Die andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht

Im Sog des Fremden

Eine Filmkritik von Sophie Charlotte Rieger

Das Wort Heimat ist eines der abstraktesten, das wir in der deutschen Sprache haben. Auf den ersten Blick wirkt es ganz konkret, aber je länger wir darüber nachsinnen, desto mehr Bedeutungen offenbaren sich und desto dehnbarer scheint es zu sein. Filmemacher Edgar Reitz hat sich der Heimat schon in zahlreichen Filmen, oder besser gesagt Filmreihen angenommen und knüpft nun mit Die andere Heimat an dieses Oeuvre an.
Interessanterweise steht hier gerade die Abwesenheit eines Heimatgefühls im Mittelpunkt, denn den Helden der Geschichte zieht es in die Ferne. Mitte des 19. Jahrhunderts leiden die Bewohner des Hunsrück unter Armut und Hunger. Aber es ist weniger die Flucht vor der Not, die Jakob (Jan Dieter Schneider) antreibt, sondern der Sog des Fremden. Statt seinem Vater in der Schmiede zur Hand zu gehen, steckt er die Nase in ein Buch nach dem anderen, um die Stammessprachen Südamerikas zu erlernen.

Der Rückzug in eine Traumwelt stößt bei Jakobs Familie auf Unverständnis. Schließlich sind die Zeiten hart und nur mit gegenseitiger Unterstützung können alle lebendig durch den Winter kommen. In seiner naiven Abkehr von diesen weltlichen Nöten, die ihm doch niemals zum Verhängnis wird, erinnert Jakob stark an Eichendorffs Taugenichts. Und wie auch jener droht Jakob uns mit seiner Träumerei und dem daraus resultierenden Schmarotzertum zuweilen unsympathisch zu werden. Doch es ist nicht nur Jakobs Unfähigkeit, von der Planung in die Aktion überzugehen, die verhindert, dass seine Träume Realität werden. Auch äußere Umstände wirken sich stets negativ auf den Werdegang des Helden aus. Nach zwei von den knapp vier Stunden Laufzeit erreicht Die andere Heimat einen Punkt, an dem sich die Schlinge der Tragik etwas zu eng um den Helden schließt.

Es ist eine Gratwanderung, auf der sich Edgar Reitz hier befindet. Entsteht die Dramatik aus der Tatenlosigkeit des Helden, verliert der Zuschauer den Kontakt zur Hauptfigur, deren Handlungen er immer schwerer nachvollziehen kann. Sind es aber die äußeren Umstände, die Jakob sein persönliches Glück verwehren, wird Die andere Heimat zum Trauerspiel. Die meiste Zeit über kann Reitz seine Geschichte nicht nur an diesen beiden Abgründen vorbei manövrieren, sondern aus der "Gefahrensituation" auch den Charme seines Konzepts generieren. Jakob ist gerade deshalb eine so interessante Figur, weil wir ihn nicht vollkommen ins Herz schließen, sondern seine Motive immer wieder hinterfragen. Auf diese Weise werden wir seiner auch nach vier Stunden Film noch nicht überdrüssig.

Dennoch scheint zwischen der Inszenierung und dem Inhalt des Films ein Kontrast zu existieren. Während sich Edgar Reitz große Mühe gibt, die Epoche der 1840er Jahre möglichst akkurat zum Leben zu erwecken, ist seine Geschichte ganz offensichtlich ein wohl kalkuliertes Drama. Einerseits scheint es Reitz vor allem um eine historische Momentaufnahme zu gehen, die sich in der detailgetreuen Ausstattung ausdrückt, andererseits strotzt seine Geschichte nur so von konstruierter, manchmal gar vorhersehbarer Tragik. Auch die märchenhafte, oder doch zumindest surreale Komponente des Konzepts unterscheidet Die andere Heimat von einer naturalistischen Darstellung historischer Ereignisse.

Auch optisch zeigt sich dieser Widerspruch. Edgar Reitz arbeitet mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen und viel Tiefenschärfe, die in der Breite des Cinemascope-Formats den Zuschauer zum Schwelgen in den Details der Ausstattung einladen. Insbesondere zu Beginn jedoch erzeugen die schiefen Winkel und die langen, wabernden Kamerafahrten ein Gefühl von Chaos, Enge oder gar Unheimlichkeit, die an das expressionistische Kino der 20er Jahre erinnern. Als märchenhaftes Gegenstück fungieren Farbtupfer, mit denen Edgar Reitz mehrfach einzelne Objekte seiner Geschichte hervorhebt: ein rotglühendes Hufeisen, eine blau blühende Blumenwiese oder ein goldener Taler. Dass diese Elemente plötzlich farbig statt schwarz-weiß aufleuchten, reißt uns aus der realistischen Darstellung der Filmwelt heraus und führt uns die Künstlichkeit des Kinoerlebnisses vor Augen.

Der Versuch, die Menschen des 19. Jahrhunderts in ihrem Umfeld möglichst realitätsnah zu porträtieren, und der wiederholte Verweis auf die eigentliche Künstlichkeit des Films, bilden einen Widerspruch. Doch bei näherer Betrachtung ist es eben diese Reibungsfläche, die Anlass und Raum für unsere eigenen Überlegungen schafft. Da ist so vieles in diesem Film, über das wir uns wundern, das wir weiterdenken wollen.

Die Distanz, die zwischen zwei Dörfern schon so groß ist, dass Verwandte sich über Jahre nicht begegnen, lässt die Reise, die die Auswanderer nach Brasilien zurücklegen, unüberschaubar wirken. Wie ist die Welt doch klein in unserer heutigen Zeit, in der wir spontan ein Flugzeug besteigen können, um auf die andere Seite des Planeten zu gelangen. Wie unvorstellbar ist für uns heute das Wagnis der deutschen Auswanderer Mitte des 19. Jahrhunderts. Wie unvorstellbar ist auch der Mangel an Wissen. Bedienen wir heute in Sekundenschnelle Wikipedia, so können die Bauern in Die andere Heimat meist nicht einmal lesen. Begriffe wie "Tropen" oder "Urwald" sind ihnen fremd oder lösen nur schwammige Assoziationen aus. Wissen als solches hat geringen Wert in einer Zeit, in der die Menschen um jeden Bissen Brot bangen.

Es sind Beobachtungen wie diese, die Die andere Heimat so sehenswert machen. Die großzügige Laufzeit hilft uns, voll und ganz in eine andere Epoche einzutauchen und die detaillierten Bilder, in denen wir so viel entdecken können, verhindern, dass uns die ausgedehnte Erzählung gar zu lang erscheint. Am Ende ist es sogar erstaunlich, wie kurzweilig sich diese kleine Familiengeschichte über Generationenkonflikt, zerstrittene Brüder und eine unglückliche Liebe ausnimmt.

Aber wo ist sie denn nun, diese "andere Heimat"? Meint Heimat den Hunsrück, das ferne Brasilien oder die Familie? Verweist das Wort "anders" im Filmtitel auf die Distanz, die Exotik oder die Entfremdung von Altbekanntem? Mit dem Film Die andere Heimat verhält es vermutlich ähnlich wie mit dem Heimatbegriff selbst: Je genauer wir hinsehen, desto mehr Bedeutungen werden offenbar.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/die-andere-heimat-chronik-einer-sehnsucht