zurück zur Übersicht
Features

Eine Frage der Zeit – Gibt es zu lange Filme?

Ein Beitrag von Lucas Barwenczik

Es gibt eine Theorie, der zufolge über die Hälfte des wahrgenommenen Lebens im Alter von sieben Jahren vorbei ist. Weil wir jeden wahrgenommenen Moment mit der Gesamtheit unseres bisherigen Lebens vergleichen, erscheint jeder neue Tag und jedes neue Jahr ein wenig kürzer als das vorhergehende. Der Designer Martin Kleinert hat diese Idee in einer interaktiven Grafik visualisiert. Sie zeigt: Zeitwahrnehmung ist etwas, das sich verändert und wandelt, vom Individuum und seinem Umfeld abhängt. Etwas zutiefst Subjektives also. Dennoch ist Zeit eine Kategorie, die in Filmvertrieb, -rezeption und -kritik oft mit ihrer physikalischen Einheit gleichgesetzt wird, objektiv und vergleichbar.

Meinungen
Filmstill aus "Ausgerechnet Wolkenkratzer!"
Filmstill aus "Ausgerechnet Wolkenkratzer!"

Gedacht und geworben – eigentlich oft gegenteilige Prozesse – wird in den engen Kategorien Kurzfilm (je nach Definition bis zu 30 Minuten), Mittellangfilm (30 bis 60 Minuten, eher selten) und Langfilm (90 bis ca. 120 Minuten). Bei längerer Laufzeit wird in vielen Kinos ein Überlängenzuschlag fällig – der Zuschauer büßt für die Sünde von Filmemacher und Studio, den üblichen Rahmen verlassen zu haben. Die Kinos wiederrum versuchen damit zu kompensieren, dass Zeit verloren geht – Filme von durchschnittlicher Länge können öfter am Tag gezeigt werden. Die meisten zeitgenössischen Produktionen bewegen sich dann auch in diesen Dimensionen. Wo Künstler mit Namen Epen feilbieten, werden diese in Teile gehackt (Nymphomaniac), viele erscheinen nur auf DVD.

Immer wieder werden Filme auch mit dem Urteil „zu lang“ bedacht. Meist gilt es einer einzelnen Veröffentlichung: Eine kurze Suche offenbart, dass es für Autoren auf kino-zeit.de unter anderem auf die Komödie Dating Queen, das Drama Love, das Biopic John Rabe, den Dokumentarfilm Auf halbem Weg zum Himmel und den Horrorstreifen Silent Hill zutreffend erschien. Die meisten, die über Filme sprechen und schreiben, werden schon einmal darauf zurückgegriffen haben und hatten vielleicht sogar eine konkrete Dauer im Kopf, die sie lieber auf dem Schnittraumboden statt auf der Leinwand gesehen hätten: 20 Minuten, 30 Minuten, eine Stunde sogar. (Liegt in dieser Anmaßung nicht die Behauptung, man könne es besser, die man sonst von sich weist?) 

Manchmal wird auch verallgemeinert: Filme sind heutzutage zu lang. Dann wird ein Trend attestiert, vor allem mit Verweise auf den modernen Blockbuster und Teile des Prestigekinos der Award Season. (Siehe etwa hier, hier, hier oder hier). Stunden voller Hobbits oder Transformers hinterlassen nun einmal Spuren.

Der Hobbit
Filmstill aus Der Hobbit: Eine unerwartete Reise © Warner Bros

 

In beiden Fällen bleibt die Frage: Was bedeutet die Wertung „zu lang“ eigentlich; was sagt sie aus? Und: Gibt es wirklich so etwas wie eine optimale Filmlänge? 

Zuerst einmal ist das Urteil „zu lang“ – wie so vieles im Werten und Einordnen von Filmen – die Rationalisierung eines Affekts. Als Label ist es ein Generalist und kann eine ganze Reihe von tatsächliche Schwächen beschreiben: Der Film ist einfach schlecht und somit ist jede Minute zu viel. Bestimmte Szenen oder ein Handlungsstrang erscheinen überflüssig. Die Erzählform ist zu mäandernd und könnte straffer sein. Möglicherweise wurde die Aufmerksamkeitsspanne des Zuschauers überschritten, hell aufleuchtende Handybildschirme mit bunt animierter Zerstreuung im dunklen Saal haben längst keinen Seltenheitswert mehr. Vielleicht waren auch die äußeren Umstände suboptimal, der Multiplex-Sessel unbequem oder die Natur hat ihren Tribut verlangt. Schon Hitchcock forderte: „Die Länge eines Films sollte in einem direkten Verhältnis zum Fassungsvermögen der menschlichen Blase stehen.“ Filmproduzent Jack Warner bezeichnete Bonnie & Clyde spöttisch als „three piss movie“ und – neben anderen Aussagen zwischen Feedback und Verwünschung – als „too long“.

Konkret und präzise arbeitet man mit einer solchen Formulierung also nicht. Sie tritt oft an die Stelle von detaillierteren Betrachtungen bezüglich Form und Dramaturgie, vor allem des Schnitts, der wohl am meisten unser Zeitempfinden im Film lenkt. In Die versiegelte Zeit schreibt Andrej Tarkowskij: „Das filmische Bild wird völlig vom Rhythmus beherrscht, der den Zeitfluss innerhalb einer Einstellung wiedergibt.“ Das Kino kann Zeit raffen, dehnen und sogar rückwärts laufen lassen, manches Wunderwerk lässt sie uns sogar ganz vergessen. Ein „zu lang“ mag für einen groben Eindruck reichen, für alles andere ist die Aussage zu vage.

Man könnte darüber hinaus auch fragen: Bleibt es nicht dem Künstler überlassen, wie lange genau sein Film sein soll? Über Die besten Jahre von Marco Tullio Giordana schrieb Roger Ebert einmal: „Jede Kritik zu Die besten Jahre beginnt mit der Information, dass der Film sechs Stunden lang ist. Kein guter Film ist zu lang, so wie kein schlechter Film kurz genug ist.“ 

Ein Regisseur kann eine Geschichte in fünf oder in 500 Minuten erzählen, je nachdem, wie es ihm passt. Keinem Filmemacher wird man ernsthaft unterstellen wollen, er gehe hier willkürlich zu Werke. Spielzeit hat eine Wirkung, sie lässt einen Film zur schlaglichthaften Momentaufnahme oder getragenen Meditation werden, so wie eine kurze Einstellung desselben Bildes etwas anderes erzählt als eine lange. Manche Ermüdungserscheinung, die irgendwann auftritt, ist gewollt. Manche Reise, mental wie physisch, soll den Zuschauer so strapazieren wie die Figuren. Viele Regisseure des Slow Cinema wie z.B. Lav Diaz wollen ihr Kunstwerk gleich als Präsenz anstatt als Prozess verstanden wissen. Ein Ort, den man besuchen kann, vielleicht eine Heimat.

Externen Inhalt ansehen?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen ein externes Video von YouTube präsentieren. Dafür benötigen wir Ihre Zustimmung in die damit verbundene Datenverarbeitung. Details in unseren Angaben zum Datenschutz.

Zustimmen und ansehen

Trailer zu From What is Before von Lav Diaz

 

Die Kinohistorie ist durchzogen von Konflikten um Schnitte und Kürzungen, Regisseure haben um und gegen Szenen gekämpft. Zensor und besorgtem Studioboss gleichermaßen sind Filme „zu lang“. Welchen Wert haben Zwischenschritte, die normalerweise per Cut übersprungen werden? Ist Drama wirklich, wie Hitchcock gesagt hat, „das Leben, mit den langweiligen Teilen herausgeschnitten“, oder gibt es Raum im Kino für die vermeintlich unbedeutenden, trivialen Momente, die erst durch das Kino zu großen werden? (Eine interessante Betrachtung dieser Thematik gibt es in diesem Video-Essay.)

Den Sieger dieses inneren Ringens der siebten Kunstform sehen wir heute oft schon auf einem rein rhetorischen Level: Kurze Filme werden oft als schlank bezeichnet, an ihnen ist kein Gramm Fett zu viel und sie sind auf das Notwendigste reduziert. Lange Filme beschreibt man hingegen als aufgeblasen und gestreckt. Laufzeit ist ein Luxus, dem man sich hingibt. Kalorien, wo man doch eigentlich fasten sollte.

Consumer culture ist längst Teil der Unterhaltungsbranche und damit auch des Kunstgewerbes geworden. Wir möchten einen Film konsumieren, nicht von ihm konsumiert werden. Er soll uns dienen und sich in den Arbeitsalltag mit seiner knapp gesäten Freizeit integrieren lassen. Die meisten Menschen lachen, wenn man sie fragen würde, ob sie einen dreizehnstündigen Film sehen wollen. 

Externen Inhalt ansehen?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen ein externes Video von YouTube präsentieren. Dafür benötigen wir Ihre Zustimmung in die damit verbundene Datenverarbeitung. Details in unseren Angaben zum Datenschutz.

Zustimmen und ansehen


Video Would you watch a 13 hour film?

 

Man kann es ihnen schwerlich verübeln. Obwohl man manchmal doch verdutzt ist: Wie oft hört man vom binge watching? Von ganzen Serien, die ja der neue Film oder sogar der neue Roman sein sollen, die am Stück oder zumindest in großen Stücken verschlungen wurden? Es ist schwer ein Gott zu sein mit knapp 180 Minuten ist zu lang, aber von manchen Netflix Serien wie Bloodline muss man erst einmal vier bis fünf Folgen und somit Stunden sehen, bis man reinkommt? Naja. Von Schau-Marathons enthusiastischer Fans, die sich etwa elf Marvel-Filme oder sechs Tolkien-Verfilmungen am Stück ansehen, sollte man besser gar nicht erst anfangen.

Auch ein Wechsel des (Kino-)Kulturkreises eröffnet eine neue Perspektive: In Indien etwa wäre ein Spielfilm mit Hollywoodausmaßen eine herbe Enttäuschung für das Publikum, welches Mammutwerke erwartet und gewohnt ist. Indien produziert nicht nur mehr als doppelte so viele Filme pro Jahr, sondern auch annähernd doppelt so lange. Man möchte nicht nur Gegenwert für sein Geld haben, sondern auch über die Länge im besonderen Maße Zeit mit den Figuren und in einer Welt verbringen. Time Magazine-Kolumnist Richard Corliss erhielt auf die Frage, ob Inder „Längenfanatiker“ seien die einfache Antwort: „Nach wessen Standards? Hollywoods? Vielleicht ist es anders herum – vielleicht haben die Amerikaner eine begrenzte Aufmerksamkeitsspanne.“ Wie wir Filmlänge wahrnehmen, ist auch eine Frage von Erfahrung und Sehgewohnheiten. Wer überwiegend mit episch erzählten Sandalenfilmen aufgewachsen ist, der nimmt einen zweistündigen Film anders war als sein Nachbar, der mit kurzweiligem Kinderprogramm im Fernsehen sozialisiert wurde.

Dilwale
Filmstill aus Dilwale © Rapid Eye Movies

 

Ohnehin hilft es, das Kino in Relation zu setzten, ähnliche Diskussionen werden auch in anderen Kunstformen geführt. Hans Magnus Enzensberger wird zitiert mit der Aussage: „Alle Bücher sind zu lang, mit Ausnahme von Telefonbüchern.“ „Kritikerpapst“ Marcel Reich Ranicki, gab offen zu, sich für manches lange Buch keine Zeit zu nehmen. Dennoch liebte er viele umfangreiche literarische Werke und erklärte alleine dem Gedanken ihrer Kürzung eine klare Absage. Würde man Melvilles Moby Dick von dem für die Handlung „Irrelevanten“ befreien, wäre es ein kurzes Büchlein – und nicht mehr Moby Dick, zumindest nicht mehr Melvilles. 

Interessant sind hier jedoch besonders die darstellenden Künste wie Theater und Oper, in denen tatsächlich die Länge einer einzelnen Vorstellung angepasst werden kann. Oft wird dort auf klassische Stoffe zugegriffen, welche dann gekürzt und kompiliert werden, weil man ihre Originallänge einem modernen Publikum nicht mehr zumuten will beziehungsweise sie ihnen nicht zutraut.  Richard Wagner verließ einmal erzürnt den Saal, als der Der fliegende Holländer gekürzt aufgeführt wurde. Mit etwas mehr als zwei Stunden Spielzeit war das Stück sogar noch erheblich kürzer als etwa sein Parsifal (ca. 4,5 Stunden) oder sein sechzehnstündiger Opernzyklus Der Ring des Nibelungen (zugegeben eine Tetralogie.) Aber sucht, wer Wagner sehen will, nicht etwas Gewaltiges und Archaisches? Wer braucht eine moderne Version von etwas, das seine Kraft daraus zieht, wie unmodern es ist?

Ähnliches gilt auch für das Kino. Nichts wird durch die reine Länge gut, nichts wird durch die reine Länge schlecht. Gibt es nun also zu lange Filme? Das hängt vom Betrachter ab und ist, wie Zeitempfinden selbst, subjektiv. Es gibt schreckliche und wundervolle Kurzfilme, es gibt schreckliche und wundervolle Filme von epischer Länge. Sicher ist nur: Wirklich weiter bringt das Label niemanden, mag er noch so ärgerlicher Endlostorturen ertragen haben. Wenn sich ein Film überlang anfühlt, dann ist das im schlimmsten Fall ein Symptom, niemals aber die Krankheit selbst. 

Auch eine optimale Länge gibt es natürlich nicht. Das Korsett von 70 bis 120 Minuten, das wir dem Kinofilm anlegen, schadet allen. Letztendlich ist Zeit eine der Gestaltungsmöglichkeiten, die dem Künstler gegeben ist, die er nutzen kann, ganz nach seinem Belieben. Nicht jedes Kunstwerk muss für jeden gemacht werden und nicht jedes Kunstwerk muss jedem zur Verfügung stehen. (Genauso muss auch nicht jeder jedem Kunstwerk zur Verfügung stehen. Flucht ist immer eine Option.) Wer einen Film von zehn Stunden Länge dreht, weiß, wen er verliert, welchen Rahmenbedingungen er sich dadurch verweigert und welche er offenlegt. Genauso ist es bei vier Stunden,  156 Minuten oder – wie in Fall von Anders Webergs Ambiancé – 30 Tagen. 

Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang: Komponist John Cage hat in seinen Stücken Noten, die, wenn man sie korrekt spielt – nämlich „As Slow As Possible“ -, 639 Jahre dauern. Das könnte man durchaus als „zu lang“ empfinden. Könnte.

Tags

Meinungen