Meeres Stille

Wenn Wunden nicht verheilen

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

"Hier ist niemand außer uns!", versichert der Familienvater Johannes Sander (Christoph Grunert) seiner Ehefrau Helen (Charlotte Munck) und seiner Teenager-Tochter Frances (Nadja Bobyleva). Tatsächlich wirkt das abgeschiedene Domizil in Meeresnähe, in dem die drei Urlaub machen, vollkommen verlassen; und es mutet auch nicht wie ein klassisches Haunted House an, das von Geistern bewohnt wird. Dennoch ist Johannes im Unrecht: Neben einem jungen Mann (Christoph Gawenda), der die Sanders mit traurigen Augen beobachtet, ist hier noch etwas. Es sind die Schatten der Vergangenheit. "Nichts verschwindet so ganz", sagt der fremde Beobachter an späterer Stelle zu Helen und setzt einen Erinnerungsprozess in Gang, der die Protagonistin beinahe um den Verstand zu bringen droht.
Meeres Stille ist Juliane Fezers Regie-, Drehbuch- und Produktionsdebüt. Es basiert auf Motiven des gleichnamigen Romans von Stefan Beuse. Ein Teil des Reizes dieses Films liegt in dessen verschachtelter Erzählweise: Die Geschichte der dreiköpfigen Familie wird mit Passagen verwoben, die einen kleinen Jungen zeigen, der um seine verstorbene Mutter trauert und zugleich mit der Trauer seines Vaters (Alexander Beyer) konfrontiert wird. Erst im letzten Drittel entbergen sich die Zusammenhänge zwischen diesen beiden Strängen.

Doch Fezers Werk gehört erfreulicherweise nicht zu jenen Filmen, die einzig und allein auf einen möglichst spektakulären Final Twist ausgerichtet sind und sonst nichts Interessantes zu bieten haben. Der Weg zur Lösung des Rätsels ist filmsprachlich ausgefeilt; durch die Kameraarbeit und die Montage sowie durch Geräusche und Musik werden fließende Übergänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart geschaffen. Manchmal werden indes auch denkbar einfache, überraschend effektive Darstellungsmöglichkeiten für innere Zustände gefunden – etwa wenn eine Figur in dreifacher "Ausführung" (verkörpert von drei Schauspielern in unterschiedlichen Altersphasen) im Bild ist, um das jahrelange Andauern ihrer seelischen Belastung visuell zu vermitteln. In einer Gesprächsszene zwischen Frances und dem mysteriösen jungen Mann ist wiederum der aufgewirbelte Staub, den die Kamera in sehr gelungenen Einstellungen einfängt, mindestens so vielsagend wie der Dialog zwischen den beiden Figuren.

Die Dialoge sowie die per Schreibmaschine zu Papier gebrachten Äußerungen der literarisch tätigen Tochter weisen zuweilen Schwächen auf, wenn sie ins allzu Prätentiöse abdriften. Überwiegend kann dies jedoch durch das Schauspiel-Ensemble aufgefangen werden – insbesondere die Dänin Charlotte Munck (bekannt als Hauptdarstellerin der Krimiserie Anna Pihl – Auf Streife in Kopenhagen) liefert in ihrer ersten deutschsprachigen Produktion eine starke Performance als Frau, die von verdrängtem Schmerz überwältigt wird. So kann Meeres Stille alles in allem als gut interpretiertes und mit Bedacht umgesetztes Psychodrama überzeugen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/meeres-stille