zurück zur Übersicht
Diagonale 2017

Diagonale Tagebuch 2017: Heimat und Fremde

Ein Beitrag von Joachim Kurz

Meinungen
Die Migrantigen

Die Preise bei der diesjährigen Diagonale sind vergeben, am Sonntag noch werden die letzten Filme so sehen sein, dann werden die Koffer gepackt und die Dekorationen abgebaut; dann ist das 20. Festival des österreichischen Films schon wieder Geschichte. Zeit für eine letzten Spurensuche nach Motiven und Themen des diesährigen Jahrgangs — und Zeit für ein kleines vorläufiges Resümee.

Sieht man sich das Programm der Diagonale 2017 an, dann fällt auch auf, wie sehr das Thema Migration und Gesellschaft, Flucht und Toleranz sich in den Filmen widerspiegelt und wie eindeutig das Votum der Filmemacher auf dieses brisante Thema hier ausfällt. Exemplarisch lässt sich dies an zwei Spielfilmen aus dem Wettbewerb aufzeigen, die beide auf ihre je eigene Weise verdeutlichen, wie sehr eine multiethnische Gesellschaft allen Abwehrreflexen zum Trotz längst Realität geworden ist — wobei dies vor allem für die urbanen Zentren des Landes gilt. 

Einer der begehrtesten Filme in der Publikumsgunst war sicherlich Arman T. Riahis Komödie Die Migrantigen über Benny und Marko, die im (fiktiven) Wiener Viertel Rudolfsgrund leben. Beide haben zwar Eltern, die einen Migrationshintergrund aufweisen, doch die zwei haben sich so perfekt assimiliert, dass sie längst ein Leben führen, dass sich von dem gleichaltriger Bio-Österreicher nicht mehr unterscheidet. Doch dann tritt die TV-Journalistin Marlene Weizenhuber auf, die für eine Reportage nach echten Kleinkriminellen ist, die in ihr Klischee- und Zerrbild von gesellschaftlichen Verwerfungen passt. Und weil Marko und Benny gerade sowieso ganz andere Probleme haben, wittern sie die Chance, vielleicht doch noch groß rauszukommen und zumindest für die Dauer einer Reality-TV-Serie etwas Ruhm abzubekommen. Nur: Wie wird man eigentlich ein echter „Tschusch“? in ihrer Not nehmen die zwei einen Schnellkurs in Desintergration, bis sie aus der Nummer nicht mehr sauber herauskommen. 


Teaser zu Die Migrantigen

Die Migrantigen  ist eine temporeiche Komödie, deren Bissigkeit meilenweit über dem biederdeutschen Humor von Willkommen bei den Hartmanns steht — und das auch deswegen, weil sie Klischees und Vorurteile gegen den Strich bürstet: Statt zu schlecht sind die beiden Protagonisten zu gut integriert, um überhaupt den (medialen) Erwartungen von Öffentlichkeit und Gesellschaft zu entsprechen. Dabei bekommt nicht nur die Boulevardisierung des Journalismus ihr fett weg, sondern auch im Bereich der Kunst sieht es nicht sehr viel besser aus: Benny, der sich als Schauspieler versucht, bekommt immer nur Rollen angeboten, die seinem kaum mehr sichtbaren Migrationshintergrund entsprechen. Und wenn er sich weigert, einen arabischen Taxler zu geben, dann wird es halt nichts aus der Karriere. 

Die Riahi Brothers (neben Arman gibt es da noch Arash, der den Film seines Bruders produziert hat) sind mit ihrer Filmproduktion Golden Girls längst zu einer der interessantesten Firmen der kleinen, aber feinen österreichischen Filmlandschaft geworden. Mit Die Migrantigen könnte es ihnen gelingen, die Tür zu den ganz großen Publikumserfolgen weit aufzustoßen und damit ein filmisches Signal gegen die unseligen Parolen der FPÖ und anderer populistischer Politiker zu setzen.

Einen anderen Weg schlägt die Filmemacherin Nina Kusturica (Little Alien) mit Ciao Chérie ein. Ihr semidokumentarischer Spielfilm ist in einem Wiener Callshop angesiedelt, bei dem Menschen verschiedenster Herkunft zusammenkommen, um mit den Menschen zu sprechen, die sie in ihrer alten Heimat zurückgelassen haben — oder mit den weit enfernten Menschen, nach denen sie sich sehnen. Da ist beispielsweise der Mann, der vor dem Bürgerkrieg aus Syrien geflohen ist und der sich fassungslos die Berichte seiner Frau anhören muss, wie schlimm deren Leben und das seiner Kinder geworden ist. Oder eine junge Afrikanerin, deren Anrufe zuhause nicht gerade sehnlichst erwartet werden. Außerdem gibt es da noch die heimlichen Flüstereien einer verheirateten Japanerin, die eine Affäre mit einem Italiener hat und kurz davor ist, alles offenzulegen und ihre Familie zu verlassen. Und einen jungen Afghanen, der längst eine Freundin gefunden hat, doch seine Familie, die noch in der Heimat lebt, hat längst andere Pläne für ihn und will ihn mit einer jungen Frau vermählen, die ihr Sohn nicht einmal kennt. 


(Bild aus Ciao Chèrie; Copyright: NK Projetcs)

Trotz oder gerade wegen seiner örtlichen Begrenzung auf die Enge des Callshops und obwohl man die Gesprächspartner dieser Dialoge niemals sieht, sondern stets nur als entfernte Stimmen hört, entsteht ein dichtes und bewegendes Bilder der Einzelschicksale, der kleinen und  großen Sorgen und Nöte jener Menschen, die fern ihrer Heimat leben und deren einzige Verbindung zu den geliebten Menschen nur eine Telefonleitung ist. 


Trailer zu Die Liebhaberin

Weit weg von Österreich führt Lukas Velenat Rinner (Parabellum) mit seinem Spielfilm Die Liebhaberin, den er im Rahmen des Jeonju Digital Cinema Project innerhalb von nur acht Monaten realisierte (eine ausführliche Besprechung hierzu und zu anderen Filmen, die uns aufgefallen sind, wird in den nächsten Tagen folgen). In seinem neuen Werk erzählt der Regisseur die Geschichte einer jungen Frau aus einfachsten Verhältnissen, die am Stadtrand von Buenos Aires einen Job als Haushälterin bei einer Familie in einer privilegierten „gated community“ annimmt: Dort stößt sie per Zufall auf ein Nudistencamp und findet ausgerechnet dort Zuneigung und ein Verhältnis zu ihren eigenen, auch körperlichen Bedürfnissen und Sehnsüchten. Was als sprödes und wortkarges Arthouse-Drama beginnt, wechselt zwischendrin schlagartig Richtung und Tonfall und wird zu einer beißenden, an die Filme der griechischen neuen Welle erinnernden Satire über Klassenkämpfe und sexuelle Befreiung, die sich schließlich in einem völlig absurden Finale furioso auflöst. Formal wie erzählerisch sicherlich einer der mutigsten, aufregendsten und freiesten Spielfilme des diesjährigen Jahrgangs — und es spricht Bände für den Geist des Festivals, dass am Ende gerade diese radikale Dekonstruktion von Bekanntem und Erwartbarem die Auszeichung als bester Spielfilm in Empfang nehmen konnte.

Mit diesem Beitrag nehmen wir Abschied von der Diagonale 201, gratulieren zu einem gelungenen, inspirierenden Jahrgang und wünschen uns, dass wir zahlreiche der besprochenen Filme bald im Kino werden wiedersehen können. 

Meinungen