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Den Muggels bleibt das Kino – 20 Jahre Harry Potter auf der Leinwand

Ein Beitrag von Lucas Barwenczik

Vor gut 20 Jahren kam „Harry Potter und der Stein der Weisen“ ins Kino. Seitdem ist das Harry-Potter-Universum zum allgemeinen Kulturgut einer ganzen Generation geworden. Warum hat diese Welt des auserwählten Zauberers und seiner Freunde eine derartige Anziehungskraft? Worin liegt die verführerische Kraft dieses Franchises? Eine kritische Würdigung.   

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Harry Potter Feature

Zauberer und Hexen gehen nicht ins Kino. Technologie spielt in ihrem Leben keine Rolle, und so brauchen sie Filme scheinbar genauso wenig wie Telefonapparate oder Spülmaschinen. Was erstaunlich ist, insofern Filme eindeutig eine andere Funktion haben als Küchenmixer und Nähmaschinen. Sie erleichtern eben nicht einfach den Alltag, sondern befriedigen andere, abstraktere Bedürfnisse persönlicher und sozialer Natur. Sie bündeln menschliche Träume und Sehnsüchte, machen Unmögliches möglich.

Zauberer jedoch können sich viele Bedürfnisse unmittelbar durch Magie erfüllen. In Harry Potter und der Stein der Weisen von J. K. Rowling, dem ersten Buch der populären Fantasy-Reihe von 1997, gibt es einen aufschlussreichen Dialog zwischen Protagonist Harry und seinem Halbriesen-Freund Rubeus Hagrid. Der Junge hat gerade vom Zaubereiministerium erfahren und will wissen, welche Funktion es hat. „Nun, seine Hauptaufgabe ist, vor den Muggels geheim zu halten, dass es landauf, landab, immer noch Hexen und Zauberer gibt.“ Harry will wissen, warum. „Warum? Meine Güte, Harry, die wären doch ganz scharf darauf, dass wir ihre Schwierigkeiten mit magischen Kräften lösen. Nö, die sollen uns mal in Ruhe lassen.“

Die zauberunfähigen Muggel müssen vor der Magie und vor allem vor sich selbst geschützt werden. Davor, dass ihre „Schwierigkeiten“ sich einfach in Luft auflösen, mit einer Handbewegung und einem Zauberspruch. Muggel gehen wohl auch deshalb ins Kino: Weil sie nicht einfach mit Flohpulver oder Portschlüsseln durch die ganze Welt reisen oder sich mit Vielsaft-Trank in andere Menschen verwandeln können. Weil es für sie keine Liebestränke und Zeitumkehrer gibt, keine magischen Hüte, die für einige Jahre einen klaren Platz in der Welt und die Basis der eigenen Identität zuweisen. In den Harry-Potter-Büchern und ihren Filmadaptionen gibt es sie nicht nur, sie sind geradehin selbstverständlich.

Magie und Kino-Magie gehören immer irgendwie zusammen, spätestens seit Georges Méliès.

So jung kommen sie nicht mehr zusammen: Harry Potter und der Stein der Weisen, (c) Warner

Der erste Teil Harry Potter und der Stein der Weisen kam im Jahr 2001 in die Kinos, also vor gut 20 Jahren. Ganze Generationen sind seitdem mit den acht Filmen aufgewachsen. Allen voran die, die heute mit jener Mischung aus Bezeichnung und Diagnose namens „Millennials“ bedacht werden. Zum Jubiläum waren die Filme natürlich vielerorts im Gespräch, im Guten wie im Schlechten: Mit Harry Potter: Return to Hogwarts war auf Sky und HBO Max ein schmalzig-unverbindliches Special für nostalgische Fans zu sehen, in dem sich alle Darsteller und Regisseure um die Wette lieb haben. Der Streamingdienst Netflix nahm alle acht Teile ins Programm – für viele Konsumenten die einzige Situation, in der ein Film wirklich existiert. Und ein Kommentar von US-Komiker Jon Stewart über die Goblin-Banker-Figuren der Filme, die er als antisemitisch beschrieb, wurde hitzig diskutiert.

Harry Potter ist eine überaus bedeutsame popkulturelle Institution, durch kulturelle Osmose auch den Nichteingeweihten zumindest grundlegend bekannt — und dadurch immer auch ein Schlachtfeld. Nicht zuletzt durch die wenig geliebte Schöpferin J. K. Rowling, die mit ihren mehr als fragwürdigen Kommentaren über Transsexualität und eine „weibliche Essenz“ sogar die Darsteller der Filme gegen sich aufbrachte. Mit ihr lernte wohl auch eine Generation, was es bedeutet, Kunst und Künstler zu trennen. Nicht jeder Severus Snape haucht schlussendlich das rettende „Always“. Im neuen Fernseh-Special finden sich nur Archivaufnahmen von ihr.

Die Geschichte der Filme beginnt im Jahr 1997, als der erste Roman auf dem Schreibtisch des bis dahin wenig bekannten Produzenten David Heyman landet. Eingangs sind viele bekannte Regisseure im Gespräch, etwa Steven Spielberg oder Terry Gilliam, letztlich inszeniert der Kevin — Allein zu Haus-Regisseur Chris Colombus die ersten beiden Filme. Nach Harry Potter und die Kammer des Schreckens von 2002 übernimmt zuerst der Mexikaner Alfonso Cuarón für Harry Potter und der Gefangene von Askaban (2004), gefolgt von den Briten Mike Newell (Harry Potter und der Feuerkelch, 2005) und David Yates (alle weiteren Teile). Erst 2011, also vor etwa zehn Jahren, wird er letzte Film gezeigt, der zweite Teil von Harry Potter und die Heiligtümer des Todes.

Mehr noch als viele andere Fantasy-Erzählungen hatten die Bücher und Filme eine Art begleitende Funktion. Die Handlung umfasst jeweils ein Schuljahr am magischen Internat Hogwarts. Die Figuren altern vielleicht nicht in Echtzeit, aber doch mit einer Geschwindigkeit, die dem jungen Publikum erlaubte, die eigenen Erfahrungen mit Schulstress, der ersten Liebe und einem sich wandelnden Körper mit denen der Helden abzugleichen. Alle Jahre wieder erscheinen Filme und setzen fiktionale Meilensteine neben die eigenen. Mit jedem neuen Jahr wird nicht nur der Kampf gegen den finsteren Lord Voldemort intensiver, sondern auch die Wirrungen der Pubertät. Kindergeschichten bewegen sich graduell ins „Young Adult“-Segment; ohne Harry Potter wohl kein Twilight, keine Tribute von Panem, keine YA-Schwemme in dieser Form.

Erzählt werden also Geschichten vom Heranwachsen, im Kino gleich in dreifacher Hinsicht.

Erstens begleitet das Publikum wie in einer Fantasy-Version von Boyhood über eine Dekade hinweg einen Cast von Kindern, die in die Fiktion hineinaltern und mit ihr verschmelzen. Daniel Radcliffe als Waisenkind und Zauberlehrling Harry Potter, Emma Watson als seine kluge Freundin Hermine Granger, Rupert Grint als sein bester Freund Ron Weasley. Beim Casting sind sie zwischen neun und elf Jahren alt, beim letzten Film teilweise 21. Die Abstraktion von Sätzen über Pubertät und sukzessiver Verwandlungen findet in einer Gruppe junger Schauspieler eine konkrete Verkörperung. Im neuen Special erleben wir sie mit Anfang 30, zum Teil haben sie selbst schon Familien. Zumindest sehe man noch nicht so schlimm aus wie im Epilog des letzten Films, wird gescherzt.

Das alte Team vereint für die große Nostalgie-Show. Harry Potter 20th Anniversary: Return to Hogwarts, (c) HBO Max

Zweitens sehen wir modernen Blockbuster-Spezialeffekten beim Erwachsenwerden zu. Anfangs punktiert eingesetzte Computeranimationen werden ubiquitär. Genau wie die Magie werden sie von einem Objekt kindlicher Faszination zur grimmigen Notwendigkeit. Ganze Schauplätze (etwa das endlose Labyrinth in Harry Potter und der Feuerkelch) präsentieren sich durch CGI-Magie als substanzlose Nicht-Orte. Die Zaubererwelt entrückt sich immer mehr der der übrigen Menschen. Auch verdeutlicht kaum eine Filmereihe so klar wie diese die Möglichkeiten und Grenzen von Farbkorrektur – mit jeder neuen Produktion versinkt Harrys Welt mehr im Schatten und Farblosigkeit. Ist das Ende der Kindheit wirklich derart trostlos? Und gewöhnt man sich nicht doch schnell an die bald allumfassende Finsternis, so wie Augen in einem dunklen Zimmer?

Zuletzt sieht man über acht Filme hinweg das Franchise-Kino in seiner modernen Form erwachsen werden, die Bewegung hin von idiosynkratischen Autorenfilmern wie Steven Spielberg, der für eine Weile im Gespräch war, hin zu fernsehgeschulten Erfüllungsgehilfen, vom Suchen nach der richtigen Filmsprache für ein Massenpublikum hin zu einem stabilen zeitgenössischen Megafranchise mit Freizeitparks und Spin-Offs. Ihren Endpunkt findet diese Entwicklung in den Phantastische Tierwesen-Filmen. Dort hat man manchmal das Gefühl, sie spielen ihre Millionen von Dollar nur noch mit dem Pflichtbewusstsein loyaler Fans ein.

Wirklich gut sind die Harry-Potter-Filme selten.

Vieles wird einfach abgefilmt, die Marke übertüncht meist alle künstlerischen Ambitionen. Aber sie sind gut genug, um einige ikonische Bilder und Musikstücke hervorzubringen; gut genug, um hier und da den Büchern eine eigene Identität abzuringen; gut genug, um den Fans als Rettungsdecke, Ankerpunkt und Meme-Quelle zu dienen. Aber eigentlich ist ihre Qualität egal. Wie Francois Truffaut einmal sagte: „Wenn ein Film einen gewissen Erfolg hat, ist er ein soziologisches Ereignis und die Frage seiner Qualität wird sekundär.“

Die Reihe erzählt von der ersten Seite bis zur letzten Szene immer wieder von jenen Wünschen, Begehren und Träumen, die selbst dann bleiben, wenn Magie die natürlichen Mängel des Lebens beseitigt hat. So geht es um die Suche nach Verbindung, Freundschaft und Liebe; um Status, Macht und Familien. Die Helden befinden sich in einer Phase ihres Lebens, die unentwegt neue Träume und Wünsche generiert, in der man sie zudem so brennend und verzweifelt fühlt wie sonst wohl nur selten.

Harry Potter ist durchzogen von Metaphern für die Kraft der Fiktion. Das Tagebuch von Tom Vorlost Riddle (Anagramm: ist Lord Voldemort), das Harrys spätere Partnerin Ginny in ihren Bann schlägt. Der vom „Halbblutprinz“ annotierte Foliant über Tränke, der Harry plötzlich zum mächtigen Brauer macht. Die Handlung dreht sich dann oft um verführerische Kräfte, die jene falschen Abkürzungen anbieten, vor denen man die Muggels schützen muss. Schon im ersten Film entdeckt Harry Potter den mächtigen Spiegel Nerhegeb, der jedem Menschen zeigt, was er in seinem tiefsten Herzen begehrt. Harry etwa sieht sich mit den Eltern vereint, die ihm Lord Voldemort genommen hat. Doch natürlich darf er sich nicht an diese Fantasie verlieren. „Es ist nicht gut, wenn wir unseren Träumen nachhängen und vergessen zu leben“, erklärt ihm Mentor und Vaterersatz Albus Dumbledore.

Vielleicht sind die Potter-Filme für einige ihrer Fans längst so etwas wie dieser Spiegel geworden.

Verführerische Fiktion, lähmend, vernebelnd. Symbol für einen gewissen Stillstand, den Popkultur und wir alle, ihre Konsumenten, gemeinsam aufrechterhalten. „Disney Adults“ ist längst ein geflügeltes Wort geworden für all jene, die etwas zu vehement und identitätsstiftend an den bunten Helden ihrer Kindheit festhalten. Man begegnet heute auch oft „Harry Potter Adults“. Menschen, die den Vektor der Reihe in Richtung Reife und Eigenständigkeit nicht weiter verfolgen, sondern sich immer noch für einen Hufflepuff halten und Donald Trump für Lord Voldemort.

Harry Potter ist längst ein doppeltes und dreifaches Nostalgie-Produkt. Kein besonderes, lediglich ein besonders auffälliges. Der erste Film ist 20 Jahre, der erste Roman 24 Jahre alt, die Handlung beginnt sogar im Jahr 1991. Die Welt der Zauberer verschließt sich jeder Entwicklung und lebt noch nach einem politischen System, das zu Beginn des 18. Jahrhunderts entwickelt wurde. Die Mondlandung hat ihre Welt offenkundig so wenig erschüttert wie die Erfindung von Dampfmaschinen und Smartphones. Mit jedem Jahr, das vergeht, kommen neue Dinge hinzu, vor denen man dort noch sicher ist. Zauberer gehen nicht ins Kino und tanzen nicht auf Tiktok, und das Klima hat sie auch nicht weiter zu kümmern

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Alles bewegt sich zwischen dem hyggeligen Weasley-Fuchsbau, Hagrid-Cottagecore und der elitären Privatschulwelt von Hogwarts, die auf die alte Welt der britischen Boarding Schools zurückverweist. Die Welt der Menschen ist bis zuletzt wunderbar fern. Und auch wenn die der Magie in ihren Regeln eine formbare, plastische ist, ist ihre Vorstellung von Gut und Böse simpel und statisch, fast manichäisch. Man fühlt sich wohl mit diesen Schurken und diesem magischen Stupor. „Stupor“ ist zufällig auch der Zauberspruch, der später oft von Harry und seinen Verbündeten im Kampf eingesetzt wird. Er lähmt, statt zu verändern oder zu verwunden. Sie schreiten stolz, mutig und kämpferisch voran, um alles so zu bewahren, wie es ist. Das ist Harry Potter.

Leinwände und Bildschirme sind manchmal eben auch wie Nerhegeb, und wie Dumbledore Harry erklärt: „Angenommen der glücklichste Mensch auf Erden würde in diesen Spiegel sehen, er sähe bloß sich selbst vor sich.“

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