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Darling der Woche

Verehrt und (fast) vergessen: Yuliya Solntseva

Ein Beitrag von Christian Neffe

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Yulyia Solntseva in "Aelita - Der Flug zum Mars" (1924)
Yulyia Solntseva in "Aelita - Der Flug zum Mars" (1924)

Dass die Filmbranche ein Metier ist, an dem es Frauen ungleich schwerer haben als Männer, ist nicht erst seit der #MeToo-Debatte bekannt. Im Regiefach fällt dieses Ungleichgewicht besonders auf — und das, obwohl Regisseurinnen quer durch die Geschichte des Films immer wieder Beachtenswertes und Innovatives vollbracht haben. Eine von ihren wäre am 7. August 118 Jahre alte geworden: Yuliya Solntseva.

Letztmals fand dieser Name im Jahr 2017 in einer größeren Öffentlichkeit Erwähnung. Als Sofia Coppola in Cannes den Regiepreis für Die Verführten erhielt, war sie erst die zweite Frau in der damals 71-jähriges Geschichte des Festivals, der diese Auszeichnung zuteil wurde. Yuliya Solntseva war die erste. Das war zu diesem Zeitpunkt bereits 56 Jahre her.

Zum Film kam die 1901 Geborene über das Schauspiel. Im ersten sowjetischen Science-Fiction-Film Aelita — Der Flug zum Mars (1924), in dem der Klassenkampf auf interplanetare Ebene gehoben wird, trat sie erstmals vor der Kamera in Erscheinung erhielt sogleich die titelgebende Hauptrolle. Es folgten drei weitere Auftritte, der letzte im 1930 erschienenen Erde von Alexander Dovzhenko (1894 bis 1956), den sie ein Jahr zuvor kennen lernte und heiratete. Die Beziehung prägte — ähnlich wie bei Jean und Marguerite Renoir oder Dziga Vertov und Yelizaveta Svilova - nicht nur das Privatleben der beiden, sondern auch ihre gemeinsame Arbeit. Bereits in Erde übernahm Solntseva die Regieassistenz, ebenso in Dovzhenkos nächstem Film Ivan (1932) und in seiner vorletzten Regiearbeit Die Welt soll blühen (1949).

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Als Dovzhenko 1956 verstarb, hinterließ er diverse unvollendete Projekte und Drehbücher, von denen Solntseva mehrere fertigstellte — und sich dabei völlig dem Erbe ihres Ehemanns hingeben wollte: “Ich muss [Poem vom Meer] in Übereinstimmung mit Dovzhenkos künstlerischer Konzeption fertigstellen und jede Spur meiner eigenen Vision zur Seite stellen“, wird sie in The Women’s Companion to International Film zitiert. “Alles, was ich tue, ist eine Verfestigung und Illustration von Dovzhenko.”

Trotz dieser selbsterklärten Absicht ist Solntsevas eigene Handschrift in ihren Werken deutlich erkennbar. Poem vom Meer (1958), Flammende Jahre (1961) und Die verzauberte Desna (1964), die die sogenannte „Ukrainische Trilogie“ bilden, basieren zum wesentlichen Teil auf biografischen Erfahrungen des Ukrainers Dovzhenkos, der 1932 etwa miterleben musste, wie das stalinistische Regime durch Zwangskollektivierung eine Hungersnot in seiner Heimat auslöste. Der sogenannten Holodomor fielen damals geschätzt vier Millionen Menschen zum Opfer. In Poem vom Meer wird dies durch den Bau eines Staudamms aufgegriffen, in dessen Zuge eine Stadt zerstört wird. Wie in Flammende Jahre und Die verzauberte Desna werden hier zudem traumatische Kriegserfahrungen thematisiert — allesamt aus ukrainischer Perspektive.

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Die gebürtige Moskauerin Solntseva konnte sich dennoch deutlich vom Stil ihres Ehemanns emanzipieren, vor allem narrativ und auditiv. Der Einsatz von Voice-Over-Erzählungen etwa, die die inneren Gedanken der Figuren nach außen kehrten und den Filmen einen deutlich subjektiveren Charakter verliehen, war ein Novum gegenüber den Stummfilmen Dovzhenkos. In Poem vom Meer schneidet die Regisseurin in einer Szene zwischen den inneren Monologen eines Vaters und seines Sohnes hin und her: Der Ältere erinnert sich an den Krieg, die Explosionen und Schreie des Schlachtfeldes hallen in seinem Kopf wider — der Jüngere hingegen kann nur daran denken, wie langweilig die Felder um ihn herum sind, was mit zarten Umgebungsgeräuschen unterlegt wird. Auch mit dem Einsatz von Rückprojektionen (rear projections) grenzte sich Solntseva — ob bewusst oder unbewusst — vom Stil ihres Ehemanns ab. Der US-amerikanische Kritiker Jonathan Rosenbaum schrieb 1970 deshalb zu recht, ihre Filme seien “less an extension of Dovzhenko than a giddy dream inspired by him”.

Bis zu ihrem Tode 1989 inszenierte Solntseva vier weitere Filme. Ihr bedeutendster aber bleibt bis heute Flammende Jahre, der ihr 1961 den Preis in Cannes und damit einen Eintrag in die Filmgeschichte einbrachte — als erste (und bis 2017 einzige) Frau, die bei den Filmfestspielen für ihre Regiearbeit ausgezeichnet wurde. 2017 ehrte sie das New Yorker Museum of Moving Images zudem mit einer Vorführung der „Ukrainischen Trilogie“. Und 2018 fand sie in Mark Cousins‘ vierstündiger Dokumentation Women Make Film: A New Road Movie Through Cinema Erwähnung. Trotzdem ist Solntseva fast in Vergessenheit geraten. Mit der Ernennung zu unserem Darling der Woche können wir dem hoffentlich ein wenig entgegenwirken.

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