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Darling der Woche

Sturm im Wasserglas: Der Skandal um "Mignonnes"

Ein Beitrag von Katrin Doerksen

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"Mignonnes" von Maïmouna Doucouré
"Mignonnes" von Maïmouna Doucouré

Ein Film läuft im Programm des Sundance Film Festivals und später auf der Berlinale, in dem ein elfjähriges Pariser Mädchen aus einer senegalesischen Familie versucht sich aus ihrem konservativ muslimischen Umfeld zu befreien, indem sie sich einer Mädchengruppe an ihrer Schule anschließt, die für einen Tanzwettbewerb trainiert. Der Film geht keinen ungewöhnlichen Weg: Es gibt einen Regiepreis und ein paar wohlwollende Kritiken, schließlich sichert sich Netflix die Rechte.

Ein paar Monate später steht Mignonnes (auch bekannt unter seinem englischen Titel Cuties) von Maïmouna Doucouré im Kreuzfeuer einer erbittert geführten Debatte. Es sei ein „Film für Pädophile“, wird sich ereifert und vor allem Rechtskonservative bis hin zum Politiker Ted Cruz fordern mithilfe eines Hashtags und einer Onlinepetition Netflix gleich ganz zu löschen und fortan zu boykottieren. Es sind vor allem jene Stimmen, die sonst schnell dabei sind die sogenannte cancel culture zu verdammen, die auf ihr Recht auf freie Meinungsäußerung pochen, wann immer jemand ihnen mit Argumenten entgegentritt.

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In diesem Fall hat die Skandalisierung sogar ein besonders abstruses Level erreicht: Denn der Auslöser ist im Grunde genommen nicht einmal der Film selbst, sondern lediglich sein Plakat. Es zeigt die Darstellerinnen in knappen Klamotten und sexualisierten Posen auf einer Tanzbühne. Möglicherweise eine fragwürdige Marketingentscheidung, reißt das Bild doch eine Schlüsselszene aus dem Kontext, die genau diesen Kontext braucht, um ihre Botschaft zu entfalten. Dennoch schwingt zugleich eine gewisse Scheinheiligkeit darin mit, Netflix ausgerechnet für diesen Fall abzuurteilen. Denn genau so funktionieren die Medien nicht erst seit gestern. Marketing, Social Media, Zeitungsüberschriften: Auf die Schlagzeile wird gehoben, was die größte Aufmerksamkeit erregt, was die heftigsten Emotionen auslöst, was am nachhaltigsten provoziert.

Wer diese berechtigte Medienkritik übt, ist keineswegs weit entfernt von der Haltung der Regisseurin, die für Mignonnes unerwartet in die Defensive geraten ist. Erst kürzlich bekräftigte Doucouré im Branchenblatt Variety: „Wir müssen unsere Kinder schützen. Was ich will, ist die Augen der Leute für dieses Problem zu öffnen… Es ist wichtig und notwendig eine Debatte herzustellen und als Filmemacher, als Politiker und innerhalb der Bildungssysteme Lösungen zu finden.“

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Was in all der Aufregung beinahe übersehen wird, ist der Film selbst. Mignonnes ist eine Kombination des klassisch französisch-sozialrealistischen Problemfilms mit einer verspielten Coming-of-Age-Geschichte, nicht allzu weit entfernt etwa von Céline Sciammas Mädchenbande. Wie viele Filme dieser Art heftet er sich an die Fersen einer jungen Protagonistin, die als Außenseiterin in die Geschichte startet und versucht ihren Platz zu finden. Den Widerspruch, dem Amy (Fathia Youssouf) täglich ausgesetzt ist, verdeutlicht die Regisseurin zunächst einmal nicht unbedingt subtil: Daheim nimmt sie mit ihrer Mutter an Gebetskreisen teil, in denen den Frauen eingeschärft wird, dass sie sich verhüllen müssen um ehrbare Ehefrauen abzugeben. Amy soll lernen zu kochen und schwere Schüsseln anmutig auf dem Kopf zu tragen, während ihre Mutter stumm darunter leidet, dass ihr Ehemann eine zweite Frau heiratet. Die Mädchen in der Schule wiederum tragen bauchfreie Tops und tanzen auf der Straße, sie geben Widerworte und beziehen ihr Selbstbewusstsein aus den Likes, die ihre Fotos in den sozialen Medien generieren.

Nachdem es Amy schafft von der Clique akzeptiert zu werden, beginnt sie zunächst ihre Proben zu filmen und tanzt schließlich nach ersten Versuchen vor dem Badezimmerspiegel selbst mit. Ihre Bewegungen schauen die Mädchen dabei US-amerikanischen Musikvideos ab — und dass Doucouré das zeigt, ist zentral für die Botschaft des ganzen Films. Auf diese Weise macht sie nämlich unmissverständlich klar, dass wir es mit Kindern zu tun haben. Mit unaufgeklärten Elfjährigen, die imitieren, was ihnen von den sozialen Medien als erfolgreich präsentiert wird. Die Hardcorepornografie auf ihren Smartphones konsumieren ohne dabei wirklich einordnen zu können was sie sehen. Die beim Anblick eines Kondoms ausflippen und lediglich Wissensfetzen weiter plappern, die sie etwa bei ihren älteren Brüdern aufgeschnappt haben. Mignonnes thematisiert einen Mangel an geeigneten Vorbildern ebenso wie das Desinteresse der Erwachsenen, die abgesehen von den Szenen mit Amys Familie, die jedoch gefühlt in einem völlig anderen Universum lebt, vor allem durch Abwesenheit glänzen.

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Die Tanzszenen selbst erinnern derweil in Mignonnes keineswegs an besagte Musikvideos. Doucouré schaltet stets ein irritierendes Moment dazwischen: Einen Smartphonebildschirm, auf dem die Choreografie aufgenommen werden soll. Ein Publikum, das irritiert auf die Tänzerinnen blickt (eine Zuschauerin hält ihrer kleinen Tochter einmal sogar die Augen zu). Die tapsigen Fehltritte, die bei ersten Tanzversuchen unweigerlich passieren. 

Die Probensequenzen sind ohnehin die lichtesten Szenen in Mignonnes, denn in ihnen kommt das Potential der Mädchen erst so recht zur Geltung. Sie wollen bei diesen ersten Versuchen, aber auch bei diesen kleinen Feiern ihres eigenen Könnens gerade nicht beobachtet werden. Überhaupt kommen im Film fast keine Männer vor und schon gar nicht macht sich die Kamera mit ihrem Blick gemein. Die Mädchen tanzen nicht (und sie tragen auch nicht Hotpants), um die Aufmerksamkeit von Männern zu erregen — dieses Konzept ist ihnen natürlich wage bekannt, aber noch viel zu abstrakt. Sie tanzen für eine diffuse Vorstellung von Ruhm, die sich in Likes manifestiert. Aber sie tanzen vor allem, um sich ihr Talent, ihre Wertigkeit zu beweisen, wo sonst Bestätigung fehlt. Sie tanzen um Spaß zu haben, um sich zu fühlen, ganz genau wie es Niko Noki im Soundtrack immer wieder singt. Ein Beyoncé-Zitat bleibt aus dem Song „Keep it up“ im Ohr: I’m feeling myself. Die Kraft und Selbstermächtigung, die darin liegt den eigenen Körper unter Kontrolle zu haben, ist den Mädchen intuitiv bewusst. Sie wird deutlich, wenn sie mitten in der Choreografie plötzlich lachend übereinander purzeln, aber auch wenn sich Amy und eines der Mädchen emotional näher kommen, über ihre Sorgen und Ängste sprechen.

Der Vorwurf, Maïmouna Doucouré kritisiere die Sexualisierung von Kindern indem sie selbst Kinder sexualisiere, hält einer genauen Analyse des Films nicht stand. Der eigentliche Skandal ist vielmehr, das inzwischen einzelne, aus dem Kontext gerissene Bilder reichen, um eine weltweite Empörungswelle loszutreten, die jeder Grundlage entbehrt. Die Angst vor den eigenen Abgründen, aber auch die fehlende Medienkompetenz, die fehlende Mündigkeit, die dahinter steckt. Als ob es hieße, das, was nicht gezeigt wird, auch nicht existiert. Als ob die Tatsache, dass etwas gezeigt wird, nicht immer auch ganz automatisch und unmittelbar die Möglichkeit böte, sich dazu kritisch zu verhalten.

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