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Advent, Advent: Stefan Otto über "Verfehlung"

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…, der ihm gezeigt hat, wie differenziert Filme sein können und wie wenig das mit ihrem Erfolg zu tun hat.


(Stefan Otto)

Ende März 2015 kam Verfehlung in die Kinos. Ich hatte die Gelegenheit, den Film vorab auf DVD zu sehen, ungefähr gleichzeitig mit seiner Uraufführung beim Max-Ophüls-Preis in Saarbrücken. Auch wenn es oft heißt, ein Film, auf einem kleinen Monitor betrachtet, könne schwerlich den Effekt erzeugen, den er im Kino zu erzielen in der Lage sei, ist mir doch noch der Eindruck in bester Erinnerung, den ich beim Ansehen von Verfehlung hatte.

Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich eine Weile lang nicht wusste, worauf diese Geschichte hinauslaufen würde. Das Drehbuch- und Regie-Debüt von Gerd Schneider war ein Film über katholische Theologen im Dienste der Kirche, das wurde mir nach zwei Minuten schon klar. Aber was hatte es zu bedeuten, dass die Kirchenmänner sich, besonders am Anfang, so häufig und innig umarmten? Hatte es überhaupt etwas zu bedeuten? Als einer von ihnen wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch ins Gefängnis kommt, ist klar, es geht um einen Vorfall wie jene am Berliner Canisius-Kolleg oder in St. Blasien, die erst wenige Jahre zuvor öffentlich gemacht wurden: um den Missbrauch an Kindern und Jugendlichen in kirchlichen Einrichtungen.


(Trailer zu Verfehlung von Gerd Schneider)

Es erschien mir so mutig, fast verwegen, wie Schneider den Blick nicht auf die Opfer richtete, sondern auf die Kirchenbrüder selbst, und wie präzise und differenziert er vermittelte, wie die Kirche als Institution und wie verschieden Einzelne innerhalb ihrer auf die Vorwürfe reagieren und mit der möglichen Schuld umgehen. Was sie denken, wie sie handeln, ist äußerst nuanciert gezeichnet, und dadurch geht der Debütant Schneider ja das Risiko ein, die Täter selbst zu Opfern zu machen, weil wir ihren Weg mit ihnen gehen und nicht den der Missbrauchsopfer, weil wir die Täter auch leiden sehen und vielleicht mit ihnen leiden, während die tatsächlichen Opfer im Grunde vernachlässigt werden und austauschbar bleiben. Schneider, selbst vor seinem Studium an der Filmakademie Baden-Wüttemberg Priesteramtskandidat in Köln, setzt das fragile Gebilde jedoch so gekonnt und passgenau zusammen, dass es hält und stimmt.

Verfehlung, so mein Eindruck, konnte eine echte Bereicherung für die damals gerade aktuelle Debatte um Kindesmissbrauch sein, weil der Film einen Aspekt hinzugab, der sonst ganz weitgehend unberücksichtigt blieb: den konzentrierten Blick auf die Täter und ihr Umfeld, auf die Vertuschung, die in Institutionen wie der Kirche systematische Züge annehmen kann. Kurz: Für mich war Verfehlung ein relevanter Film, der öffentliche, gesellschaftliche Beachtung verdiente.

Drei Monate, bevor ich Verfehlung sah, lief im Fernsehen, im Ersten, Die Auserwählten, ein Spielfilm über die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule. Ein ehrenhafter Film, aber auch ein reichlich durchsichtig konstruiertes Drama mit Julia Jentsch als rechtschaffene Lehrerin und eindimensional-langweilige Gewährsperson der Zuschauer, die für uns Einblick nimmt in das dortige System des Missbrauchs und seiner stillen Duldung. Über diesen Film (weil er im Fernsehen lief oder weil er weniger kontrovers war?) wurde meines Erachtens viel mehr berichtet als über Verfehlung. Das Erste eröffnete mit Die Auserwählten einen Themenabend über Kindesmissbrauch und ließ dem Film eine Diskussion mit Anne Will folgen und auf Eins Festival die sehenswerte Doku Geschlossene Gesellschaft — Der Missbrauch an der Odenwaldschule von Luzia Schmid und Regina Schilling.

5,05 Millionen haben Die Auserwählten im Ersten gesehen, obwohl das ZDF zu gleicher Zeit ein Champions-League-Spiel mit deutscher Beteiligung übertrug. Verfehlung sahen dagegen gerade einmal 8.041 Zuschauer, nach Zählung der Filmförderungsanstalt FFA sogar nur 5.612.

(Stefan Otto)

Stefan Otto schreibt über Fernsehen und Film, unter anderem für „Die Rheinpfalz“ und die „Neue Zürcher Zeitung“. Vor Jahren hat er ein Buch geschrieben, das man immer noch kaufen kann. Zur Zeit arbeitet er an einem Dokumentarfilm über die deutsche Filmgeschichte.

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