
Es ist ein wenig typisch für die Karriere von Lina Wertmüller, dass Sieben Schönheiten / Pasqualino Settebellezze ihr möglicherweise zentrales Werk — sofern man denn ihre so überbordende Filmographie überhaupt so sehr verknappen und auf einen Punkt bringen möchte — in Deutschland erst mit zehnjähriger Verspätung, nämlich 1985 in die Kinos kam. Und das, obwohl es sich um jenen Film handelte, für den sie 1976 für einen Oscar nominiert war — als erste Regisseurin überhaupt, bevor Jane Campion knapp 20 Jahre später für Das Piano die gleiche Ehre zuteilwurde. Übrigens war die Nominierung als beste Regisseurin nicht die einzige, drei weitere waren es — unter anderem als bester fremdsprachiger Film — , doch am Ende ging Sieben Schönheiten ohne einen Academy Award nach Hause. Ein Versäumnis, dass erst — viel zu spät — 2019 endlich nachgeholt wurde, als Lina Wertmüller einen Oscar für ihr Lebenswerk erhielt und im gleichen Jahr auch in Cannes eine Masterclass hielt.
Doch zurück auf Anfang und zu den Wurzeln: Gegen den ausdrücklichen Willen ihres Vaters, eines römischen Rechtsanwaltes, dessen Wurzeln auf ein Schweizer Adelsgeschlecht zurückgehen, studierte die 1928 Geborene an der Academia d’arte dramatica und schloss dort 19511 mit einem Diplom ab. Anschließend gründete sie eine Theatertruppe, schrieb eigene Stücke, ging auf Tournee und schlug sich in den kommenden Jahren als Schauspielerin, Autorin, Bühnenbildnerin und Journalistin durch und schloss sich einer Puppentheatertruppe an.
Dass Lina Wertmüllers Wurzeln beim Theater liegen, das kann man ihren Filme im besten Sinne oftmals ansehen: Es sind vor allem die Einflüsse der Commedia dell’Arte mit ihren wiederkehrenden Typen, ihren Übertreibungen und Hanswurstiaden, ihrer Verankerung im Improvisierten und in der Lebenswirklichkeit ihrer Figuren, die allesamt aus dem einfachen Volk stammen. Ihr Personal besteht überwiegend aus Gaunern und Prostituierten, durchtriebenen, aber entsetzlich dummen Typen, die irgendwelchen Idealen hinterherrennen, an denen sie krachend scheitern und an Frauen, die diesen Typen einfach nur kopfschüttelnd zuschauen, notgedrungen ihren eigenen Weg suchen und dann da sind, wenn die Kerle mal wieder in Schwierigkeiten stecken.
Zum Film kam sie dann durch ihre Freundschaft zu Flora Carabella, der Ehefrau von Marcello Mastroianni, die sie als Regieassistentin an Federico Fellini für dessen Film Otto e Mezzo / Achteinhalb vermittelte. Und dort endlich fand sie ihre Bestimmung, ihr Medium, ihr Ausdrucksmittel, dem sie sich im weiteren Verlauf ihres Lebens mit großer Virtuosität und viel Eigensinn widmen wird.
1963 entsteht dann ihr erster (sieht man einmal von einer Dokumentation über die Dreharbeiten von Otto e mezzo ab) Film I basilisci / Die Basilisken, der vom trostlosen Leben in der Basilicata im armen Süden Italiens erzählt, von der Langeweile, der ewig scheinenden Siesta, den Träumen davon, dieses Nest hinter sich zu lassen und in die Welt hinauszukommen — und vom Scheitern an diesen Träumen. Unverkennbar ist hier der Einfluss des Neorealismo zu sehen, doch zugleich gibt es neben der scheinbaren Nüchternheit auch einen deutlich lakonischen Ton und eine ungewöhnliche Perspektive, denn obwohl es überwiegend Männer sind, von denen der Film handelt, ist die Erzählerstimme, die das erste und das letzte Wort hat, eine weibliche. Und genau diese (weibliche) Perspektive auf eine von Männern geprägte Gesellschaft wird sich fortan wie ein roter Faden durch ihr weiteres Schaffen ziehen.
Nach einigen weiteren Filmen, darunter dem überaus vergnüglichen Episodenfilm Questa volta parliamo di uomini gerät ihre Karriere Ende der 1960er-Jahre ein wenig ins Stocken, um dann ab den frühen 1970ern endgültig an Fahrt aufzunehmen — und all diese Filme sind geprägt durch die Zusammenarbeit mit dem Schauspieler Giancarlo Giannini und häufig auch der Darstellerin Mariangela Melato, in denen Lina Wertmüller so etwas wie ihr Traumpaar findet: 1972 beginnt der Reigen mit Mimì metallurgico, ferito nell’onore / Mimì, in seiner Ehre gekränkt der in Cannes uraufgeführt wird und der vor allem in Italien zu einem großen Erfolg wird, weil er den Zeitgeist auf den Punkt trifft, weil er laut ist und derb, überaus vergnüglich und zutiefst ernüchternd, subversiv und albern. Dann geht es Schlag auf Schlag: 1973 folgt Film d’amore e d’anarchia – Ovvero “Stamattina alle 10 in via dei Fiori nella nota casa di tolleranza… / Liebe und Anarchie, 1974 Hingerissen von einem ungewöhnlichen Schicksal im azurblauen Meer im August / Travolti da un insolito destino nell’azzurro mare d’agosto (später erfuhr der Film ein englisches Remake mit Madonna in der weiblichen Hauptrolle unter dem Titel Swept Away (2002, Regie Guy Ritchie). Im gleichen Jahr erschien dann auch Tutto a posto e niente in ordine / Operation gelungen – Patient tot, bis dann ein Jahr später Pasqualino Settebellezze entstand, der bisherige Höhepunkt ihres Schaffens.
Es sind vor allem diese Filme innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums von kaum fünf Jahren, die Lina Wertmüllers Ruhm und ihre enorme Wichtigkeit innerhalb des italienischen Kinos begründen und festigen, die ihren Stil, ihren sehr unverwechselbaren Tonfall geprägt haben, die sie als Stimme fest im Gedächtnis des italienischen und des Weltkinos verankern. Es folgen 15 weitere Filme mit wechselndem Erfolg, die es teilweise in Deutschland nicht mehr ins Kino geschafft haben und die vor allem in der Spätphase ihrer Karriere ab den 1990ern außerhalb Italiens ein Schattendasein fristen.
Es rächte sich anscheinend ein wenig, was männlichen Regisseuren oftmals nachgesehen wird: Wertmüllers Stil hatte sich so sehr verfestigt, so geformt, dass man einen ihrer Filme auch ohne Ton oder ohne Bild sofort erkennen konnte — allein an der Art und Weise, wie die Schauspieler*innen dort agierten, wie geredet wurde, was gesagt wurde und wie sich die Figuren zueinander und gegenüber der Gesellschaft verhielten. Während man(n) anderen Filmemachern diese hohe Wiedererkennbarkeit als Stärke und „ausgeprägten Stilwillen“ auslegte, sah man bei Wertmüller all diese Merkmale als Manko — welch himmelschreiende Ungerechtigkeit.
Es werden nun mit Gewissheit Retrospektiven folgen, werden die Filme von Lina Wertmüller wieder auf die große Leinwand kommen, werden Neueinordnungen vorgenommen werden, dabei ist doch eh eines klar: Diese kleine, zierliche Frau mit den kurzen, erst blonden, dann weißen Haaren und den auffälligen Brillen war eine der Größten — ob nun mit Oscars oder ohne.
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