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Dee Rees – Den Ungehörten eine Stimme geben

Ein Beitrag von Falk Straub

Das Südstaatendrama Mudbound brachte den endgültigen Durchbruch. Regisseurin und Drehbuchautorin Dee Rees macht die Übersehenen sichtbar und gibt den Ungehörten eine Stimme, zu denen sie als schwarze lesbische Frau selbst zählt.

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Dee Rees am Set von Mudbound
Dee Rees am Set von Mudbound

Die Kritik feierte bereits ihr Spielfilmdebüt, ihr erster Fernsehfilm erhielt 12 Nominierungen und 4 Preise bei den Primetime Emmy Awards, doch so richtig nahm Dee Rees‘ Karriere erst Fahrt auf, als ihre zweite Arbeit für die große Leinwand vom Streamingriesen Netflix für den kleinen Schirm gekauft wurde. Mudbound (2017) verortete die US-amerikanische Autorenfilmerin endgültig auf der kinematografischen Landkarte. Dabei macht Rees nicht viel anders als zuvor.

Auf ein Genre lässt sich Dee Rees ungern festlegen. In ihrer bis heute überschaubaren Filmografie steht Dokumentarisches neben Fiktionalem, stehen Kino- neben Fernseharbeiten, Coming-of-Age-Filme neben Biopics, Historiendramen neben Science-Fiction. Seit 2005 ist die am 7. Februar 1977 in Nashville, Tennessee geborene Diandrea „Dee“ Rees mittlerweile im Filmbusiness. Dass es nicht zu einem umfänglicheren Œuvre gereicht hat, hat viel mit den Mechanismen dieses Geschäfts zu tun.

Ihr Debüt Pariah (2011), das beim Sundance Film Festival seine Premiere feierte und dort von Focus Features gekauft wurde, brachte Rees einen Anschlussvertrag für weitere Drehbücher ein. Doch keiner ihrer seither entwickelten Stoffe schaffte es vom Papier auf die Leinwand oder den Fernsehschirm. Durchaus üblich in einer Branche, in der weitaus mehr geschrieben als letztlich produziert wird und viel vom eigenen Netzwerk abhängt. „Ich kam nicht aus der Filmindustrie. Ich kannte niemanden. Ich musste diese Beziehungen erst aufbauen“, erinnert sich Rees in einem Interview mit dem Fimmaker Magazine an die Anfänge ihrer Karriere.

All ihren realisierten Projekten gemein sind Rees‘ präzise Charakterzeichnung, die selbst Neben- wie Hauptfiguren ausarbeitet und ihnen so mehr Glaubwürdigkeit verleiht, eine durchdachte Farbstimmung und ein gut vorbereitetes, straff organisiertes und dadurch kostengünstiges Set. Ihr eigener Weg ist ähnlich verschlungen und abwechslungsreich wie der ihrer Figuren.

Pariah; Copyright: Focus Features
Pariah; Copyright: Focus Features

 

Von Nashville nach New York: Anfänge einer Autorin

Im Süden der USA aufgewachsen, bekam Dee Rees schon als Kind gesellschaftliche Doppelmoral und (versteckten) Rassismus zu spüren. Ihre Eltern lebten in Nashville zwar in einem weißen Vorort, aber auch Tür an Tür mit einem Mitglied des Ku-Klux-Klans. Während Rees einen Sommer lang mit dessen Enkeltochter spielte, wurde sie auf deren Geburtstagsfeier aufgrund ihrer Hautfarbe nicht eingeladen, was das Mädchen auch rundheraus zugab. Ein für ihre späteren Filme prägendes Erlebnis.

Rees‘ früh erwachtes politisches Bewusstsein wurde durch ihre Mutter gestärkt. Die las Bücher von Alice Walker, Maya Angelou, Toni Cade Bambara oder Gloria Naylor, die in einem großen Koffer unter der Treppe lagen. Als Jugendliche erweiterte Rees diesen Kanon nach ihren eigenen Vorlieben und Bedürfnissen. Über Autorinnen wie Audre Lorde trat zur feministischen eine queere Perspektive hinzu. Rees lernte, was es in den USA bedeutete, schwarz, weiblich und lesbisch zu sein. Ein Themenkomplex, der ihren ersten abendfüllenden Spielfilm, den semi-autobiografischen Pariah, bestimmen sollte, dem sie wiederum ein Zitat Lordes vorangestellt hat. Auch wenn die Regisseurin mittlerweile schwarze Filmemacherinnen wie Euzhan Palcy, Kasi Lemmons und Julie Dash zu ihren Vorbildern zählt, sind Schriftstellerinnen bis heute ihre wahren Heldinnen.

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Zum Film kam Dee Rees denn auch zufällig. Nach ihrem Schulabschluss studierte sie Betriebswirtschaft und stieg in die Pharmaindustrie ein. Was auf dem Papier aufregend klingen mag, bedeutete in der Praxis, Slipeinlagen, Warzenentferner und Fußballenpolster an die Frau und den Mann zu bringen. Ein Werbedreh für eine Schuheinlage brachte Rees unverhofft auf den Geschmack, an einem Set zu arbeiten. Sie schrieb sich an der New York University (NYU) für Film ein, wo Spike Lee erst ihr Professor, später ihr Mentor und schließlich einer der ausführenden Produzenten ihres Spielfilmdebüts wurde. Erste Erfahrungen sammelte sie als Praktikantin von Lees Film Inside Man (2006) und seiner TV-Mini-Serie When the Levees Broke (2006).

 

Pariah: Eine Außenseiterin wird erwachsen

Das Studium bot Dee Rees ausreichend Gelegenheit, ihr Schreibtalent zu vertiefen. Das Drehbuch zu Pariah lag schon lange vor seiner Umsetzung in der Schublade. Als sie einen Stoff für ihren Abschlussfilm an der NYU brauchte, strich sie ihr 140-seitiges Skript zusammen und machte daraus eine 27-minütige Kurzversion. Trotz des Erfolgs bei Festivalpublikum und Kritik dauerte es vier Jahre, um aus dem Kurz- einen Langfilm zu machen, was nach Rees‘ Meinung in erster Linie an dessen Thema und zu viel Kurzsichtigkeit der Studios lag. „Wir haben unsere Idee in Meetings vorgestellt, doch sobald die Worte ‚schwarz‘, ‚lesbisch‘ und ‚Coming-of-age‘ gefallen sind, haben sich die Verantwortlichen abgewendet, unseren Parkschein entwertet und uns eine Flasche Wasser in die Hand gedrückt“, erklärt Rees auf Colorlines.com die komplizierte Finanzierung. Von vornherein war die angehende Regisseurin auf Effizienz und Pragmatismus angewiesen. Bis heute hält sie die Wege zwischen den wenigen Sets kurz und bereitet in Workshops mit den Schauspielern die Szenen intensiv vor, um bei den Dreharbeiten Zeit und dadurch Geld zu sparen.

Pariah erzählt von der 17-jährigen Alike. Wie schon im gleichnamigen Kurzfilm brilliert Adepero Oduye in der Hauptrolle. Zwischen der religiösen Mutter Audrey (Kim Wayans), dem toleranten, aber konservativen Vater Arthur (Charles Parnell), ihrer besten Freundin, der offen lesbischen Laura (Pernell Walker), und ihrer ersten Liebe Bina (Aasha Davis) sucht die Jugendliche sich selbst und ihre eigene Sexualität. Dabei ist Pariah mehr als nur Coming-of-age mit Coming-out oder der weibliche Moonlight (2016), zu dem ihn einige Kritiken im Nachhinein deklariert haben.

Pariah; Copyright: Focus Features
Pariah; Copyright: Focus Features

Von den üblichen Dramen über das Erwachsenwerden unterscheidet Dee Rees‘ Debüt ein differenzierter Blick, ambivalente Figuren, an denen sie intensiv während zweier Lehrgänge des Sundance Instituts gefeilt hat, und eine offene Erzählweise. Die Religion der Mutter, das mögliche Fremdgehen des Vaters, Alikes Talent fürs Schreiben und eine Lehrerin, die darauf aufmerksam wird – all diese Klischeefallen baut Rees‘ Drehbuch zwar auf, tappt aber nicht hinein. Was andere Filme in den Mittelpunkt stellen, rückt bei Rees konsequent an den Rand. Eine Kirche zeigt sie kein einziges, Alikes Schule nur ein paar Mal von innen. Wir sehen Alike nicht beim Verfassen ihrer Gedichte, sondern einfach nur beim Leben zu. Und im Leben passiert vieles nun einmal nebenbei und nicht auf einen Showdown hin zugespitzt.

Pariah reißt vieles an und führt nicht alles zu Ende. Die finanzielle Not homosexueller Jugendlicher wird darin ebenso beiläufig miterzählt wie Klassenunterschiede. Der Facettenreichtum der Figuren macht selbst Unsympathen menschlich und den dargestellten Mikrokosmos authentisch. Trotz all seiner Künstlichkeit passt das formale Konzept, das jeder Hauptfigur einen eigenen Farbton und eine eigene Musik – von Magenta bis Türkis, von Hip-Hop bis Punk – zuordnet und eine Entwicklung sichtbar macht, erstaunlich gut dazu.

 

Bessie: Eine Künstlerin findet ihre Stimme

Um Musik, Sexualität und starke Frauen geht es auch in Rees‘ nächstem Drama, dem Fernseh-Biopic Bessie (2015). Das Leben der legendären, aber von vielen längst vergessenen Bluessängerin Bessie Smith (1894-1937) sollte bereits in den frühen 1990ern mit Queen Latifah verfilmt werden, bevor es zwei Jahrzehnte in der Produktionshölle schmorte. In der Rückschau kann die Hauptdarstellerin und Mitproduzentin der Wartezeit auch Positives abgewinnen. Sie selbst sei als Schauspielerin gereift, hat Latifah in einem Interview mit Deadline.com gesagt. Und an gesellschaftlicher Relevanz habe der Stoff ebenfalls nichts eingebüßt, egal ob „es Bisexualität, Missbrauch, Alkoholismus oder die Wirtschaftskrise betrifft“.

Rees stieß zunächst als Autorin zum HBO-Projekt, bevor die Produzenten ihr schließlich auch die Regie anboten. Die bereits vorhandenen Drehbuchversionen schrieb sie massiv um, erfand mit Bessies Geliebter Lucille (Tika Sumpter) etwa einen Charakter hinzu, der mehrere ihrer Beziehungen in einer einzigen vereint und die Komplexität der Hauptfigur verdeutlichen sollte. Denn die bekannteste weibliche Bluessängerin der 1920er und 1930er liebte Männer wie Frauen und lebte ihre Beziehungen, im Film sind es neben der mit Lucille auch die zu ihrem Beschützer und gewalttätigen Ehemann Jack Gee (Michael Kenneth Williams) und zum emotional von ihr abhängigen Liebhaber Richard (Mike Epps), offen aus.

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Damit ist sie ihrer Zeit voraus, hinkt ihr in manchen Belangen aber auch gewaltig hinterher. Sie ist selbstbewusst und unsicher, selbstbestimmt und abhängig, sie diskriminiert und wird diskriminiert, missbraucht und wird missbraucht – es sind gerade diese Widersprüche, die Smiths Charakter glaubwürdig machen.

So schön dieses Biopic an seiner Oberfläche glänzt, darin ist nichts glatt. Die Regisseurin und Autorin blickt ebenso differenziert auf die Gesamtgesellschaft wie auf die black community, zeigt Menschen und Verhaltensweisen, die nicht jedem ins Weltbild passen, und schreibt Rollen, die nicht jeder annehmen möchte, weil heutzutage keiner mehr der Bösewicht sein wolle. Rees‘ Ansicht nach  kann Gleichheit aber nur über eben diese Bandbreite erreicht werden, die alle Facetten schwarzen Lebens, auch die abgrundtiefen, abbildet.

Im Film findet Bessie Smith ihre eigene Stimme als Sängerin, mit ihrem zweiten Film findet Dee Rees eine noch reifere als Regisseurin. Erneut kommt ein ausgeklügeltes Farbkonzept zum Einsatz, das die Stimmungen und Charaktereigenschaften der Figuren spiegelt.

 

Mudbound: Zwei Familien, eine Erfolgsgeschichte

Die ausgewaschenen Farben, die die Unerbittlichkeit der Natur widerspiegeln, fallen auch an Mudbound als Erstes auf. Obwohl das Drama auf Hillary Jordans gleichnamigem Roman basiert, ließ es sich Rees nicht nehmen, kleine Anekdoten aus ihrer Familiengeschichte mit dem Ausgangsstoff zu verweben. Ihre eigenen Erfahrungen mit dem Ku-Klux-Klan klingen im fertigen Film ebenso an wie Kindheitserinnerungen ihrer Großmutter und die (Nach-)Kriegserlebnisse ihrer beiden Großväter.

Die Geschichte zweier Familien, der weißen McAllans und der schwarzen Jacksons, deren Schicksal vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg auf einer Scholle im Mississippi Delta unheilschwanger miteinander verflochten ist, gilt vielen als Dee Rees‘ bislang versierteste Arbeit. Durchweg positive Kritiken, 4 Oscar-Nominierungen, darunter eine für Rees und Koautor Virgil Williams für das beste Drehbuch, und nicht zuletzt die weite Verbreitung über die Streamingplattform Netflix machten die Regisseurin schlagartig bekannt.

Mudbound; Copyright: Netflix
Mudbound; Copyright: Netflix

Dass Netflix sich die Rechte für 12,5 Millionen US-Dollar sichern konnte, lag mit am Zögern der Verleiher, denen Rees mehrfach Angst vor der Thematik, aber auch vor dem großen Cast ohne eindeutig zuordenbare Hauptrolle unterstellte. Mit der Zusammenarbeit ist Rees vollauf zufrieden: „Netflix hat diesen Film nicht auf irgendetwas reduziert. Sie haben ihn nicht als Film über Rasse, über soziale Probleme oder als Film für Schwarze abgetan“, äußert sich Rees gegenüber MarketWatch.com.

Von Netflix‘ enormer Reichweite verspricht sich Rees auch ein Publikum, das den Gang ins Kino vielleicht nicht angetreten hätte und nun zum Diskurs beitragen kann. Denn wie schon Bessie von unbewältigtem Rassismus und Lebensumständen erzählte, die nicht allzu weit von den heutigen entfernt sind, handelt auch Mudbound von weißen Privilegien, die der Regisseurin in der Trump-Ära, die übrigens exakt einen Tag nach der Premiere des Films begann, diskussionswürdiger denn je erscheinen.

 

Electric Dreams, The Box und Star Wars: Träume von der Zukunft

Gesellschaftspolitische Brisanz bis Dringlichkeit prägen auch Dee Rees‘ folgende Arbeiten. Neben einer Episode für die Serien Empire um einen Musikmogul und When We Rise (2017) über die Anfänge der Lesben- und Schwulenbewegung konnte Rees endlich ihr langersehntes Lieblingsgenre aus ihren nerdigen Teenagertagen angehen: die Science-Fiction. Für die Anthologieserie Electric Dreams steuerte sie die Folge „Kill All Others“ bei, für eine Supermarktkette drehte sie den futuristisch anmutenden Werbespot The Box.

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Für Reklame ist sich Rees allein deshalb nicht zu schade, weil sie jede Menge Eigenwerbung bringt. Und die ist in Hollywood unerlässlich. Dem Club der alten weißen Männer, zu dem die vermeintliche Traumfabrik gern abgestempelt wird, steht die Autorenfilmerin indes nicht so skeptisch gegenüber, wie manch einer meinen könnte. Ironischerweise seien es bislang hauptsächlich Männer gewesen, manche weiß, manche schwul, manche italienisch, die ihre Karriere gefördert hätten, hat Rees erst im vergangenen November dem britischen Independent verraten.

Das hält sie freilich nicht davon ab, ihre Crews vornehmlich mit weiblichen Mitgliedern zu besetzen. Hier geht es Rees auch um Sichtbarkeit. Wichtiger als diese ist ihr jedoch ihre Geschichte. Wir dürfen gespannt sein, welche sie als Nächstes umsetzt. Von einer Sci-Fi-Miniserie über einen Horrorfilm und einen Western bis zur Verfilmung von Joan Didions Roman Nach dem Sturm (OT: The Last Thing He Wanted) hat Dee Rees alles in der Schublade. Und wer weiß, vielleicht klappt es ja auch mit ihrem größten Traum: ihrem eigenen, ganz persönlichen Star Wars.

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