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Darling der Woche

Am Schneidetisch über die Schulter geschaut: Die Outtakes zu Murnaus "Tabu"

Ein Beitrag von Bianka-Isabell Scharmann

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Foto von den Dreharbeiten zu Murnaus Tabu, Südsee
"Foto zu den Dreharbeiten von Tabu"

Die Belichtung ist zu stark oder zu schwach, der Fokus stimmt nicht, die Schauspieler*innen laufen in die verkehrten Richtungen – solche ‚Fehler‘, solche Störungen sieht man (meist) nicht im fertigen Film. Doch neben solch offensichtlichen Mängeln des gedrehten Materials kann auch einfach nur der Ausschnitt zu groß oder zu klein sein, eine bisschen zu viel oder zu wenig Mimik eingesetzt worden sein; und dann sind da die Szenen, die einfach genau das haben, was der oder die Regisseur/in sucht. Die Fehler und Störungen, die es nicht in den fertigen Film schaffen, das sind die Outtakes: filmischer Ausschuss, Überschuss.

Selten hat man in der Vergangenheit Zugang zu diesem Ausschuss erhalten. Ein prominentes und mittlerweile beliebtes Beispiel sind die Outtakes zu der Nummer Mr. Monotony aus Osterspaziergang, performt von der großartigen Judy Garland. Seit ein paar Jahren werden jedoch beispielsweise kurze Ausschnitte in Abspanne großer Blockbuster gepackt, da sieht man dann etwa Chris Hemsworth oder James McAvoy sich verhaspeln und über sich selbst lachen. Ein Hauch von Blick hinter die Kulissen weht aus diesen Bildern den Zuschauer*innen entgegen, und Menschlichkeit.

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Solche bewussten Herausgaben stehen in starker Opposition zu den Outtakes zu F.W. Murnaus Tabu, die die Deutsche Kinemathek in Kooperation mit dem Österreichischen Filmmuseum und der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung als Digitale Sammlung editiert und zugänglich gemacht hat. Ein umfangreiches und beachtenswertes Projekt.

Tabu (1931) erzählt eine tragische Liebesgeschichte, eingefangen in wunderschönen Bildern an traumhaften Stränden und gespielt von Einwohner*innen der Südsee. Ein uraltes Tabu, das von einem Ältesten ausgesprochen wird, erklärt eine junge Frau als ‚tabu‘, als heilige Jungfrau. Sie ist jedoch bereits verliebt und so entschließt sich das Paar, vor dem Tabu und damit dem Schicksal zu fliehen. Bei diesem Film handelt es sich um das letzte Projekt F.W. Murnaus.

Dieser Spielfilm ist ein „aufgrund seiner einzigartigen Überlieferungslage ein besonders aufschlussreiches Fallbeispiel für die Sicherung audiovisuellen Kulturguts“, so heißt es auf der Website der Deutschen Kinemathek. Ein Blick in die umfangreiche Aufarbeitung, die auch die komplexe Überlieferungsgeschichte des Films freilegt, bestätigt dies deutlich.

Diese wahrhaftig „einzigartige Überlieferungslage“ strebt die Edition der Tabu Outtakes an, abzubilden. Was auch sehr gut gelungen ist. Wer sich die Mühe macht und den editorischen Bericht liest, bevor man in die Tiefen der Datenbank eintaucht (und man sollte sich diese Mühe machen), der erhält die Werkzeuge an die Hand, in der Datenbank selbst den Spuren der einzelnen Versionen zu folgen. Die Outtakes erscheinen hier als das Bindeglied und gleichzeitig die Initialzündung für eine umfangreiche Aufarbeitung.

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Die Entstehungsgeschichte des Films selbst hin zur ersten Schnittfassung ist schon durchzogen von Abbrüchen, Umbrüchen und Problemen. Und dann verstarb F.W. Murnau auch noch plötzlich, er hatte gerade einmal die sogenannte „Pre-Paramount“-Fassung fertigstellen lassen können. Sein Schneideraum blieb unaufgeräumt. Paramount entschied sich, selbst noch einmal das Material zu bearbeiten: Die „Paramount-Fassung“ lief in den amerikanischen Kinos. In Deutschland wurde Murnaus Schnittfassung gezeigt.

Diese schon zu Beginn des ‚Lebens‘ von Tabu kursierenden verschiedenen Versionen wurden dann über die Jahre von weiteren Bearbeitungen ergänzt. Es war erst der Beginn einer wahrhaften Odyssee des Materials, inklusive der Outtakes, das auch in verschiedenen anderen Filmen benutzt oder sogar zu ‚neuen‘ Filmen zusammengeschnitten wurde. Es ging durch die Hände einiger Rechteinhaber*innen, um schließlich verstreut in Archiven zu landen.

Insgesamt rund 17.500 Meter umfassen die Outtakes. Das entspricht rund 10 Stunden reiner Spielzeit. Zusätzlich zu den verschiedenen Fassungen, die existieren. Diese Masse an Material galt es, zu sichten, sortieren, waschen, pflegen, prüfen, umkopieren, digitalisieren und katalogisieren. Ein eigenes System basierend auf der dem Material inhärenten Nummerierung wurde erstellt in Korrespondenz mit weiteren, archivarischen Dokumenten.

 

Negativstreifen © Österreichisches Filmmuseum

 

Sowohl eine „Current Continuity“, also ein Manuskript, in dem jede Szene beschrieben war, das als Drehbuch fungierte, wie auch die „Script Clark’s Reports“, also die Berichte über jeden einzelnen Drehtag wurden mit den Einstellungen, den Schnipseln verlinkt. Schnipsel sind das richtige Stichwort: Denn neben den üblichen Szenen fanden sich auch wirklich einzelne Bilder in Filmdosen. So bildet die Datenbank, das Herzstück des Projekts, letztendlich nicht nur die akribische Arbeit ab, sondern ermöglicht auch, die Dokumente zu Filmeinstellungen zu verlinken und umgekehrt. Ein wahrhaftes Netz ergibt sich, das sich in der Datenbank selbst abbildet.

Ein Beispiel macht das deutlich. Wählt man unter „Themensuche“ innerhalb der Datenbank „Themen in den Clips“ und dann „Tanz“ aus, erscheint auf Seite 4 die Einstellungs-Nr „X-175“. Wählt man diese an, so erscheint der Clip mit Kommentar, dem Namen des Kameramanns, das verwendete Filmmaterial der einzelnen Rollen sowie links Verlinkungen zu den Erwähnungen der Einstellung im Drehbuch und in den Reporten. Wirklich schön gemacht ist: Man kann die Notizen lesen, während links klein der Clip abläuft. So lassen sich sogar einzelne Drehtage nachvollziehen.

 

Screenshot der Datenbank, Einstellungs-Nr. X-175 @ Deutsche Kinemathek Berlin

 

Im Kommentar des Beispiels steht außerdem, dass ein Teil dieser Einstellung in den fertigen Film aufgenommen wurde. Diese hat man schwarz umrandet. Mit diesem einfachen Mittel wird also die Einstellung markiert, die am ehesten dem entsprochen hat, was man sich an Bildmaterial für die Szene gewünscht hat. Schaut man sich die Einstellung mehrmals hintereinander an, dann findet man immer mehr Details, die die scheinbar doch so gleichen Aufnahmen deutlich voneinander unterscheiden. Man schaut dem Entscheidungsprozess des Regisseurs und der Cutter förmlich über die Schulter, kann aktiv versuchen, nachzuvollziehen, welche ästhetische Vision verfolgt wurde.

Bleiben wir bei den Tanzsequenzen. Von all den verschiedenen Aufnahmen hat es nur ein Tanz in den Film geschafft, viele weitere wurden jedoch gefilmt. Wozu? Die Antwort auf diese Frage bleibt Spekulation. Was sich jedoch langsam zu erkennen gibt, wenn man die Outtakes und den fertigen Film miteinander vergleicht, ist, eine Choreografie, die allein mit dem Film entstehen kann und die nur teilweise etwas mit dem wirklichen Verlauf am Set gemein hat – oder gar mit den Tänzen, die ohne Filmcrew stattfinden.

Hat man sich erst einmal eingefunden, dann macht es ungemein Spaß, sich durch die Ausstellungen zu sichten, die Filmversionen mit den Outtakes zu vergleichen, nach Fehlern zu suchen. Es ist ein teils intimer und doch auch sehr ökonomischer Blick, der sich hier abbildet. Und das Projekt legt offen, was es abseits des fertigen Films zu entdecken gibt. Es wird wirklich greifbar, wie viel kleinteilige Arbeit in einem fertigen Film steckt. Wie viel doch vermeintlicher Ausschuss über Film zu sagen hat. 

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