Erbarmen (2013)

Morden im Norden

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

Zwei Dinge scheinen unumstößlich wahr zu sein: 1. Skandinavische Thriller sind spannend erzählt, selbst wenn die Geschichte nichts wirklich Neues zu bieten hat. 2. Die Heimstatt skandinavischer Thriller ist das Fernsehen. Man reagiert einem pawlowschen Reflex gleich, wenn man auf diese Filmgattung stößt und die kleine Mattscheibe erwartet. Im Grunde zeichnet auch Erbarmen nichts aus, um zwangsläufig ins Kino zu führen, aber gut aufgehoben ist die Romanverfilmung dort durchaus.

Carl Mørck wurde im Einsatz angeschossen, einer seiner Kollegen starb, der andere wurde verkrüppelt. Nach drei Monaten ist Mørck wieder im Dienst, allerdings vergräbt man ihn im neugegründeten Dezernat Q, wo er alte Fälle aufarbeiten soll. Eigentlich ein Job, der nur Aktenlesen beinhaltet, doch der Fall der vor fünf Jahren verschwundenen Merete lässt Mørck nicht los. Mit seinem neuen Partner Assad macht er sich daran, das Mysterium ihres Verschwindens – damals wurde es zu einem Selbstmord erklärt – aufzulösen, doch die Spurenlage ist gering und der Widerstand seiner Vorgesetzten hoch…

Manchmal hat man das Gefühl, dass es kaum einen skandinavischen Kriminalroman gibt, der nicht auch zügig eine Verfilmung nach sich zieht. Die Spreu vom Weizen zu trennen, wird da zum echten Kunststück, denn auch im hohen Norden ist nicht alles Gold, was glänzt. Aber: Richtig schlecht ist kaum einer der Filme, in denen Mördern und anderen Übeltätern zu Leibe gerückt wird. Das gilt auch für Erbarmen nach einer Vorlage von Jussi Adler-Olsen. An die hat man sich im Großen und Ganzen auch gehalten. Skriptautor Nikolaj Arcel verfügte längst über entsprechende Erfahrung, adaptierte er doch auch schon Verblendung.

Es ist der routinierten Regie, aber auch dem herausragenden Hauptdarsteller Nikolaj Lie Kaas zu verdanken, dass das Versinken in gängigen Genre-Klischees durchaus ansprechend anzusehen ist. Auch Kaas‘ Figur des innerlich gebrochenen Polizisten ist wenig mehr als ein handelsübliches Klischee, der Blick in sein verwittertes, vom Leben gezeichnetes Gesicht lässt darüber aber gerne hinwegsehen. Sein Mørck ist kein besonders sympathischer Mensch. Jemand, der mit seiner Arbeit verheiratet ist, der nichts anderes hat und – schlimmer noch – auch nichts anderes kann, aber in dieser Profession ziemlich gut ist. Mit anderen Menschen kommt er kaum zurecht, es sind nur wenige, die es schaffen, die Mauer zu überwinden, die er um sich herum aufgebaut hat. Das Zusammenspiel mit anderen, die nicht immer glückliche Dynamik, macht einen Teil des Reizes dieses Films aus. Ein anderer Reiz ist der Humor von Erbarmen, der sich aus den Figuren ergibt und das Geschehen nicht nur auflockert, sondern dem realistischen Ambiente der Geschichte zuträglich ist.

Die Geschichte selbst ist für krimierfahrene Zuschauer nicht besonders spektakulär. Es bedarf keiner großen geistigen Leistung, um vor den Polizisten erahnen zu können, warum Merete verschwunden ist und weshalb das Nachfolgende dann passieren musste. Die betont kühle Umsetzung, der Kontrast nordischer Normalität und unter der Oberfläche brodelnden Wahnsinns wissen den Zuschauer in den Bann zu ziehen. Am Ende wirkt Erbarmen wie der Auftakt einer Reihe – und ist es auch. Die Vorproduktion des zweiten Teils hat bereits begonnen.

(Peter Osteried)
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Auf manche Dinge kann man sich verlassen. Zum Beispiel darauf, dass skandinavische Thriller spannend sind und Spaß machen. Selbst wenn sie einem vielfach bewährten Strickmuster eins zu eins folgen. Aber zugegeben - bei Hitchcock war das auch nicht so wirklich anders und dennoch konnte er von Film zu Film immer wieder überzeugen. Denn das Wichtigste haben Hitchcock und Thriller wie Erbarmen gemein: Sie verlassen sich auf das gemeine, aber immer funktionierende System der Suspension - quasi das Herausschieben des Höhepunkts. Und der Zuschauer liebt es und wartet mit (An-)Spannung auf das Finale. Wird er (oder sie) es schaffen oder nicht, so lautet die stets gleiche Frage, deren Sog man sich aber nicht entziehen kann.

Ein weiteres wichtiges Element ist die Paarung des Detektivs und des psychopathischen Bösewichts. Und auch die ist im Fall von Erbarmen gut gelungen. Polizist Carl Mørck (Nikolaj Lie Kaas) ist einer der besten Ermittler im Morddezernat. Das liegt daran, dass er sich wie ein Pitbullterrier in seine Fälle verbeißt. Freunde hat er keine, seine Exfrau hasst ihn, seine Kollegen ebenfalls. Als dann bei einem Einsatz alles schief geht und zwei aus seinem Team sterben, nutzt das Dezernat die Gunst der Stunde und schiebt ihn in den Keller ab. Dort soll er zusammen mit einem - Gott bewahre - muslimischen Kollegen die "Cold Cases", also die Fälle, die keine Aussicht mehr auf Aufklärung haben, sortieren, lochen und endgültig abschließen. Aber seit wann hält sich Mørck an die Regeln? Vielmehr schnappt er sich einen besonders spannenden Fall und rollt ihn wieder auf: Eine junge und unverschämt gut aussehende Politikerin verschwindet spurlos von einer Fähre, nur ihr geistig behinderter Bruder bleibt zurück. Er war offensichtlich Zeuge dessen, was dort wirklich geschah, kann aber keinerlei zusammenhängende Aussage machen. Selbstmord, so hieß es bald und damit war der Fall abgeschlossen. Aber wieso soll eine Frau, die plant Selbstmord zu begehen, ihren Bruder mitnehmen? Warum überhaupt sollte sie sich töten, stand sie doch kurz vor einem Karrieresprung? Schnell ahnt man, dass an der Sache etwas nicht stimmen kann.

Doch anstatt den Zuschauer ewig rätseln zu lassen, klärt der Film in Zwischenblenden den Fall schon einmal auf. Ein cleverer Trick, denn ab jetzt fiebert man erst so richtig mit. Die dunkle, skandinavische Atmosphäre, der grummelige Cop und der liebevolle - fast väterliche - Assistent bieten den Rahmen, der den Film immer wieder aus seiner Grundmelancholie entreißt und Momente des Lachens einbringt. Und so wird ganz nebenbei auch noch das Einwanderungsproblem und der latente Rassismus Dänemarks mit bearbeitet und zwar so geschickt und subtil, dass man die politische (oder besser moralische) Nachricht erst nach dem Film mitbekommt. Denn bis dahin ist man natürlich vollauf mit dem Fall beschäftigt.

Insgesamt ist Erbarmen zwar nichts, was man nicht schon ein- oder zweimal gesehen hat, dafür macht der Film seinen Job aber so elegant und unterhaltsam, dass man mit ihm einen wunderbaren Filmabend verbringen kann.

(Festivalkritik Locarno 2013 von Beatrice Behn)

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/erbarmen-2013