My Stuff (2013)

Weg mit dem Ballast des Lebens

Eine Filmkritik von Jörg Gottschling

So völlig ohne irgend etwas leben? In unserer heutigen Konsumgesellschaft ist das eigentlich kaum mehr vorstellbar, oder? Unmerklich und über Jahre hinweg quillt irgendwann jede Wohnung vor lauter Krempel, Zeug und Firlefanz über. Und legt man sich eine größere Wohnung zu, so ist auch diese bald übersät vom Sammelsurium des Lebens.

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Ohne Frage ist das ein bekanntes First-World-Problem und dennoch eines, das man nicht allzu leichtfertig als vernachlässigbar abtun sollte. Denn wer einmal eine Sammlung angelegt hat, wird diese eben so schnell nicht mehr los. Und sich davon trennen, kommt selten in Frage – immerhin hat das alles ja etwas gekostet oder ist mit unschätzbaren Erinnerungen verbunden.

Petri ist 26, ein Single und experimentierfreudig. Menschen wie ihn gibt es viele, doch was macht ihn wirklich glücklich und was braucht er zwingend zum Leben? Diese Fragen beschäftigen ihn schon seit geraumer Zeit. Bereits vor drei Jahren, als seine Freundin ihn verließ, war ihm klar: Er hat einfach zu viel Zeug. Aber bisher konnte er sich davon nicht trennen. Zu groß war sein Schmerz und zu sehr gaben ihm diese Dinge einen Halt in der schweren Zeit. Doch nun stellt er fest: Seine Sachen definieren ihn, engen ihn ein und verlangen viel mehr, als sie ihm einst gaben. Deswegen wagt er den Schritt, zu dem so viele Menschen nicht in der Lage sind, und befreit sich von seinem Ballast des Lebens.

Zu diesem Zweck startet Petri ein Experiment: Alle seine Sachen aus seiner Wohnung lagert er für ein Jahr ein. Jeden Tag darf er sich genau ein Teil aus dem Lager nehmen. Mit anderen Worten: Es sind genau 365 Dinge erlaubt. Und er darf sich nichts Neues kaufen (Nahrung und Körperpflegeprodukte sind davon ausgenommen).

Sorgfältig hat er sein Leben in Kisten verpackt. Nun sitzt er völlig nackt in seiner leeren, kalten Wohnung und überlegt sich: Was ist das erste, das ein völlig Nackter mitnimmt? Eine Unterhose? Zu wenig? Eine Decke? Zu unpraktisch für unterwegs. Einen Mantel! Klar, denn der hält warm und man kann ihn auf dem kalten Boden der Wohnung als Decke für die Nacht benutzen.

Selbst die Frage nach den richtigen T-Shirt oder Hemd wird in My Stuff zu einer bedeutungsschwangeren Entscheidungen für die nächsten Tage. Jeder neue Gegenstand ist eine wertvolle Bereicherung, wenngleich er noch so banal erscheint: Eine Matratze auf dem Boden ist ein am siebten Tag ein liebgewordenes Kuschelobjekt für die kalten Nächte in einer winterlichen Stadt. Die Zeitung hingegen erlebt in Petris Leben eine Renaissance und wird als neues altes Entertaiment-Medium zum idealen Zeitvertreib in einer ansonsten leeren Wohnung.

Doch schon am 10. Tag, als Petri wieder komplett angezogen ist, steht er vor dem Problem, dass er sich nicht entscheiden kann – und so nimmt er nach Stunden des Überlegens gar nichts mit. Erst nach Tagen und mit einem konkreten Plan kehrt er zurück und nimmt sich gleich 10 Sachen auf einmal. Diese Vorgehensweise wird bald schon zur Routine, denn er stellt überraschend schnell fest, dass er gar nicht zwingend jeden Tag einen neuen Gegenstand braucht. So steigt er von da an immer wieder in die Tiefen seines Lagers hinab und macht sich eine Liste von Dingen die vielleicht bald wichtig wären und verteilt Punkte.

Während sein neues Leben mit nur wenigen Dingen langsam eine Struktur bekommt, stellt sich das Einhalten des Kontaktes mit seinen Freunden als umso komplizierter heraus. Einige zeigen kein Verständnis für sein Experiment, andere wiederum wissen nicht, wie sie ihn erreichen sollen. Hier zeigt sich die Krux in einer auf ständige Erreichbarkeit aufgebauten Welt. Denn ohne Telefon und Internet bleibt Petri nicht auf dem Laufenden und kann auch in seinem Job nur schwer kommunizieren oder seiner Arbeit als Regisseur nachgehen. Erst nachdem er den Laptop wieder zu sich geholt hat und das Internet von seinen Nachbarn nutzt, verbessert sich sein Kontakt zu seinen Freunden wieder. Diese Wahl äußert sich in Petris Experiement wie eine erzwungene und notwendige Aufgabe und ein Zugeständnis an eine Gesellschaft, die für sein Experiment nicht mehr bereit geschweige denn geeignet ist.

Petris Familie hält in dem gesamten Jahr fest zu ihm und unterstützt ihn, so gut es geht: Vor allem seine Großmutter ist ihm ein fester Anker und wertvoller Ratgeber bei seinem Experiment. Schon vorab sucht er ihren Rat und spricht mit ihr über seinen Wunsch, frei vom Ballast seiner Sachen zu sein. Eine Haltung, die die alte Dame nur allzu gut versteht, denn ihrer Meinung nach sind materielle Dinge sowieso nicht die bestimmenden Faktoren eines gelungenen Lebens. Das Gespräch erweist sich als entscheidender Faktor für den Start des Experiments.

Nach 153 Tagen seines Experiments reist Petri in seine Heimatstadt zurück, um Abstand zu bekommen. Angekommen bei Onkel und Tante stellt ihn sein kleiner Cousin eine gute Frage: Was hat er im letzten halben Jahr am meisten vermisst? Es ist nicht die Sonnenbrille oder seine Schallplattensammlung, ja nicht mal den Fernseher hat er vermisst. Vielmehr vermisst er die Nähe zu einem anderen Menschen. Er wünscht sich eine Frau an seiner Seite – und tatsächlich lernt er bald jemanden kennen. Mit ihr hat er alles, was er braucht und sein Lager scheint vergessen.

Im Laufe des Jahres besucht er seine Großmutter immer wieder und erzählt ihr von seinen Fort- und Rückschritten. Dann muss sie operiert werden und landet gegen Ende des Jahres sogar in einem Heim. Auch in ihrer Wohnung stapelt sich einiges, das nun aussortiert werden muss. Doch die Brüder können sich von nichts trennen, denn all die Dinge erinnern sie an ihre Großmutter. Petri steht vor einer paradoxen Situation: Von seinen eigenen Dingen konnte er sich schnell trennen, doch wenn es um die Sachen seiner Großmutter geht, darf nichts verloren gehen.

Aus einem Leben im Überfluss wird ein konsumbewusstes Leben in einer konsumdominierten Welt, das jeden Tag auf dem Prüfstand steht. Zeitgeistiger und zugleich mutiger könnte dieses Leben voller konsequent durchgesetzter Entscheidungen, das in My Stuff gezeigt wird, nicht aussehen. My Stuff ist jedoch nicht nur ein Experiment über den Sinn und Unsinn von Konsumgütern, sondern es ist vor allem die Geschichte von einem jungen Mann, an dessen Leben der Zuschauer für ein Jahr teilhaben darf. Keiner Chronologie der Ereignisse folgend, springt der Film zwischen Vorbereitung und Durchführung des Experiments hin und her.

Das Ergebnis von Petris ungewöhnlichem Experiment: Etwa 100 Dinge braucht er zum Leben, weitere 100 sind Luxus und Komfort. Der ganze Rest jedoch ist nur purer Ballast. Damit hatte seine Großmutter recht behalten. Denn das Leben ist nicht auf Dingen aufgebaut. Am Ende ist Petris Lager immer noch voll, doch sein Leben erscheint nun deutlich leichter.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/my-stuff-2013