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Ans Kino gefesselt

Ein Beitrag von Tim Slagman

Jede schaut, wo sie will – das macht den Film klein, aber dafür finden sich seine Fragmente überall. Einer Kino-Öffentlichkeit hinterherzutrauen, ergibt da keinen Sinn: Die gibt es sowieso seit Jahrzehnten schon nicht mehr.

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Weekend - Bild
Weekend - Bild

Film und Kino haben sich längst auseinander differenziert. Nun ist die leitmediale Autorität des Letzteren eh wohl schon immer ein Phantom gewesen, aber eigentlich passt das ganz gut: Das Kino bietet schließlich seit je auch den „Hokuspokus“ an, wie es der Filmwissenschaftler und Kritiker Norbert Grob nennt. Es bombardiert mit Affektpotenzialen, es umschmeichelt mit wonniger Isolation, es zaubert den Hokuspokus. Und es verführt. Genre und Kitsch sind hier zuhause, die lustvolle Übertreibung und auch das, was die Unverständigen gerne mal als Trash bezeichnen. Schaute man sich im deutschen Filmschaffen um, dann gehörte die wüste Erotik von Klaus Lemke dazu, die Hysterien von Oskar Roehler und sicher auch all das, was das Hofbauer-Kommando bei seinen Filmkongressen immer wieder zusammenträgt.

Oskar Roehler, hatte man in jüngster Zeit nicht einige politische Fragen an den? Egal, die Politik des Hokuspokus darf sich darin erschöpfen, Hokuspokus zu sein: eine Heterotopie, ein Andersraum, eben nicht die Welt – was natürlich auch wieder ein besonderes Verhältnis zu dieser verrät. Wie es sich denn nun verhalte mit dem Drinnen und dem Draußen, diese Frage stellten sich auch die Kritiker wie Grob, der zu Zeiten eines Paradigmenwechsels schrieb. Oder besser: Sie fragten es sich, so die gängige Auffassung, damals immer weniger. Das war eine Befreiung, immerhin hatte der Hokuspokus seinen impliziten Legitimationszwang verloren. Aber die Idee von an der kritischen Theorie geschulten Autor*innen wie Gertrud Koch oder Karsten Witte, dass die Welt dem Film etwas zu sagen hatte und der Film der Welt, mal bewusst, mal – und hier wurde die Rolle der Kritikerin spannend – eher unbewusst, verlor an Selbstverständlichkeit. Und die Vermittlerin, die dem Publikum zeigte, wie etwa Godard von Außer Atem zu Weekend gekommen war, schien überflüssig.

 

Die Inhalte verstreuen sich

Diese Debatte, die in den späten 1980er Jahren am heftigsten tobte, ist vielerorts nacherzählt worden. Und wenn sie heute ein wenig angestaubt erscheint, dann liegt das nicht nur an der immensen Vielfalt kritischen Publizierens auf allen Seiten dieser damaligen Frontlinie. Sondern auch daran, dass heute gewiss eher über neue Formen von Öffentlichkeit und Teilöffentlichkeiten, über Einsamkeit, Diskurs, Isolation und geteilte Erfahrung gesprochen werden müsste als nur über die Inhalte eines Kinos, die sich längst über alle Orte jenseits des Saales, jenseits der Leinwand, jenseits der Dunkelheit verstreuen.

Herrliche Zeiten; Copyright: Concorde
Herrliche Zeiten; Copyright: Concorde

Einer, der heute noch laut von der gesellschaftlichen Relevanz des Kinos spricht, ist Lars Henrik Gass, Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen und ehemaliger Promovend bei Karsten Witte. Sein Thema sind die Säle und ihre Dunkelheit, mithin das mediale Dispositiv, das Gass in seinem 2012 erschienenen Band Film und Kunst nach dem Kino beschrieb als einen „mentalen Raum, in dem man eine Wirklichkeit nicht mehr betrachtet, reflektiert oder sich vorstellt, sondern in der Zeit verloren zur Wahrnehmung gezwungen ist“. Darin steckt, genau gelesen, durchaus eine Verschmelzungsphantasie, eine Forderung nach der Aufgabe von Distanz, wie sie den Cinephilen Ausdruck höchsten Glückes, den Kritischen Theoretikern jedoch unvorstellbar ist. Das Eins-Sein mit der Leinwand bedeutet durchaus auch das Getrennt-Sein vom Mitmenschen, eine Idee, die sich so überhaupt nicht zu vertragen scheint mit der Forderung, Film, am richtigen Ort gesehen, nein: wahrgenommen, müsse so etwas wie ein Diskursmotor sein. Einerseits.

 

Eine totalitäre Didaktik

Andererseits steckt in dieser Definition natürlich auch eine ungeheure Oberlehrerhaftigkeit. Immerhin erfährt der Zwang, diese totalitäre Didaktik, bei Gass keine kritisch-dialektische Würdigung, sondern bleibt geheiligtes Mittel. Überhaupt ließe sich, folgte man Gass‘ Ansatz weiter, das Besondere des Kinos etwa gegenüber dem Theater – auch hier sitzt man zumeist, und das zumeist im Dunkeln, auf einen erleuchteten Guckkasten schauend – nur in einer Zwanghaftigkeit zweiter Ordnung festmachen: nicht etwa in der analytisch eh nur vage greifbaren Befähigung des Kinos zur grenzenlosen Illusionsproduktion, die es wohl einfacher macht, die Zeit vergessen zu lassen und die Wahrnehmung zu fesseln. Sondern beispielsweise in der Steuerung des Blicks, in Verengung und Erweiterung der Perspektive.

Photo by Krists Luhaers on Unsplash
Photo by Krists Luhaers on Unsplash

Was aber ist nach Gass der heiligende Zweck des Zwingens? Dieser besteht zum einen darin, sich seines eigenen Blickpunkts, der nun mal immer auch ein Standpunkt ist, temporär entfremden zu müssen: „Film organisierte zugleich ein Stück alternativer Wahrnehmung. Der Film wird in dem Moment ein anderer sein, da ich ihn allein zu Hause anschaue, statt im Kino zu einer fremden Wahrnehmung gezwungen zu sein“. Damit ist, so vorsichtig bleibt Gass dann doch, nicht sofort und zwangsläufig gemeint, sich identifizieren zu müssen mit beispielsweise den Verdammten, Verruchten, Verlorenen dieser Welt und ihren soziopolitisch bewegten Regisseuren.

 

Das Kino als Labor der Demokratie

Aber eine gesellschaftliche Komponente erhalte das Kino dennoch automatisch. „Kino ist ein Bestandteil, demokratisches Handeln zu üben. Das setzt allerdings voraus, dass Leute etwas gleichzeitig oder zumindest gleichermaßen gesehen haben“, legte Gass im April 2018 in einem Interview mit der Welt nach. Kaum überraschend fügt sich das letzte Mosaiksteinchen dieser Argumentation ein: Schuld am Niedergang dieser Form von Öffentlichkeit sei, genau: das Internet mit seiner „Ablenkungskultur“.

All das klingt natürlich verdächtig nach einem typischen Fall von Kulturpessimismus. In Wahrheit aber scheint es sich um eine Art negative Utopie zu handeln: War das Kino jemals wirklich das Leitmedium, um dessen Ästhetiken (also: Wahrnehmungen) sich – jenseits hochkultureller Verachtungsgesten – gesellschaftliche Debatten drehten? Geht also nicht höchstens ein abstraktes Potenzial verloren statt einer real existiert habenden soziokulturellen Konstellation?

 

Im Netz entstehen Teilöffentlichkeiten

Eher verhält es sich so, dass die Netzkultur die Bildung von Teilöffentlichkeiten forciert und diese Entwicklung, die eben keine furchtbar neue mehr ist, gleichzeitig vor Augen führt. Hat nicht so ziemlich jeder Breaking Bad, eigentlich noch ein typisches Kind des linearen Fernsehens, gesehen und über den underbelly des amerikanischen Kapitalismus diskutiert? Natürlich nicht. Aber hat uns An Inconvenient Truth nicht allen die Augen geöffnet über die Dringlichkeit ökologischen Handelns? Natürlich auch nicht.

Breaking Bad; Copyright: AMC
Breaking Bad; Copyright: AMC

Ob die Membran unserer Filterblasen also tatsächlich auch dicker geworden ist oder nur dunkler – und damit sichtbarer –, mag an anderer Stelle diskutiert werden. Wenig hilfreich scheint es aber, als schädlich ausgemachten Individualisierungstendenzen mit einer Re-Totalisierung begegnen zu wollen. „Das Game ist die Konsequenz des bewegten Bildes nach Kino und Fernsehen: ein narzissistisches, weil manipulierbares Bild“, schrieb Gass 2012. Diese Beschreibung ist so falsch wie die Hoffnung auf ihr Gegenteil. Vertreter der Game Studies etwa lachten sich kaputt, legte man ihnen den Befund vor, der Durchschnittsspieler sei in der Lage, bewusst irgendetwas zu modellieren, das von den Entwicklern nicht schon vorgedacht, formatiert, ja überhaupt erst ermöglicht wurde. Der Wunsch aber mitzuwirken an der Entstehung ästhetischen Materials – er ist nicht nur technisch längst erfüllbar, sondern wesentlich für einen Gedanken demokratischer Teilhabe, der beim Diskurs nicht haltmacht, sondern in die materielle, wenngleich auch digital-materielle, Umwelt eindringt. Es muss nicht immer Kunst heißen oder selbst einen Diskurs stiften, was dabei herauskommt.

 

Reise in fremde Erinnerungen

Etwa zwei Wochen, bevor Lars Henrik Gass sich zum Interview mit der Welt setzte, startete ein Film in den Kinos, der von absoluter Manipulierbarkeit und Unbeweglichkeit zugleich erzählte: In Steven Spielbergs Ready Player One reisen Gamer aus dem Jahr 2045 in eine imaginierte Vergangenheit und in die imaginierten Sehnsüchte eines Anderen. Um die zweifelsohne hypernarzisstische OASIS, eine virtuelle Parallelwelt, vor einer skrupellosen Konzernübernahme zu retten, gilt es, die Schnitzeljagd des verstorbenen Co-Gründers der OASIS vor den Bösewichtern erfolgreich zu absolvieren. Wer sich so gut mit der Popkultur der 1980er Jahre auskennt mit ihren Songs und Filmen und Games wie dieser Halliday, wer alle seiner Rätsel lösen kann, wird neuer Chef der OASIS.

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Zustimmen und ansehen

Im Film gibt es – anders als in der Romanvorlage – sogar eine Art Halliday-Museum. Die interessantesten Kritiken am Stoff von Autor Ernest Cline stürzten sich exakt auf diesen Aspekt: Vergangenheit und Erinnerungen werden hier eingefroren, der Schlüssel zum Erfolg liegt nicht in Kreativität oder Inspiration, sondern im Konsum und im perfekten Nachvollziehen: Wer den größten Speicher zum Auswendiglernen hat und das kleinste Leben nebenher, hat schon einmal beste Chancen.

Es scheint nur trefflich, dass Lars Henrik Gass sich für eine Musealisierung der Kinokultur ausspricht. Dem soll auch gar nicht begegnet werden mit dem Klischee, auf den Exponaten eines Museums liege automatisch Staub. Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass die digitale Remix-Kultur sich nicht aushebeln lässt, indem man aus dem performativen Dreiklang von Auswählen, Verändern, Veröffentlichen den mittleren Ton ausschaltet. Dinge zu bergen, ohne sie zu berühren, scheint uns heute widersprüchlich. Kein Zweifel: Auf Widerspruch, auf Sand im Getriebe ist womöglich genau deshalb nicht zu verzichten. Und die Verführungskraft des Kinos, teuflisch und himmlisch, wird niemand in Abrede stellen. Aber Verführte sind selten zu etwas zu zwingen. Sonst erinnern sie sich vor dem Ende noch an die letzte Freiheit, die das Kino ihnen lässt: sich vorzutasten bis zur Türe und sich alldem zu entziehen.

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