entfaltungsspielraum zu verfügen. Der Erwerb eines Theaters als Mittel zum Erwerb von kreativer Unabhängigkeit zeigt Falconettis Mut. Es sollten (auch) Stücke zur Aufführung kommen, die gemeinhin nicht als Kassenschlager galten – etwa dezidiert politische Werke.

Doch das Projekt am Théâtre d’Avenue scheiterte noch im ersten Jahr – und die Schauspielerin war bankrott. Es folgte eine Zeit in der Schweiz mit gelegentlichen Vorstellungen in Paris; 1934 war Falconetti gar in der Rolle der Jeanne d’Arc auf der Bühne zu sehen – der Ausklang ihrer Miminnen-Laufbahn folgte allerdings alsbald. Sie wurde zu ihrer großen Enttäuschung nur noch für Mutterrollen in Betracht gezogen – ein Umstand, mit dem Schauspielerinnen jenseits der 30 auch heute noch zu kämpfen haben.

 

Ein Leben ohne Theater? Nicht lebenswert!

Als der Zweite Weltkrieg begann, wollte Falconetti mit ihrem im Jahre 1931 geborenen Sohn in die USA gehen, bekam aber – wie Hélène Falconetti berichtet – keine Einreiseerlaubnis, da sich niemand für sie verbürgen wollte; deshalb reiste sie nach Rio de Janeiro (wo sie in einer Nacht im Casino ihr restliches Vermögen verlor) und später nach Buenos Aires. „Ein Leben ohne Theater war für sie nicht lebenswert“, erläutert Hélène Falconetti – und so gründete sie eine Laienspielgruppe. Dass sich eine kleine französische Gemeinde derweil um ihre Ausgaben und um ihre Miete kümmerte, sei Falconetti gar nicht bewusst gewesen: „Sie scherte sich nicht um Materielles.“

Hélène Falconetti beschreibt ihre Mutter, mit welcher sie bis zu deren Tod nicht viel Zeit verbracht hat, als Faszinosum: „Sie war eine Grande Dame. Ich bewunderte und fürchtete sie gleichermaßen.“ In ihrer letzten Lebensphase wandte sich Falconetti dem Mystizismus und anschließend dem Buddhismus zu. Sie starb am 12. Dezember 1946 im Alter von 54 Jahren. „Warum oder wie sie zu Tode kam, ist nicht bekannt“, sagt Hélène Falconetti – „ihr Tod war genauso geheimnisvoll wie ihr Leben.“ Falconettis Dasein war von Paradoxien und Tragik, aber auch von großem Talent, von wahrer Spielleidenschaft und von Courage bestimmt.

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