zurück zur Übersicht
Features

Das Rätsel der verschwundenen Goyas: Wie "Blancanieves" einen spanischen Kunstskandal ins Rollen brachte

Ein Beitrag von Joachim Kurz

Meinungen

Es gibt Geschichten, die gibt es eigentlich gar nicht. Oder wenn, dann nur im Kino. Besonders schön wird es aber — vor allem für Cineasten, Cinephile und andere Filmverrückte -, wenn sich Kino und Leben überlappen, sich aufeinander beziehen und sich gegenseitig bedingen. Genau so eine Geschichte rankt sich, wie wir gestern eher durch einen Zufall erfahren haben, rund um den spanischen Überraschungserfolg Blancanieves von Pablo Berger, der irgendwann im kommenden Winter in die deutschen Kinos kommen und dort sehr wahrscheinlich die Herzen der Zuschauer erwärmen wird.

Externen Inhalt ansehen?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen ein externes Video von YouTube präsentieren. Dafür benötigen wir Ihre Zustimmung in die damit verbundene Datenverarbeitung. Details in unseren Angaben zum Datenschutz.

Zustimmen und ansehen

Ihren Anfang — nun gut, zumindest den für uns dramaturgisch spannendsten Einstieg — nahm die filmreife Story bei der diesjährigen Verleihung der Goya Awards in Madrid. Der große Gewinner des Abends war eben die Stummfilm-Hommage und Schneewittchen-Bearbeitung Blancanieves des Regisseurs Pablo Berger, die mit insgesamt zehn Preisen — und damit der größten Häufung an spanischen Filmpreisen in den vergangenen Jahren — ausgezeichnet wurde.
Drehort für das Schloss der bösen Stiefmutter war das Anwesen des verstorbenen Julio Muñoz Ramonet, eines überaus reichen und mächtigen katalanischen Unternehmers, über dessen Macht und Einfluss zur Zeit der Franco-Diktatur ein Sprichwort Auskunft gibt: „Im Himmel hat Gott das Sagen, auf der Erde aber die Muñoz Ramonets.“ Doch Muñoz Ramonet war nicht nur für seinen ökonomischen und politischen Einfluss, sondern auch für seine große Kunstsammlung bekannt. Diese umfasst über 500 Kunstwerke, darunter einige Gemälde El Grecos, Goyas (und jetzt wird es kompliziert, denn hier ist natürlich nicht der spanischen Filmpreis gemeint, sondern der Maler) und Rembrandts.
Spannend ist nun, dass von der reichhaltigen Kunstsammlung im Film selbst wenig bis gar nichts zu sehen war — das Anwesen zeichnete sich vor allem durch leere oder mit Wandteppichen verhangene Wände aus. Was von Cinephilen und Kritikern wohl am ehesten als schlampiges Set-Design oder eine Reduktion auf die expressive Kraft der Darsteller wahrgenommen wurde, bestätigte hingegen die Vermutungen des spanischen Journalisten José Angél Montañés von der Zeitung El País.
Der bemerkte bei der Untersuchung von verschiedenen Dokumenten und Inventarlisten, dass die Kunstsammlung von 500 Objekten auf 300 geschrumpft sei. Dieser merkwürdige Schwund sei, so der Journalist, auf einen langjährigen Zwist zwischen Muñoz Ramonet und seinen Töchtern zurückzuführen: die Familie lebte im Streit, der Vater hatte seine Töchter enterbt und sein Anwesen mitsamt der Kunstsammlung der Stadt Barcelona vermacht. Montañés Vermutung ist, dass die Töchter heimlich Kunstwerke beiseite geschafft haben, um an das aus ihrer Sicht zu Unrecht entzogene Erbe zu gelangen. Die Stadtverwaltung Barcelonas hält sich indes bedeckt und prüft den Sachverhalt, bevor die Einleitung rechtlicher Schritte erwägt wird.Doch welche Konsequenzen können wir daraus ziehen? Haben Gaunereien ab sofort keine Chance mehr, da der Film nicht nur Zeitdokument, sondern auch aussagekräftiger Beweis ist?
Eher nicht, zumindest scheint für jeden Cinephilen spätestens seit Michelangelo Antonionis Blow-Up das Vertrauen in die Beweiskraft von Film und Fotografie stark getrübt oder gar abgebaut. Spannender scheinen da doch eher die zahlreichen Querverbindungen, Verwebungen und Auswüchse von Film, Kunst und Leben zu sein: findet sich nicht irgendwie ein Zusammenhang zwischen fiesem Erbschaftsstreiteren und dem Zwist von Blancanieves / Schneewittchen und ihrer Stiefmutter? Könnte das Ganze nicht auch einer Kurzgeschichte von Jose Luis Borges entsprungen sein oder gar als Anspielung auf Raul Ruiz‘ großartigem L’hypothèse du tableau volé / The Hypothesis of the Stolen Painting und Peter Greenaways Der Kontrakt des Zeichners gedacht werden? Und wieso zum Teufel musste der Diebstahl von Gemälden Goyas ausgerechnet bei den Goyas öffentlich werden? Das alles kann kein Zufall sein…
Wer sich selbst auf die Suche nach Indizien und der Beweiskraft des Films machen möchte, kann dies ab dem 20. August in zahlreichen Städten auf dem Fantasy Filmfest 2013 tun — denn dort läuft Blancanieves.

(Quellen: Deutschlandradio, El País / Foto (c) AV Visionen)

Meinungen