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Der Lärm, die Stille, das Digitale

Ein Beitrag von Andreas Köhnemann

In der ersten Episode der Channel-4-Serie Banana gibt es einen klug geschriebenen Monolog, in dem der junge Freddie (Freddie Fox) seinem Mitbewohner Dean (Fisayo Akinade) erklärt, weshalb er dessen hochdramatische Schilderung eines Familienzerwürfnisses nicht glauben kann.

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Banana
Die "Banana"-Clique

Denn wenn solche Dinge „richtigen Menschen“ im „richtigen Leben“ passierten, gebe es stets einen Wagen, der im ungünstigsten Moment (etwa nach der theatralischen Exklamation „Lebt wohl! Für immer!“) nicht anspringe, oder einen Hund, der störe, oder einen Hut, der nicht passe, – „something that doesn’t fit“, irgendetwas, was die Sache „real“ mache. Banana verfügt über zahlreiche solcher Momente, in denen wir in Sequenzen, die in fiktionalen Erzählungen zu Standardsituationen geworden sind, etwas Wahrhaftiges spüren, da in ihnen die enervierende, oft unfreiwillig komische Banalität des Lebens hindurchscheint, die unser Dasein von einer Inszenierung unterscheidet.

Die Erzeugung dieser Brüche kann durchaus auch kalkuliert anmuten und als inszenatorisches Konzept allzu erkennbar sein: Im Comedy-Bereich dienen Fehlleistungen, Tücken des Objekts oder der Einbezug uns bekannter Alltagsfaktoren nicht selten als schnelle Gags; in etlichen Subgenres (zum Beispiel der Gangsterkomödie, dem Slasher-Film oder der romcom) ist die Dekonstruktion oder Umkehrung des Bewährten inzwischen ebenfalls ein Klischee und damit nicht weniger abgedroschen. Gemeint ist mit Momenten fiktionaler Wahrhaftigkeit daher auch nicht das kecke bis zynische Kichern der Postmoderne, nicht die oft recht feige Ironisierung, aber auch nicht zwangsläufig eine Orientierung am direct cinema oder cinéma vérité. Das Heranrücken an die absurde, nie ganz kinoreife Realität muss weder in die Alberei noch in das Abgeklärte oder das Dokumentarische führen; es kann schlichtweg bewirken, dass wir uns dem Gezeigten und Gesagten, den Figuren und deren inneren sowie äußeren Zuständen näher, manchmal gar beängstigend nahe fühlen.

Ein Film, der dies zur Perfektion beziehungsweise zur perfekten Imperfektion bringt, ist Kenneth Lonergans Manchester by the Sea. Erzählt wird darin von dem in sich gekehrten Lee (Casey Affleck), der nach dem frühen Tod seines Bruders Joe (Kyle Chandler) die Vormundschaft für seinen 16-jährigen Neffen Patrick (Lucas Hedges) übernehmen soll. Zunächst meint man, das alles bereits zu kennen und ziemlich genau vorhersehen zu können: Ein Eigenbrötler und ein Teenager müssen sich mühsam zusammenraufen; es wird Schritte nach vorn geben, ein paar Rückschläge und schließlich den Augenblick der Katharsis. Doch bei Lonergan kommt es anders. Zum einen deshalb, weil das Skript, die Inszenierung und das großartige Schauspielensemble illustrieren, dass es Dinge gibt, die kein feel-good-Moment, keine weise Einsicht und keine noch so anrührende Liebesgeste aufzuhellen vermögen. An dieser Stelle muss insbesondere das Spiel von Michelle Williams hervorgehoben werden, die als Lees (Ex-)Frau Randi einige Szenen des Werks mit einer unfassbaren, ungeschönten Wahrhaftigkeit auflädt – einem Zorn, einer Reue und einer Liebe, die nichts mit overacting, aber sehr viel mit der Rohheit, Widersprüchlichkeit und Komplexität, auch der Ungeschicktheit echter Empfindungen zu tun haben.

Und zum anderen deshalb, weil die Realitätsnähe in Manchester by the Sea so konsequent durch die im Banana-Monolog beschriebenen Störungen hergestellt wird: durch ärgerlich-dumme, kleine Missverständnisse, menschliches oder technisches Versagen in Situationen, in denen man dies ansonsten höchstens bei den Simpsons (oder brachialen Komödien ohne Gespür für Timing) erwarten würde. Und all das relativiert die Tragik der Geschehnisse nicht; es schafft keine Distanz zu den emotionalen Vorgängen – vielmehr ergibt sich aus dem Profanen eine Intensivierung, da das, was Lonergan und dessen Team uns präsentieren, verdammt nah an unserem Alltags(er)leben ist.

Manchester by the Sea
Bild aus Manchester by the Sea von Kenneth Lonergan; Copyright: Universal Pictures International Germany GmbH

 

Während es in Manchester by the Sea überwiegend das lästig Lärmende (etwa das Vibrieren eines Handys) ist, das uns an die Wirklichkeit gemahnt, kann es in anderen Filmen der nicht minder unangenehme Klang der Stille sein – the sound of silence. Hätte Mike Nichols sein New-Hollywood-Werk Die Reifeprüfung (1967) damit enden lassen, dass Ben (Dustin Hoffman) und die Beinahe-Braut Elaine (Katharine Ross) im Rausch des Augenblicks in den Bus steigen, nachdem Ben Elaines Hochzeit verhindert hat, wäre es ein perfekter Kino-Schluss gewesen. Doch die Kamera von Robert Surtees blendet nicht ab, der Editor Sam O’Steen macht keinen Cut, es geht einfach weiter: Das junge Paar nimmt Platz – und hat sich nichts zu sagen. Die Magie verfliegt, das Leben fährt unerbittlich fort – und die Richtung muss nicht unbedingt „happily ever after“ heißen. Das ist natürlich eine Unverschämtheit, eine schallende Ohrfeige ins Gesicht einer jeden Zuschauerin und eines jeden Zuschauers – oder anders formuliert: Es ist wunderbar, ehrlich und wahrhaftig.

Ein Werk, das uns noch extremer mit dem Schweigen zwischen zwei Figuren konfrontiert, ist Marco Bergers Plan B (2009). Der Film, der davon erzählt, dass ein Mann (Manuel Vignau) den neuen Partner (Lucas Ferraro) seiner Ex-Freundin (Mercedes Quinteros) verführen will, hat mit seinem konstruierten, geradezu boulevardesken Plot zunächst nur wenig Bezug zum echten Leben. Doch in den ziellosen Konversationen und – vor allem – in den Szenen, in denen es zu einer peinlichen, fast unerträglichen Stille kommt, weil das, was es zu sagen gäbe, von den beiden Protagonisten nicht ausgesprochen werden kann, entwickelt der Film dank einer Kamera, die einfach dranbleibt, eine Wahrhaftigkeit und ein ernsthaftes Interesse an Momenten des Miteinanders, wie man sie auf der Leinwand viel zu selten erlebt.

Auch in Kelly Reichardts Certain Women findet sich eine Situation, in welcher die potenziell romantische Tat einer Figur (verkörpert von der bemerkenswerten Lily Gladstone) dem innerfilmischen reality check nicht standhalten kann. Ein rechtzeitiges Abblenden hätte uns in der Hoffnung lassen können, dass eine sehr schöne Beziehung ihren Anfang nimmt. Doch wer Hunger auf süße Lügen hat, sollte die Werke von Reichardt lieber meiden.

Plan B
Bild aus Plan B von Marco Berger; Copyright: Pro Fun-Media

 

Dass es den belgischen Brüdern Jean Pierre und Luc Dardenne (Rosetta, Der Sohn) gelingt, in ihren Arbeiten ein großes Stück Wirklichkeit unterzubringen, ist gewiss ebenfalls keine Überraschung mehr. Interessant ist allerdings, dass sie dies auch im Rahmen einer klassischen Genre-Handlung schaffen. Das unbekannte Mädchen kann als whodunit rubriziert werden: Es gibt ein Verbrechen, diverse Verdächtige und eine Person, die (neben der Polizei) auf eigene Faust ermittelt, um der „Wer hat’s getan?“-Frage auf den Grund zu gehen. Was das Werk weit über den Krimi-Durchschnitt hinaushebt, ist die Zeichnung und schauspielerische Interpretation der Protagonistin Jenny (Adèle Haenel).

Der Stärke der Figur fehlt alles Pathetische. Jenny ist kein Mensch, der alles kann und alles weiß; sie reagiert nicht immer angemessen. In den Interaktionen der jungen Ärztin mit dem zurückhaltenden Praktikanten Julien (Olivier Bonnaud) sowie mit Patient_innen oder anderen Leuten, denen Jenny im Laufe ihrer Suche nach Antworten begegnet, stecken Unbeholfenheit und Irrtum. Wenn Jenny Hausbesuche macht, wird weder das Elend der Bewohner_innen ausgestellt, noch werden die „einfachen Verhältnisse“ verklärt. Hier wird ein kleines Geschenk ganz unfeierlich aus dem Fenster in die Hände der Beschenkten geworfen, weil diese es beim Verlassen der Wohnung vergessen hat; es werden Worte gewechselt, die zunächst ihr Ziel verfehlen. Schlagfertigkeit und ironische Distanz gibt es in diesem Kosmos nicht – und genau dadurch entsteht ein hohes Maß an Aufrichtigkeit.

Das unbekannte Mädchen
Bild aus Das unbekannte Mädchen von Jean Pierre und Luc Dardenne; Copyright: Temperclayfilm

 

Aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken sind natürlich auch die technischen Errungenschaften unserer Zeit. Bei manchen Kinobesuchen blitzt die Gegenwart – das Hier und Jetzt – trotzdem nur dann auf, wenn irgendwo im Saal plötzlich ein Smartphone-Display zu leuchten beginnt: weil unsere aktuellen Wege der Kommunikation in vielen Werken nur oberflächlich oder als Gimmick eingebaut, statt auf sämtlichen filmischen Ebenen stimmig eingeflochten und reflektiert zu werden.

Zu den Ausnahmen zählt Olivier Assayas‘ Personal Shopper. Darin erhält die Protagonistin Maureen (Kristen Stewart) Nachrichten auf ihr Mobiltelefon, bei denen es sich möglicherweise um ein sehnlichst erwartetes Zeichen handelt. Eine lange Zugfahrtsequenz des Films besteht im Wesentlichen aus Schuss- und Gegenschuss-Aufnahmen von Maureens Display und der Reaktion der Figur auf die eintreffenden Nachrichten. Wir alle haben Zugfahrten (oder Busfahrten oder Abende auf dem Sofa) erlebt, die exakt dieser Dramaturgie folgten; wir alle kennen die großen Erwartungen, die an zwei blaue Häkchen oder den Nachrichtenempfangston eines Handys gekoppelt sind – so albern und traurig das meistens auch sein mag. Doch kein Filmemacher hat es vor Assayas geschafft, diesen Vorgang und diese Gefühle derart treffend und perfekt getimt umzusetzen. Mit Stewart hat der Franzose zudem eine Schauspielerin gefunden, die all die damit verbundenen Emotionen punktgenau zu vermitteln versteht.

Im Bereich des Coming-of-Age-Kinos, in welchem die Integration unserer aktuellen Mitteilungskultur ohne Zweifel besonders entscheidend ist, wenn die Macher_innen es anstreben, eine Realitätsnähe zu erzeugen, ist Kerem Sanga in First Girl I Loved eine überaus eindrückliche Sequenz gelungen. Der Film, der derzeit leider noch keinen deutschen Verleih hat, schildert, wie sich die schüchterne Anne (Dylan Gelula) in die Softball-Spielerin Sasha (Brianna Hildebrand) verliebt. Im Verlauf einer WhatsApp-Session zwischen den beiden werden ein „:)“ oder „?“ so sinnlich mit der audiovisuellen Gestaltung verwoben, wie sie von den zwei Schülerinnen in diesem Augenblick wohl auch erlebt werden. Ganz ohne das Reißerische von Social-Media-Schockern wie Unknown User (2014) oder Nerve (2016) erzählt Sanga davon, wie sehr die neuen Kommunikationsformen unser Leben (und Lieben) beeinflussen.

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Trailer zu First Girl I Loved

 

Der Lärm, die Stille, das Kantig-Unfeine und, nicht zuletzt, das Digitale sind Teile unseres Alltags – und deshalb sollten sie auch zentrale Bestandteile des Kinos sein.

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