Exit Marrakech (2013)

Die Probleme der Einen, das Elend der Anderen

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Ausgerechnet Afrika, möchte man angesichts von Caroline Links neuem Film denken. Denn diesem Kontinent verdankte sie ihren bislang größten Erfolg, den Gewinn des Academy Awards als bester nicht englisch-sprachiger Film für Nirgendwo in Afrika. Nun ist sie mit ihrem neuen Film genau zehn Jahre später wieder nach Afrika zurückgekehrt, doch es müsste schon ein veritables Wunder geschehen, wenn sie mit ihrem neuen Werk Exit Marrakech abermals in den Genuss von höheren Auszeichnungen und Ehren kommen würde. So sehnsüchtig viele ihrer Fans den neuen Film erwartet haben dürften, so gewaltig war dann die Enttäuschung nach der Premiere beim diesjährigen Filmfest München, das mit Exit Marrakech eröffnete. Zwar fiel der Beifall wohl auch angesichts der Gala freundlich aus, auf den Gängen aber war man sich einig, dass dieser Film wahrlich nicht zu den Meisterstücken der Filmemacherin zählt. Und ja - die Stimmen hatten Recht.

Dabei kann sich die Besetzung durchaus sehen lassen. Neben dem jungen Samuel Schneider als Protagonist sind immerhin Ulrich Tukur, Marie-Lou Sellem, Hafsia Herzi (Haus der Sünde) und die schauspielerische Urgewalt Josef Bierbichler zu sehen – leider aber ist gerade der Auftritt des letztgenannten als jovial grantelnder Schuldirektor viel zu kurz geraten. Eine mindestens ebenso große Rolle spielt in Exit Marrakech natürlich die titelgebende Stadt und Marokko insgesamt, denn das Selbstfindungsdrama schickt seinen jugendlichen Helden natürlich auf Entdeckungsreise, um am Ende etwas über sich selbst und den Wert von (durchaus auch familiären) Bindungen gelernt zu haben. Über Land und Leute aber lernt er herzlich wenig – und das ist gerade angesichts der kontrastreich gestalteten Vater-Sohn-Beziehung schon ein wenig verwunderlich.

Endlich stehen die Ferien vor der Tür, doch Ben (Samuel Schneider) ist wenig entzückt von der Aussicht, diese zusammen mit seinem Vater Heinrich (Ulrich Tukur) in Marokko zu verbringen. Dieser, seit langem schon von Bens Mutter (Marie-Lou Sellem) getrennt und inzwischen wieder verheiratet, inszeniert gerade ein finanziell üppig ausgestattetes Theaterstück und bekommt ansonsten von seiner Umgebung herzlich wenig mit, weil er sich viel lieber am Pool des von der Außenwelt abgeschirmten Luxushotels die Zeit vertreibt. Weil dem Knaben aber sein väterlicher Schuldirektor Dr. Breuer (Josef Bierbichler) den Ratschlag mit auf den Weg in die Ferien gegeben hat, er solle doch was erleben, nimmt dieser den Pädagogen prompt beim Wort. Auch aus Opposition gegen den verhassten Vater, der früher nie für ihn Zeit hatte, erforscht Ben das Nachtleben Marrakeschs und entfleucht mit der Prostituierten Karima (Hafsia Herzi) in die Wüste, bis sich Heinrich voller Sorge auf die Suche nach dem zuckerkranken Jungen macht.

So weit, so gut, könnte man meinen, doch leider folgt die Art und Weise der Inszenierung, der Einbeziehung des Handlungsortes in die Geschichte einer eurozentristischen Aneignungsrhetorik, wie man sie allenfalls noch von TV-Serien à la Das Traumschiff (dort freilich noch dicker aufgetragen) kennt. Denn so wenig sich Heinrich für Marokko interessiert, so wenig tut dies offensichtlich auch die Filmemacherin selbst. Kaum eine der marokkanischen Nebenfiguren ist sehr viel mehr als ein Stichwortgeber, ein dienstbarer Geist, ein Statist für die saturierten familiären Probleme der Familie, die hier vor schöner Kulisse ihre Zwistigkeiten austrägt – und schlimmer noch: Je länger der Film in Marokko verweilt, desto mehr ist der Zuschauer davon überzeugt, dass Exit Marrakech genauso gut in Lappland, Sri Lanka oder sonst einer x-beliebigen Gegend auf der Welt spielen könnte.

Diese Haltung drückt sich nicht nur in Heinrich aus, sondern findet zunehmend auch ihren Niederschlag in Bens Handeln, der doch anfangs als Widerpart zu seinem Vater angelegt war. Als Karima aufgrund seiner Anwesenheit von ihrer Familie verstoßen wird, zeigt der Junge keinen einzigen Moment des Nachdenkens oder der Reue über das, was er da angerichtet hat, sondern beklagt sich später nur ausgiebig bei seinem Vater über die vermeintliche Ungerechtigkeit der daraus resultierenden Trennung. Dass diese Menschen in bitterer Armut und einem strengen Korsett aus restriktiven Moral- und Wertvorstellungen leben und nicht annähernd so frei sind wie er, kommt Ben nicht für eine Sekunde in den Sinn. Und viel schlimmer noch: Es findet sich in dem Film keine Figur, kein Satz, keine Haltung der Regisseurin, die dieser Ignoranz in angemessener Weise entgegentreten würde. Auch Bens Diabetes-Erkrankung, die immer mal wieder für Spannungsmomente sorgen soll, wenn der dünnen Storyline die Luft ausgeht, ist schnell als billiger dramaturgischer Kniff enttarnt, der der wenig konturierten Figur des Protagonisten Verletzlichkeit und dramatische Fallhöhe verleihen will.

Auch die vermeintlichen Konflikte von Vater und Sohn wirken seltsam behauptet und kaum so gravierend, dass das Zerwürfnis jemals schlüssig und nachvollziehbar wird. Logisch, dass das dann auch zur Folge hat, die schlussendliche Auflösung des Streits nebst Familienzusammenführung und Akzeptanz der süßen kleinen Stiefschwester wenig überzeugend geraten zu lassen. Warum sich der Zwist am Ende wie von selbst in Luft auflöst, weiß man auch nach langem Nachdenken nicht mehr und ertappt sich schließlich dabei, dass das womöglich schlicht von geringem Interesse sein könnte.

So bleibt am Ende außer passablen darstellerischen Leistungen und immerhin gelungenen Bildern nicht viel mehr übrig als das dumpfe Gefühl, hinter all den exotischen Kulissen nichts weiter entdeckt zu haben als die pure Oberfläche und eine Geschichte, die sich kein bisschen für ihre Figuren und ihren Handlungsort interessiert. Und mal ehrlich: Warum sollten wir als Zuschauer das dann tun?
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/exit-marrakech-2013