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Darling der Woche

"Squid Game" und die Faszination Battle Royale

Ein Beitrag von Christian Neffe

Meinungen
Still zu Squid Game (TV-Serie, 2021)
Squid Game (TV-Serie, 2021)

Netflix hat die Mechanik von Hypes bestens verstanden. In den vergangenen Jahren und Monaten jedenfalls häuften sich die Beispiele für Exklusivserien, die auch auf anderen medialen Kanälen (insbesondere Social Media) große bis gewaltige Aufmerksamkeit erfuhren und für regelmäßige Schlagzeilen sorg(t)en. Stranger Things, Tiger King, Das Damengambit, Haus des Geldes und Black Mirror sind nur die namhaftesten Exemplare, von denen selbst jene gehört haben dürften, die nicht regelmäßig beim Streaming-Dienst reinschauen. Vor genau einem Jahr ist ein weiteres Exemplar hinzugekommen: Squid Game, das sich in den Wochen seit seinem Erscheinen mit weit mehr als 100 Millionen Abrufen zur erfolgreichsten Serie auf Netflix mauserte.

Nun hat so ein Hype in der Regel mehrere Ursachen, auch wenn gern mal nur eine davon in den Fokus gerät. Bei Stranger Things war es die 80er-Nostalgie, bei Das Damengambit der thematische Schwerpunkt Schach (speziell im Lockdown), bei Tiger King die schiere Skurrilität der Ereignisse. Bei Squid Game scheint es auf den ersten Blick ebenfalls diesen einen entscheidenden Grund zu geben: die drastische Gewalt, die vor allem Minderjährige zu reizen scheint. Und so häuften sich nach dem Release von Squid Game Schlagzeilen, laut denen Schulen Eltern davor warnen, ihre Kinder die Serie schauen zu lassen, oft mit Verweis auf Vorfälle in Belgien und Großbritannien, wo Schüler*innen die in der Serie auftauchenden Spiele nachgestellt und die Verlierer*innen verprügelt haben sollen. Da wird dann „Alarm geschlagen“ und eine direkte kausale Verbindung zwischen der Serie und Gewalt unter Kindern gezogen — und schon sind wir wieder beim alten Narrativ von der verrohenden Wirkung von Gewaltdarstellungen in Medien angekommen, die wir seid dem Ende der unsäglichen „Killerspiel-Debatte“ eigentlich überwunden geglaubt hatten.

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Ein Klick auf aufmerksamkeitsökonomisch optimierte Überschriften wie „Führt die brutale Netflix-Serie zu gewalttätigen Vorfällen an deutschen Schulen?“ zeigt dann aber oft, dass Expert*innen das Ganze alles andere als derart drastisch sehen, schließlich sei Squid Game nur einer von unzähligen frei verfügbaren medialen Inhalten, in denen brutale Gewalt dargestellt und/oder ausübt wird. Seinen Kindern die Serie zu verbieten, sei angesichts des möglichen Drucks der peer group („Der ganze Schulhof hat sie schon gesehen!“) dann auch keine Lösung, stattdessen wird empfohlen, dass entweder im Unterricht oder zu Hause über die Serie gesprochen wird, um sie einzuordnen und zu reflektieren. Zumal die Gewalt in Squid Game auch kein reines Mittel zum Zweck, sondern durchaus in einen gesellschaftskritischen Kontext eingebettet ist.

Der mediale Fokus allein auf die Gewalt könnte nun aber den Eindruck erzeugen, der Hype um Squid Game sei lediglich eben dieser Gewalt geschuldet. Doch: Ein Hype hat oft mehrere Ursachen. In diesem Falle lauten einige der offensichtlicheren Faktoren: die spätestens seit Parasite gesteigerte Popularität koreanischer Filme und Serien im Westen; die Ikonografie der Bildsprache (etwa die rot-pinken Kostüme der Wachen) und damit Meme-Tauglichkeit der Serie; und die Imitierbarkeit bzw. Nachspielbarkeit der Herausforderungen, denen sich die 450 Teilnehmer*innen in der Serie stellen müssen. Die These, die hier jedoch aufgemacht werden soll, ist, dass insbesondere eine Sache Squid Game unter Jugendlichen und Kindern so populär macht: das Battle-Royale-Konzept — das zugleich eine interessante intermediale Beeinflussung offenlegt.

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Namentlich abgeleitet vom japanischen Klassiker Battle Royale (Kinji Fukasaku, 2000), in dem mehrere Schulklassen zu einem Spiel auf Leben und Tod gezwungen werden, entstand kurz nach den konzeptuell ähnlichen Tribute von Panem-Filmen ein Spielmodus nach gleichem Prinzip für das beliebte Klötzchen-Computerspiel Minecraft: Mehrere Spieler*innen treten in einer Arena gegeneinander an, die immer kleiner wird, am Ende gewinnt der/die letzte Überlebende. 2017 erschien dann das realistischer anmutende PlayerUnknown’s Battlegrounds, das einzig einen solchen Spielmodus bot und zu einem wahren Phänomen wurde — gefolgt vom Battle-Royale-Modus (inzwischen hatte sich diese Bezeichnung als eigenes Genre etabliert) in Fortnite. Das markierte schließlich die Spitze dieses Hypes, weil es kostenlos auf jedem Spielgerät (inklusive Smartphones) verfügbar ist und u.a. wegen seiner comichaften Anmutung eine Altersfreigabe von zwölf Jahren erhielt, was aufgrund des schusswaffenlastigen Spielprinzips durchaus umstritten ist.

Fortnite ist inzwischen zum einflussreichen popkulturellen Faktor geworden, bekannt für seine absurden (Sieges-)Tänze und gar als Plattform für virtuelle Konzerte. In den vergangenen Jahren mauserte sich das Konzept Battle Royale damit zu einem festen Bestandteil in der medialen Lebensrealität vor allem junger Menschen (gefühlt jedes Online-Spiel brauchte vor zwei, drei Jahren einen Battle-Royale-Modus) — und findet sich nun auch in Squid Game wieder. Wie viele Jugendliche werden ihren Mitschüler*innen auf dem Schulhof wohl von der Serie erzählt und mit den Wörtern „Das ist genau wie in Fortnite“ beworben haben, vielleicht noch ergänzt durch ein „Nur brutaler“?

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Dass Battle Royale als (Spiel-)Genre derart populär ist, liegt laut Rogelio E. Cardona Rivera von der University of Utah darin begründet, dass es alle Bedürfnisse von Maslows Bedürfnishierarchie anspricht:

„Battle royale games typically combine survival, exploration, and scavenging and crafting (…) Psychologically and evolutionary, we have the pure and basic foundational need“. - Rogelio E. Cardona Rivera

Die untersten zwei der fünf Bedürfnisse — Existenz und Sicherheit — werden demnach durch das grundlegende Prinzip des Überlebens getriggert. Stufe drei — das Soziale — durch das Spiel mit und gegen andere, den direkten Wettstreit und die Kommunikation über Chats. Die obersten beiden — Anerkennung und Selbstverwirklichung — schließlich dann, wenn man als einziger von 100 Spieler*innen am Ende auf den Beinen und damit dem Siegertreppchen steht, was angesichts der Tatsache, nur ein Leben zu haben, psychologisch umso belohnender wirkt. Aufgrund seiner Dramaturgie hat sich das Genre zudem als wahnsinnig populär in Streams und bei E-Sport-Events erwiesen — nicht nur das Selberspielen, sondern auch das Zuschauen von Battle-Royale-Runden gehört damit zur medialen Lebensrealität junger Menschen. Und nun eben auch in Serienform.

Was also seinen Ursprung im Filmischen hatte, wurde vom Videospiel adaptiert, modifiziert und popularisiert und wirkt nun wieder auf das Filmische zurück. Hinzu kommen die erwähnten anderen Faktoren sowie — als Mittel der Drastik, Skandalisierung und (vermeintlichen) Grenzüberschreitung — die Gewalt. Und fertig ist der Hype. Ob der nun aber Kalkulation oder pures Glück war, das wissen wohl nur Netflix sowie Regisseur, Autor und Showrunner Hwang Dong-hyuk.

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