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Darling der Woche

Kenneth Anger – Die Wut im Untergrund

Ein Beitrag von Sophia Derda

Kenneth Anger trug ihn schon in seinem Namen. Den Ärger, den er im Laufe seiner Karriere machte, den Zorn, den er in sich trug und in seinen Filmen zum Ausdruck brachte. Der Pionier des US-Amerikanischen Underground-Films provozierte stets und hielt der konservativen Gesellschaft einen Spiegel vor. 

Meinungen
Cinemagician: Conversations with Kenneth Anger
Cinemagician: Conversations with Kenneth Anger (c) Carl Abrahamsson

Die Anfänge

Schon früh in seinem Leben interessierte sich Kenneth Anger für Kino und Filme. Mit 10 Jahren inszenierte er seinen ersten Film, Ferdinand der Stier, in dem er selbst als Matador zu sehen ist, während zwei seiner Freunde den Stier spielen. Mitte der 1940er Jahre zog Kenneth aus seinem Elternhaus aus, änderte seinen Namen und bekannte sich offen zu seiner Homosexualität — zu einer Zeit, in der Homosexualität noch illegal war. Er begann ein Filmstudium an der University of Southern California und 1947 entstand dann jener Kurzfilm, für den er auf Grund von Obszönität verhaftet wurde: Fireworks. Der handelt von einem jungen Mann, gespielt von Anger, der von Matrosen angegriffen wird, die ihn daraufhin zu Tode prügeln und seine Brust öffnen, um darin einen Kompass zu finden. Er selbst beschreibt den Film wie folgt: „Dieser Film ist alles, was ich über das 17. Lebensjahr, die United States Navy, das amerikanische Weihnachtsfest und den 4. Juli zu sagen habe.“ Schon zu diesem Zeitpunkt, ganz am Anfang seiner Karriere, bewies Anger ein Gespür für die Provokation. Seine Wut auf die amerikanische Gesellschaft war groß und suchte ihren Weg in die Welt. Der Oberste Gerichtshof von Kalifornien kam schließlich zu dem Urteil, dass es sich bei dem Kurzfilm um Kunst und damit nicht um Pornografie handeln würde. Die Anklage wurde fallen gelassen.

Still von Fireworks (c) Kenneth Anger, 1947

 

Der Historiker Mark Svede beschrieb Anger als einen der ersten offen schwulen Filmemacher Amerikas, dessen Werk Homosexualität in einer unverhohlenen, sich selbst darstellenden Weise inszenierte. Angers Filme sowie sein Einfluss auf Filmemacher*innen spielte bei der Sichtbarmachung schwuler Kultur innerhalb des amerikanischen Kinos eine große Rolle. Neben der Homoerotik lassen sich in Angers filmischem Werk viele wiederkehrende Themen erkennen. Eines der zentralen Bilder ist die Darstellung religiöser Symbolik und okkulter Rituale. Außerdem wird viel Musik, sowohl klassische als auch Popmusik, verwendet, um die Bilder anzureichern. Filmemacher*innen wie Georges Méliès, Maya Deren und die Brüder Lumière waren seine Haupteinflüsse. Anger war zudem immer auf der Suche nach neuen Philosophien und Lebensentwürfen, weil er sich mit den vorherrschenden Werten und Normen der christlichen Gesellschaft nicht identifizieren konnte. Die Nähe zu okkultistischen Bewegungen und seine Freundschaft zu dem Gründer der magisch-religiösen Gemeinschaft Thelema, Aleister Crowley, lassen sich dadurch erklären. Das freie Ausleben der Sexualität und das selbstbestimmte Handeln jedes Individuums, unabhängig von Staat und Kirche, sind elementare Bestandteile dieser Bewegungen.  

 

Scorpio Rising

1950 zog Anger auf Einladung des französischen Regisseurs Jean Cocteau nach Paris. Cocteau drückte seine Bewunderung für Fireworks aus, der 1949 auf dem Festival du Film Maudit in Biarritz gezeigt wurde, und bat Anger um eine Zusammenarbeit. In den folgenden Jahren ließ er sich vom Kino der Avantgarde inspirieren, insbesondere von Cocteau selbst und dem Surrealismus sowie von antiken Mythen und okkulten Einflüssen. 

1961 kehrte Anger nach Amerika zurück und begann mit der Arbeit an seinem Kurzfilm Scorpio Rising, in dem er wieder mit kontroversen Bildern arbeitete, darunter mit Symbolen des Nationalsozialismus, des Okkultismus und des Christentums. Ohne Dialog oder Handlung ergründet Scorpio Rising die Spiritualität im Zentrum der amerikanischen Biker-Kultur. Die Machart des Films mit seinen schnellen Schnitten, unkonventionellen Bildern und dem Einsatz von Popmusik hatte einen enormen Einfluss auf die zukünftige Entstehung und Entwicklung des Musikvideos und der Fernsehwerbung. Martin Scorsese, John Waters und David Lynch sehen Anger als ein großes Vorbild an. Insbesondere in Bezug auf die Verwendung von Popmusik im Film hatte Scorpio Rising eine Vorreiterrolle, die später von Scorsese in Hexenkessel, Lynch in Blue Velvet oder auch Dennis Hopper in Easy Rider aufgegriffen wurde.

Während in Scorpio Rising seine Protagonisten in hautengen Lederjacken für die Kamera performen, zieht Anger Parallelen zwischen ihrer rohen Männlichkeit und angepriesenen religiösen Ritualen. Diese Verbindungen zwischen dem Körperlichen und der Spiritualität werden durch provokative Collagen aus Archivmaterial verstärkt, wobei das Heilige stets mit Gefahr verbunden wird. Ausschnitte eines Kurzfilms über Jesus Christus werden mit Bildern von Ärschen, hakenkreuzgeschmückten Fahnen und Sensenmännern zusammengefügt. Kurz nach Release wurde der Film in einem Gerichtsurteil wegen obszöner Inhalte verboten.

Still von Scorpio Rising (c) Kenneth Anger, 1963

 

New American Cinema & Underground-Film

Rund um den Filmemacher Jonas Mekas und die Filmzeitschrift Film Culture gruppierten sich in den späten 1950er und frühen 1960er-Jahren eine Gruppe von Filmemacher*innen, die sehr unzufrieden mit der gegenwärtigen Situation in der Filmbranche waren, Kenneth Anger gehörte auch dazu. Sie erklärten den moralischen und ästhetischen Bankrott des kommerziellen amerikanischen Hollywood-Kinos und gründeten die Bewegung des New American Cinema. Hauptsächlich handelte es sich dabei um den amerikanischen Underground-Film.

Filmemacher*innen wie John Cassavetes, Shirley Clarke, Andy Warhol und Kenneth Anger selbst lehnten die Produktionsweisen des kommerziellen Hollywood Films ab und benutzten stattdessen, bei geringem Budget, einfachste Film Produktionsmittel wie übrig gelassenes und minderwertiges 16mm Material, Found Footage und Laiendarsteller*innen — es galt eine neue Form des Films zu ergründen. Sie prägten damit zunächst den amerikanischen und später den Experimentalfilm weltweit; Filme, die jenseits institutionalisierter (d.h. öffentlicher) Produktionszusammenhänge entstanden waren. Die Filme wurden im Untergrund realisiert und waren bewusster Ausdruck einer Subkultur. Eines der zentralsten Anliegen war die Abgrenzung und die damit einhergehenden Provokation gegen die kommerzialisierte Gegenwart. Tabus wurden gebrochen — moralisch, ästhetisch sowie politisch, alles war erlaubt. Als Opposition lassen sich (klein-)bürgerliche Traditionen und Konventionen der Branche identifizieren, zu denen eine Gegenästhetik entworfen werden sollte.

 

Lucifer Rising

Einer der bekanntesten Filme von Kenneth Anger ist Lucifer Rising, der 1972 entstand. In gewisser Hinsicht kann der Film als leuchtendes Beispiel für Angers Filme dienen: Es ist ein Film, in dem keine Worte gesprochen werden, die visuellen Bilder werden nur von Musik begleitet. Der Film wurde in Ägypten gedreht und die Art und Weise, wie diese Orte mit den Handlungen der Filmfiguren verwoben sind, war damals sehr unkonventionell.  

Still von Lucifer Rising (c) Kenneth Anger, 1972

 

Sein Einfluss auf das Kino und darüber hinaus

Was den Einfluss der Werke von Kenneth Anger betrifft, so spielten seine Filme nicht nur in der Geschichte der amerikanischen Filmkunst, sondern auch in der politischen Geschichte eine wichtige Rolle. Angers Filme zeigen explizit schwule Erotik und haben den Blick für Sexualität insgesamt geöffnet. Okkulte Rituale und die Auseinandersetzung mit dem Satanismus sind für ihn wichtige Einflüsse gewesen, um sich selbst zu definieren und auszuleben. Anfang der 1980er-Jahre zog sich Kenneth Anger aus dem Filmgeschäft zurück, um dann zu Beginn des 21. Jahrhunderts zurückzukehren und Kurzfilme für verschiedene Filmfestivals und Veranstaltungen zu produzieren.

Bis zu seinem Tod lebte Kenneth Anger in Hollywood und widmete sich der Kunst in all ihren Formen. Der Filmemacher Harmony Korine hat mit ihm im Jahr 2014 für das Interview Magazine gesprochen, das Gespräch ist sehr zu empfehlen, wenn man mehr über ihn und die heutige Sicht auf sein Leben erfahren möchte. 2019 wurde außerdem der Dokumentarfilm Cinemagician: Conversations with Kenneth Anger veröffentlicht, in dem der Filmemacher Carl Abrahamsson mit Anger dessen Karriere Revue passieren lässt. Der Film ist auf Vimeo zum Kaufen und Leihen verfügbar.

Kenneth Anger ist im Alter von 96 Jahren verstorben. Rest in Anger!

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