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Anderes Begehren: Das politische Körperkino von Julia Ducournau

Ein Beitrag von Sebastian Seidler

Die Filme von Julia Ducournau gelten als Body Horror. Doch so einfach lassen sich „Raw“ und „Titane“ nicht bändigen. Der Körperhorror ist nur ein Mittel, um andere Bilder von Identität und Geschlecht aufzuspüren.  

Meinungen
Titane und Raw und Julia Ducournau
Titane und Raw und Julia Ducournau

Mit der Entscheidung, die Goldene Palme an Julia Ducournaus „Titane“ zu verleihen, hat die Jury in Cannes dem Kino ein großes Geschenk gemacht. Es ist ein ermutigender Aufruf zu mehr eigenwilligen Stoffen. Mit nur zwei Filmen hat die französische Filmemacherin gezeigt, was möglich ist, wenn man ohne Kompromisse seinen Weg geht.

Nach dieser Auszeichnung auf dem immer noch wichtigsten Filmfestival der Welt stehen ihr nun alle Türen offen. Es spricht einiges dafür, dass Ducournau ihre radikale Vision eines queeren Körperkinos mit aller Konsequenz weiterverfolgen wird. Ihre Filme sind dabei alles andere als leicht verdauliche Kost. Doch unter dem brutalen Genremantel von Raw (2017) und Titane versteckt sich eine unnachgiebige Zärtlichkeit, und es ist an der Zeit, sich diesem Werk mit ebensolcher zu nähern.  

 

Von anderen Lebensräumen 

Das Publikum möchte Filme grundsätzlich gerne einordnen können. Es möchte wissen, so die weit verbreitete Annahme, was zu erwarten ist. Darin liegt eine Erklärung für die überbordende Schwemme an Sequels und formelhafter Großproduktionen. Für alles braucht es heute eine Schublade. Ob es passt oder nicht. Julia Ducournau widersetzt sich mit ihrem Schaffen jedem Einordnungsversuch. Dennoch wurde bereits ihrem Debütfilm Raw das Label Horrorfilm angeheftet: Body Horror, schallt es aus allen Ecken. Derart grobschlächtige Bezeichnungen führen zu vollkommen falschen Erwartungshaltungen. 

Ja, Raw hat Elemente des Körperhorrors. Der Körper wird zu einer fremden Kraft, der seine Verwandlung erzwingen will. Raw ist ein Film, der Grenzen überschreitet und mit Gewalt nicht geizt. Und doch sind es nur Aspekte einer viel komplexeren Geschichte. Ducournau geht es nicht darum, ein Spektakel des Ekels abzubrennen wie Brian Yuzna in Society oder Chad Archibald in Bite. Wenn, dann steht sie mit einem Bein in einer Traditionslinie mit David Cronenberg. 

Wie dem kanadischen Filmemacher, der mit Videodrome und Die Fliege zwei Meisterwerke des Körperkinos gedreht hat, geht es der Französin darum, die mitunter erschreckenden Potenziale des Körpers zu erkunden. Die Filme handeln von einer Befreiung aus gesellschaftlichen Zwängen durch Körperlichkeit. Während Cronenbergs Visionen dabei häufig dystopische Züge tragen und die wuchernden Körper wissenschaftlich-kühl analysieren, erschafft Ducournau sinnliche Welten, aus denen eine utopische Hoffnung aufsteigt. Raw und Titane sind ermächtigende Filme, denen es um die Möglichkeiten eines anderen Lebens geht. 

 

Das unzähmbare weibliche Begehren          

Raw erzählt die Geschichte der Tiermedizinstudentin Justine. Gemeinsam mit ihrer älteren Schwester besucht sie eine renommierte Eliteuniversität, wo bereits die Eltern ihre Ausbildung absolviert haben. Großer Druck lastet auf der jungen Frau, die sich in der für sie ungewohnten Umgebung erst mal zurechtfinden muss. Neben den hierarchischen Aufnahmeritualen der Studierenden hat sie vor allem mit ihrer erwachenden Sexualität zu kämpfen. 

Völlig unerfahren im Umgang mit dem (anderen) Geschlecht entwickelt ihr Körper plötzlich eine unbändige Lust auf (Menschen-)Fleisch, vor der sie selbst erschrickt. Wie lange kann man gegen das eigene Werden ankämpfen? In einer gewagten Kombination aus Coming-of-Age-Drama und Kannibalismus erzählt der Film von einem Ringen um die eigene Sexualität, die als unkontrollierbare Kraft aus dem Innern des Körpers an die Oberfläche drängt. 

Gerade weibliches Begehren ist in unserer Gesellschaft immer noch eine ungemein verschwiegene Angelegenheit: Frauen werden begehrt, sollen dabei aber bitte in einer lasziven Passivität verharren. Wird sich daran nicht gehalten, droht die Ächtung als Schlampe; offensives Begehren, sexuelle Wünsche und gelebter Fetisch schrecken ab. Zwar hat sich in dieser Hinsicht einiges getan, aber noch immer ist weibliche Sexualität ohne eigenen Vorstellungsraum. 

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Der französische Philosoph Jean-Francois Lyotard hat in einem Essay einmal geschrieben, dass die Männer niemals wirklich Sex gehabt haben. Stattdessen hätten sie immer nur Krieg geführt. Damit meinte er in polemischer Zuspitzung den Kampf gegen das eigenständige weibliche Begehren. Sex als gleichberechtigte Begegnung hat kaum stattgefunden. Es darf schlichtweg nicht zugelassen werden, da ein eigenständiges Begehren die männliche (Selbst-)Kontrolle infrage stellt. Eine aktive und selbstbewusste Sexualität ist für viele Frauen auf der Welt durch Körper- und Geschlechterbilder verstellt. Raw ist eine filmgewordene Attacke gegen diese Ordnung.

Die narrative Waffe ist der Body Horror. Zum einen verdichtet sich in diesem Genremotiv all die unterdrückte, von der Gesellschaft sanktionierte weibliche Lust. Ganz ähnlich funktioniert der telekinetische Amoklauf am Ende von Brian De Palmas Carrie. All die Wut und all das Begehren nach einem anderen Leben bricht dort in einem finalen Gewaltakt heraus. Carrie ist ebenso eine Außenseiterin wie Justine. 

Ducournau benutzt mit dem Kannibalismus ein heftiges Tabu und lädt es mit subversiver Energie auf. Die Verwirrung der Pubertät wird nicht durch die Figur rational reflektiert. Sie bricht als Genremotiv in den Film hinein. Die Sehnsucht nach Berührung wird buchstäblich verzehrend. Eben weil wir als Zuschauer_Innen an eine moralische Grenze geführt werden, beginnen wir uns tiefergehenden Fragen zu stellen. Welche Kraft schlummert im Begehren?

Der Übergang in die Welt der Erwachsenen kann grausam sein. Der Körper verändert sich. Schuldgefühle vermischen sich mit Leidenschaften, die zu unseren Körpern gehören. Justine ist trotz all ihrer monströsen Handlungen kein Monster. Sie sehnt sich nach einem Leben jenseits von Fremdbestimmung. In einem kurzen finalen Moment scheint am Esstisch bei den Eltern eine lebbare Zukunft auf: Der Oberkörper des Vaters ist von Narben übersäht. Auch die Mutter verzehrt sich. Jede Berührung hinterlässt Spuren. Es kommt nur darauf an, wie wir damit umgehen. Ducournau macht dies in Raw auf intensivste Weise sichtbar. 

 

Queere Radikalisierungen   

Mit Titane radikalisiert Ducournau ihren Ansatz. Geschlechtsidentitäten werden aufgelöst, und die Grenzen zwischen Mensch und Maschine werden aufgebrochen. Erneut besteht die Gefahr, dass die zarten Zwischentöne, die berührende Vater-Sohn-Geschichte in der zweiten Filmhälfte hinter der Gewalt und dem deutlich dominanteren Körperhorror verschwinden. Doch wie bereits in Raw ist die Drastik das erzählerische Mittel, um sich aus einer psychologischen Dramaturgie zu befreien. 

Die Tänzerin Alexia (Agathe Rouselle) ist seit ihrer Kindheit durch einen schweren Autounfall gezeichnet. Diese fatale Kollision hat jedoch nicht nur Spuren an und in ihrem Körper hinterlassen – sie trägt eine Titanplatte im Kopf. Ihre gesamte Existenz wurde aus der Bahn geworfen. Sie gehört nicht mehr dazu, kann sich keinem Geschlecht mehr zuordnen und sucht verzweifelt nach einem Ausweg aus ihrer Einsamkeit. 

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Der Autounfall wird von Ducournau als eine Art Geburt erzählt. Es gibt nicht nur eine Geburt im Leben, sondern vielfältige Möglichkeiten ein Anderer zu werden. Alexia ist ein solches Anderes geworden und fühlt sich – auch körperlich – zu Autos hingezogen. Jeder Versuch einer menschlichen Annäherung hingegen wird im ersten Teil des Films zu einer Gewalttat. Einem aufdringlichen Fan, der sie ungefragt küsst, rammt Alexia ihre Haarnadel ins Ohr. Und bei diesem Mord wird es nicht bleiben. 

 

Kein Angebot zur Identifikation

Nun ist eine Serienkillerin sicherlich keine geeignete Identifikationsfigur. Eben genau darin liegt der besondere Clou des Films. Einerseits ist die Gewalt analog zum Kannibalismus eine Übersetzung innerer Kämpfe in Körperbilder. Andererseits wird den Zuschauer_Innen durch den Entzug der Identifikationsmöglichkeit eine emotionale Anbindung verwehrt. Ständig ist man dazu aufgefordert, sich gegenüber den Figuren neu zu verhalten. Eine folgerichtige Entscheidung für einen Film, dem es darum geht, Eindeutigkeiten zu unterlaufen. 

Auf der Flucht vor der Polizei wird Alexia in die Identität des vor zehn Jahren verschwunden Adrien schlüpfen. Der Vater Vincent (Vincent Lyndon) nimmt „seinen“ Sohn bereitwillig auf. Er verweigert gar einen DNA-Test. Alle aufkommenden Zweifel an der Identität von Adrien werden beiseitegewischt. Vincents Leben besteht aus Trauer und Einsamkeit. Mithilfe von Anabolika hat er sich eine Rüstung aus Muskeln antrainiert, die weniger schützende Hülle als fleischgewordene Leere ist. 

Es bleibt völlig offen, ob Alexia in Vincents Augen tatsächlich zu Adrien geworden ist. Mit jeder Geste versucht der Feuerwehrmann dieses Wesen bei sich zu halten und in seinen Sohn zu verwandeln. Doch die ausgestellte Männlichkeit ist ebenso brüchig wie die Haut, in die Alexia/Adrien geschlüpft ist. Zwei Menschen umkreisen sich in gewaltsamer Einsamkeit und lassen in ihrem Ringen um unbedingte Liebe eine neue Welt entstehen. 

Titane fordert dazu heraus, alte Sehgewohnheiten hinter sich zu lassen. Ständig muss das Wissen über die Figuren mit deren Erscheinungsbild abgeglichen werden. Eine verführerische Strategie, die dem Drag entlehnt ist und die Zuschauer_Innen auf sich selbst zurückwirft. 

Der Film selbst wird zu einem sich ständig wandelnden Körper. Die Figuren sind letztlich variable Glieder dieser Veränderung. Das ist wahrlich bahnbrechend. Dass Alexia/Adrien zu allem Überfluss noch ein Kind von einem Auto erwartet, ist nur eine weitere Öffnung des Begehrens – eine Loslösung von der menschlichen Form. Spätestens wenn sich am Ende dieses titanenhaften Films eine neue Menschlichkeit ankündigt, spielt die Frage nach eindeutigen Formen keine Rolle mehr. Ducournau schenkt uns mit ihrem Kino neue Bilder des Begehrens, die durchaus heilsam sind und einfach nicht stillstehen wollen.

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