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Ein Rück- und ein Ausblick: Das 63. Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg – Aus der Zeit gefallen

Ein Beitrag von Joachim Kurz

Meinungen

Es gibt Festivals, zu denen man eine besondere Beziehung hat — sei es, weil sie einem aufgrund der Geographie oder des Programm besonders gut gefallen oder aufgrund der Freundlichkeit und Herzlichkeit der Menschen, denen man dort begegnet. Manche sind einem aber auch schlicht deswegen besonders nahe, weil sie einem Heimat sind, weil sie unmittelbar vor der eigenen Haustüre liegen, weil man ein Stück weit mit ihnen aufgewachsen ist, hineingewachsen in die Filmwelt, weil sie einem neue Räume und Perspektiven eröffnet haben.

 
(Das Stadthaus in Mannheim im Festivalgewand, Copyright: Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg)

In meinem Fall ist das Festival in Mannheim und Heidelberg mir tatsächlich über lange Zeit Heimat gewesen. In den letzten fünf Jahren allerdings fand ein schleichender Prozess der Entfremdung und des Befremdens statt, der nicht allein dadurch zu erklären ist, dass ich mittlerweile viel auf anderen Festivals bin. Sondern auch durch das Gefühl, dass hier in Mannheim und Heidelberg die Uhren stehengeblieben sind — und das gleich in mehrfacher Hinsicht.

Das liegt unter anderem an der Auswahl der Filme, sie wird von Jahr zu Jahr übersichtlicher. Nun ist eine Beschränkung auf wenige, aber sorgsam ausgesuchte Filme prinzipiell ein richtiger Schritt, doch es mangelt in den letzten Jahren zunehmend auch an der Klasse der gezeigten Werke, die allzu oft nichts als Varianten sattsam bekannter Arthouse-Formeln sind; da steht viel Selbstfindungsesoterik (gerne mit Kindern, die vorzugsweise ihre Väter suchen) neben federleichten bis erdigen Komödien ohne viel Tiefgang und Filmen, die allenfalls so tun, als seien sie politisch oder gesellschaftlich relevant. Dass die Filme von Newcomern gemacht werden, wie das Festival nicht müde wird zu betonen, sagt wenig bis nichts über die Qualität aus, ebenso wie ihre möglichst exotische Herkunft. Viel wichtiger wäre rückblickend eine Betrachtung, ob die vollmundig angepriesene Qualität der Neulinge nicht vielleicht doch eine Eintagsfliege und ein Phantasma war. Und da fällt schon auf, dass sich aus den letzten Jahrgängen kaum einer der in Mannheim gezeigten Filmemacher durch weitere Werke nachhaltig in Erinnerung bringen konnte.

Die eigene Handschrift, die die Filme auszeichnen soll, entpuppt sich am Ende häufig genug als bemühte Variation von Geschichten und ästhetischen Konzepten, die irgendwann in den 1990er Jahren steckengeblieben sind. Viel zu selten findet man unter den Filmen echte Entdeckungen wie in diesem Jahr der estnische Beitrag In the Crosswind — Risttules, im letzten Jahr Benny Vandendriessches Drift oder 2011 den kanadischen Film Le vendeur von Sebastien Pilote.

Meister und Werke (aber keine Meisterwerke)

Ansonsten bleiben aus dem diesjährigen Wettbewerb vor allem der aserbaidschanische Beitrag Nabat, der brasilianische Film Farewell — A Despedida und mit Einschränkungen der uruguayische 23 segundos in Erinnerung. Wirklich eingebrannt hat sich aber außer In the Crosswind kein Film, es bleibt der Eindruck bestehen, dass hier vor allem das Prinzip „gut gemeint“ und eine thematische Eintönigkeit vorherrscht, die einem die Lust auf diese Art von Kino gründlich vermiest.

Um den Nachwuchs für einen zukünftigen „New Master of Cinema“ sieht es in den kommenden Jahren wohl eher schlecht aus und die Namen, die das Festival als Entdeckungen anpreist (François Truffaut, Rainer Werner Fassbinder, Lars von Trier, Thomas Vinterberg, Jim Jarmusch, Bryan Singer und Atom Egoyan), müssen wohl noch eine ganze Weile als Paten für den Entdeckergeist herhalten.

Im Zweifelsfall muss es wohl wieder ein Belgier richten: Dass nach dem ersten neuen Meister des Kinos Frédéric Fonteyne (2013) nun abermals der folgende Preisträger Geoffrey Enthoven aus dem Nachbarland kommt, ist schon ein wenig ungeschickt — zumal ja auch der recht konventionell geratene Eröffnungsfilm Tous le chats sont gris (auch dieser erzählt von einer Selbst-und Identitätsfindung eines Kindes auf den Spuren eines verlorengegangenen Vaters) von dort stammt.

Dass nach Preisträgern wie Theo Angelopoulos, Otar Iosseliani, Atom Egoyan, Aleksandr Sokurov, Edgar Reitz, Wim Wenders und Zhang Yimou die Trophäe (ehemals „Master of Cinema“) durch ein „New“ ergänzt und damit entwertet wurde, ist ein Hinweis, den man verschieden interpretieren kann: Entweder gibt es in der Sichtweise des Festivals keine echten „Meister“ mehr oder diese haben keine Lust mehr nach Mannheim zu kommen, so dass man auf „neue Meister“ ausweichen kann. Auch das ist ein weiteres Beispiel dafür, wie man erfolgreich am eigenen Ruf kratzt.

Im Wettbewerb sind starke Qualitätsunterschiede zwischen den Teilnehmern nicht verwunderlich, zumal der wachsende Konkurrenzdruck, die weiterhin steigende Zahl an Festivals sowie die selbst auferlegten Kriterien (die Filme müssen nicht nur von „Newcomern“ stammen, sondern dürfen auch nicht in Berlin, im Wettbewerb von Venedig und Locarno, in allen Reihen von Cannes sowie bei irgendeinem anderen deutschen Festival zu sehen gewesen sein) für die Teilnahme am Kernstück des Festivals den Kreis der Kandidaten stark einschränken. Das bedeutet in den letzten Jahren eben auch zunehmend, dass die Werke, die in Mannheim und Heidelberg im Wettbewerb gezeigt werden, nicht unbedingt die besten sind, sondern jene, die übrig geblieben sind. Ob das unbedingt ein Gradmesser für deren Qualität ist, sei dahingestellt.

Ernüchternd sind auch die „Sondervorführungen“ und die „International Discoveries“; jene Reihen also, für die die strengen Maßstäbe des Wettbewerbs nicht gelten. Hier könnte man aus dem Vollen schöpfen — und fördert doch oft nur Durchschnittliches bis Enttäuschendes zutage. Verwirrend ist beispielsweise die Programmierung der Sondervorführungen, bei denen sich neben ganz und gar überzeugenden Beiträgen wie den Previews von Birdman, Amour Fou und Die Wolken von Sils Maria auch Filme befinden, die bereits im Kino gelaufen sind, wie Roman Polanskis Venus im Pelz, Hiner Saleems My Sweet Pepper Land oder Gustav Deutschs Shirley — Visionen der Realität. Als wirklich frisch und überraschend erwies sich hier allenfalls der deutsch-österreichische Film Von jetzt an kein zurück von Christian Frosch, der die widerspenstige bundesdeutsche Jugend kurz vor den Ereignissen des Jahres 1968 unter die Lupe nahm. Sonst aber fehlt es auch in dieser Reihe an einer klaren Linie, an einer Handschrift, einer Idee, die über jene eines Gemischtwarenladens hinausgeht, der unterschiedlos Altes und Neues, Bedeutendes und Triviales (etwa Nine Days and One Morning) nebeneinander stellt.

Auch die „Internationalen Entdeckungen“, nominell zwar von den Ausschlusskriterien befreit, aber sichtbar um Exklusivität (als Welt-, Europa- oder zumindest Deutschlandpremiere) bemüht, bestätigen das eher durchwachsene Bild und den spürbaren Bedeutungsverlust des Festivals. Wirklich überzeugen konnten hier vor allem der libanesische Film Ghadi und Canopy aus Australien. Die enttäuschende Auswahl ist um so erstaunlicher, da im Sichtungsgremium des Festivals erfahrene Kritiker und Experten sitzen, die das internationale Angebot genaustens kennen. Offensichtlich kommen die aber nicht ausreichend zum Zuge.

Bedauerlich ist es auch, dass Dokumentarfilme im gesamten Programm des Festivals (im Gegensatz zu früheren Jahren, wo es sogar einen eigenen Wettbewerb gab, was übrigens auch für die Kurzfilme gilt) nahezu keine Rolle mehr spielen — mit Ausnahme des überaus gelungenen 35 Cows and a Kalashnikov. Dabei erlebt der Dokumentarfilm gerade in den vergangenen Jahren einen regelrechten Boom und zeigt mit Filmen wie Sergej Losnitzas Maidan zudem, wie aktuell und politisch er sein kann.

Fallengelassen wurde anscheinend in den letzten Jahren auch die Vergabe des Filmkulturpreises (letztmalig 2011 vergeben), der Spezialpreis in memoriam Rainer Werner Fassbinder wurde aufgrund von Namensstreitigkeiten eingestellt. Ein bisschen viel Diät und Sparflamme auf einmal für ein finanziell gut ausgestattetes Festival

Ein Abschied auf Raten

Man wird das Gefühl nicht los, dass es ein Abschied auf Raten ist, der sich hier vollzieht. Jahr für Jahr wird die Gästeliste, die man am Akkreditierungscounter ausgehändigt bekommt, dünner, von Ausgabe zu Ausgabe schrumpft das Programm in sich zusammen, werden die Bilder der Fachbesucher und Pressevertreter auf der Pinnwand im Stadthaus N1 weniger. Während die sommerliche Partnerveranstaltung „Festival des deutschen Films“ auf der anderen Rheinseite in Ludwigshafen sichtbar boomt, ist das altehrwürdige Festival diesseits der Brücke, die Baden-Württemberg von Rheinland-Pfalz trennt, sichtbar in die Jahre gekommen. Nach 22 Uhr verlieren sich die Besucher auf der Festivaletage und man wundert sich schon ein wenig, wie Jahr für Jahr neue Jubelmeldungen über gebrochene Besucherrekorde trotz des immer übersichtlicher werdenden Programms zustande kommen. Aber das Papier der stets ein wenig verdrechselt klingenden Pressemitteilungen ist ja geduldig.

Bemüht man sich dann einmal nach Heidelberg, wo das Festival am Schloss residiert, verstärkt sich hier der Eindruck, dass es eine sicht- und spürbare Lücke gibt zwischen der Stadt und dem Festival selbst. Statt wie früher die Kinos der Studentenstadt mit einzubeziehen ins Festivalgeschehen, wirkt der Heidelberger Ableger wie ein Ufo, das hoch über der Stadt gelandet ist und das sonst herzlich wenig damit zu tun hat. Vielleicht ist das ja schon fast ein wenig sinnbildlich: Abgehoben und weit über allem schwebend.

Hier wie dort fehlt dem Festival etwas ganz Entscheidendes — eine Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten vor Ort und gerne auch eine bessere Nutzung der beiden Städte als Spielfläche. Mannheim und Heidelberg sind Orte mit einer reichen Kultur und zwei ganz unterschiedlichen kulturellen Schwerpunkten: Während Mannheim sich als „UNESCO City of Music“ beworben hat, versucht Heidelberg das gleiche im Bereich Literatur. Einen sichtbaren Niederschlag im Programm des Festivals sucht man allerdings vergebens. Überhaupt würde man sich eine stärkere Verankerung und Vernetzung des Festivals in der Region wünschen — warum zum Beispiel nicht ein Showcase der Filmszene in der Metropolregion, in dem die hier realisierten Filme Kings of Kallstadt oder Vielen Dank für nichts gezeigt werden könnten?

Gerade für ein Festival wie Mannheim-Heidelberg, das seine glorreiche Geschichte gerne betont, wäre eine Retrospektive (meinetwegen gerne mit Filmen aus der eigenen Historie) durchaus angemessen, doch auch diese Reihe, die früher im engagierten Cinema Quadrat in Mannheim gezeigt wurde, fiel dem internen Rotstift zum Opfer. Es sind nicht wahrgenommene Gelegenheiten wie diese, die den Verdacht entstehen lassen, dass genau solche Anknüpfungspunkte an das unmittelbare Umfeld und an andere Akteure in der Gegend gar nicht erst erwünscht seien. Man bleibt viel lieber unter sich und ist sich selbst genug.

In den beiden Städten, so hört man immer wieder — vornehmlich hinter vorgehaltener Hand und zu später Stunde-, wächst von verschiedenen Seiten der Unmut über verpasste Chancen und das Gefühl, dass der Glanz früherer Tage heute verblasst ist. Doch noch wird (bis auf wenige Ausnahmen) überwiegend geschwiegen, während die lokale Presse brav die Jubelmeldungen sekundiert und überwiegend Hofberichterstattung betreibt, während bundesweite und internationale Medien immer seltener über das Festival berichten.

Bleibt alles anders?

Im nächsten Jahr, so deutet die abschließende Pressemeldung an, wird sich das Festival bewegen — zumindest zeitlich soll es um drei bis vier Wochen vorverlegt werden. Grund hierfür sei die bisherige terminliche Kollision mit dem American Film Market. Wer diesen allerdings nur ein klein wenig kennt, fragt sich schon verwundert, welche Berührungspunkte es zwischen den beiden Veranstaltungen gibt, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Einkäufer der Weltvertriebe und Sendeanstalten, die früher in Mannheim ein- und ausgingen, sucht man mittlerweile mit der Lupe. Von Verleihern, die unter den Filmen nach neuer Ware für die deutschen Kinos suchen, ganz zu schweigen.

Die wenigen Highlights, hier zumeist in der Kategorie Sondervorführungen einsortiert, sind längst untergekommen, der Rest des Programms findet selten bis nie den Weg in die Lichtspielhäuser. Ob das immer nur an der Ignoranz der Einkäufer und der Kinos liegt, sei dahingestellt — zumal die in Mannheim traditionelle Jury der Kinobetreiber in diesem Jahr nur zwei statt der üblichen drei Empfehlungen für einen Kinoeinsatz aussprach. Mehr war hier offensichtlich nicht zu holen. Auch das könnte man durchaus mal als Hinweis wahr- und ernst nehmen.

Es bleibt abzuwarten, ob die zeitliche Verschiebung die einzige Veränderung bleibt, die vorgenommen wird. Denn es ist überdeutlich, dass ein dringender Handlungsbedarf besteht, wenn Mannheim-Heidelberg seinen guten Ruf weiter beibehalten will. Noch wähnt man sich in der ersten Riege der großen internationalen Festivals, zu spüren ist davon herzlich wenig.

Vielmehr hat man den Eindruck, dass sich Mannheim-Heidelberg irgendwo im Niemandsland zwischen provinziell und international befindet und zudem auf halbem Weg zwischen Publikumsfestival und Branchentreff feststeckt. Es ist an der Zeit, dass sich das Festival neu ausrichtet und damit beweist, dass es dazu imstande ist, sich mit der Zeit zu bewegen, ohne sich an den Zeitgeist anzubiedern.

In den nächsten beiden Jahren stehen gleich zwei bzw. drei Jubiläen auf dem Programm: 2015 feiert der Festivalleiter Dr. Michael Kötz sein 25-jähriges Dienstjubiläum (in der Provinz dauern Regentschaften noch ein bisschen länger). Und ein Jahr später feiern beide, das Festival und sein Leiter, jeweils ihren 65. Geburtstag. Eigentlich ein guter Zeitpunkt für die Rente — oder der richtige (und spätestmögliche) Termin, das Steuer noch einmal entscheidend herumzureißen und die Doppelbelastung von gleich zwei Festivals anders und neu zu verteilen.

Bislang ist das Mannheim-Heidelberg sehr stark, vielleicht zu stark geprägt von der Person seines Leiters, der es mit viel Eloquenz, rhetorischem Geschick und manchmal barscher Autorität versteht, immer wieder den Ruhm vergangener Tage in Erinnerung zu rufen. Aber ob das auf Dauer auch eine glänzende Zukunft des Festivals sichert, daran muss man allerdings zweifeln.

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