Spieltrieb

"Werde, der du bist"

Eine Filmkritik von Björn Schmitt

Schon zu Beginn wissen wir, dass irgendetwas nicht stimmt. Die Welt ist auf den Kopf gestellt - die Kamera schwebt um 180° gedreht über Felder, folgt einem Auto und fängt dabei kühle, entsättigte Bilder der Landschaft ein. Diese kleine inszenatorische Extravaganz trifft in den Kern von Gregor Schnitzlers Spieltrieb: Es geht um die Umwälzung, Verdrehung und Relativierung von Regeln. Doch ebenso wie sich bald die Inversion der Kamera zugunsten unserer gewohnten Sichtweise aufhebt, müssen auch die Protagonisten des Films feststellen, dass die absolute Freiheit von moralischen und staatlichen Normen zwar denkbar, aber nicht auf Dauer möglich ist.
Spieltrieb von Gregor Schnitzler, der auf dem gleichnamigen Roman der deutschen Autorin Juli Zeh basiert, erzählt die Geschichte von Ada und Alev, zwei Jugendliche, die sich an der fiktiven Ernst-Bloch Schule in Bonn kennenlernen. Ada (Michelle Barthel) ist 15 Jahre alt, hat durch ihre Hochbegabung 2 Klassen übersprungen und interessiert sich vor allem für Literatur und Philosophie. Sie ist eine Außenseiterin, verachtet ihre Altersgenossen und fühlt sich diesen geistig überlegen. Doch sie besitzt nicht nur eine geistige und erwachsene Seite, sondern auch eine kindliche, weiche, was in einer bezeichnenden Szene deutlich wird: Entnervt von ihrer Mutter schließt sie sich in ihr Zimmer ein und beginnt naschend – in der einen Hand eine Zigarette, in der andere einen Schokokuss – in einem Buch zu lesen.

Gleich zu Beginn tritt Alev (Jannik Schümann) in ihr Leben – er teilt Adas Leidenschaft für Literatur und Philosophie, ist zudem auch rhetorisch talentiert und vermag es, alle in seinem Umfeld für sich zu gewinnen und zu begeistern. Ada glaubt in ihm einen Seelenverwandten gefunden zu haben. Die Beiden beginnen sich über Nihilismus, moralische Freiheit und den Spieltrieb für den Menschen auszutauschen. Sie kommen zu dem Schluss, dass sie als intellektuell und geistig überlegene Menschen selbst in der Lage seien, Regeln aufzustellen und mit anderen Menschen zu spielen. Bald planen sie aus diesem Grund ein manipulatives Spiel: Ada soll den Sportlehrer Smutek (Maximilian Brückner) verführen, Alev möchte dies filmen und den Lehrer damit erpressen. Smutek soll sich seiner geistigen und moralischen Freiheit bewusst werden und aus seinem beschränkten, verlogenen Leben ausbrechen, so der Plan der beiden Jugendlichen. Doch das Spiel entwickelt ungeahnte Konsequenzen, die Beziehung des Dreiecks verändert sich und Ada muss erkennen, dass sie doch nicht gänzlich gefühllos und über alle Moral erhaben ist, wie anfangs gedacht.

So sehr der Film auf der Handlungsebene eine geradlinige Geschichte erzählt, ergibt sich auf der Ebene der Inszenierung ein ambivalentes, zwiespältiges Bild. Zunächst wirkt Spieltrieb wie eine ästhetisierte, philosophische Parabel, die immer wieder mit Stilisierungen wie Zeitlupenaufnahmen, entsättigten Farben und ungewohnten Perspektiven arbeitet. Der Film thematisiert das Überschreiten von Grenzen und wählt in diesem Zusammenhang auch eine ungewohnt freizügige Darstellung, so zum Beispiel indem er den nackten Körper der Minderjährigen Ada bewusst dem Blick preisgibt und in Szene setzt. Dies stellt zwar ein transgressives Element dar, wird jedoch im Verlauf des Films nicht ausreichend ausgearbeitet und reflektiert, was durchaus problematisch ist: Bedienen die Sexszenen des Films lediglich die Schau- und Sensationslust des Zuschauers oder sollen sie wirklich zu einer Reflexion über die Nivellierung von Normen, auch im Zusammenhang mit dem aufgegriffenen Motiv der Pornographie, führen? Diese Frage bleibt bis zum Ende des Films offen, ist gleichzeitig aber eine der interessantesten, die Spieltrieb aufwirft.

Darüber hinaus möchte der Regisseur Schnitzler aber auch vom Erwachsenwerden der jungen Ada erzählen, was dazu führt, dass der Film aufbricht und phasenweise einem konventionellen Teenager- oder Schuldrama ähnelt. Es wird versucht, die eigentlich starren und artifiziellen Figuren zu psychologisieren, und die vorgeblich gefühllose Ada doch zur Empfindung von Gefühlen zu bringen. Spieltrieb bewegt sich so in zwei verschiedene Richtungen, wovon keiner der beiden Stränge profitiert. Der Spagat zwischen abstrakter, stilisierter Parabel und glaubwürdigen, handlungsreichen Drama gelingt nicht immer, weshalb es dem Film an einigen Stellen an Stringenz und Kohärenz mangelt. Deutlich wird dies vor allem, wenn sich die aus Zehs Roman übernommene literarische bzw. theatralische Sprache mit der Erscheinung der Schauspieler reibt. Die klugen Worte aus den Mündern der Jugendlichen verfehlen ihr Ziel und wirken an einigen Stellen eher ironisch und oberflächlich als geistreich und bedeutungsvoll.

Dennoch ist Gregor Schnitzler ein über weite Strecken unterhaltsamer und spannender Film gelungen. Spieltrieb beleuchtet anschaulich die Ausprägung von Machtverhältnissen, die Frage nach Recht und Gerechtigkeit und auch den Weg des Erwachsenwerdens. Er agiert jedoch an vielen Stellen zu konventionell und verliert durch das Fehlen einer klaren Linie an Frische und Durchschlagskraft. Böse Zungen könnten behaupten, die Entwicklung des Films ähnle der seiner Protagonisten. Das prominent platzierte "Erkenne dich selbst! Werde, der du bist!" - im Sinne der Erkenntnis der eigenen Begrenztheit und der Besinnung auf eine konsequente Marschrichtung - könnte so nicht nur ein Ratschlag für die Figuren, sondern auch für den Film selbst sein.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/spieltrieb