One Zero One - Die Geschichte von Cybersissy & BayBjane

Die Fülle des ungenutzten Raums

Eine Filmkritik von Ines Meier

"Ich wollte früher Diplomat werden, ich wollte mit einer Null auf dem Auto rumfahren oder rumgefahren werden", erzählt der Deutsch-Marokkaner Mourad im Kinodebüt One Zero One des Dokumentarfilmregisseurs Tim Lienhard. Bevor Mourad je in Verlegenheit kommt, diesen Berufswunsch in die Tat umzusetzen, trifft er auf den fünfzehn Jahre älteren niederländischen Allroundkünstler Antoine, der aus ihm kurzerhand eine Drag-Queen kreiert. Beide Männer sind schwul und entsprechen auch sonst nicht den sogenannten gesellschaftlichen Normen – Mourad ist kleinwüchsig und mehrfach behindert, Antoine im körperlichen Vergleich ein Hüne, der allerdings mit einer Psychose kämpft.
In den Clubs der Republik hingegen verwandeln sie sich in schillernde Drag-Queens und erstreiten sich als Cybersissy & BayBjane die Fülle dessen, was Antoine als ungenutzten Raum für die Einzigartigkeit jedes Einzelnen beschreibt. Die glamouröse Haute Couture für ihre Auftritte näht Antoine selbst, begleitet von muskelbepackten Tänzern und treibenden Beats entwerfen sie surreale, exzentrische und vor Witz sprühende Performances. Er habe mit Cybersissy angefangen, weil er es irgendwann satt hatte, dass zu seinen Vernissagen immer nur dieselben fünfundzwanzig Freunde kamen, erzählt Antoine. Den Leuten die Kunst stattdessen in einer Show vor die Füße zu werfen, sei publikumswirksamer. Für Mourad wiederum scheint BayBjane eine konsequente Rückaneignung seiner Alltagserfahrungen – er ist daran gewöhnt, angestarrt zu werden, weil er klein ist, humpelt und ihm ein Auge fehlt, steht also gewissermaßen sowieso permanent auf einer Bühne.

Für One Zero One, dieses bezaubernde dokumentarische Portrait zweier außergewöhnlicher Menschen und ihrer Freundschaft, das souverän die Klischee- und Voyeurismus-Fettnäpfe links liegen lässt, verknüpft Tim Lienhard Aufnahmen der Auftritte von Cybersissy und BayBjane mit Interviews und alten Familienfotos. Im harten und überaus bereichernden Kontrast zu diesen klassischen Strategien des Dokumentarfilms stehen tableauartige und hyperartifizielle Sequenzen, die lustvoll mit Effekten von Splitscreen bis Solarisation spielen und wie erotische Wachträume durch den Film lichtern. In diesen operettenhaften, mal mit der Musik von Mahler und Brahms, mal mit Technosound unterlegten Episoden tauchen Cybersissy und BayBjane mit bodenlangen weißen Kleidern und opulenten Gebilden auf dem Kopf in alten Gemäuern auf, geben beritten in einem Park die queere Version von Don Quichote und Sancho Panza oder flirten vor einem Gartenhaus mit athletischen Jünglingen.

Neben ihrer Leidenschaft für Drag verbindet diese Freunde eine tiefe, familiäre Liebe, vorbehaltloses Vertrauen und vor allem die Erfahrung ihrer "Andersartigkeit" inklusive der furiosen Emanzipation von diesem Label. Er habe immer gemacht, worauf er Bock hatte und erst an seiner Umwelt gemerkt, dass das als merkwürdig empfunden wurde, erzählt Antoine. Seine gläubige Mutter, die ebenfalls an einer Psychose litt und sich schließlich das Leben nahm, versuchte Antoines Homosexualität mit den Zeugen Jehovas beizukommen. Er habe lange gebraucht, um das, was ihm da eingefüllt wurde, zu "deprogrammieren", sagt Antoine. Mourad hingegen erzählt, er sei immer so akzeptiert worden, wie er war. "Ich bin kleiner, mir fehlt das eine oder andere, aber ich bin nicht anders, ich sehe nur anders aus", erklärt er selbstbewusst.

Seinen Körper versteht Mourad als Kunstwerk und als Antoine aufgrund seiner Psychose in eine Klinik muss, geht er erfolgreich seinen eigenen Weg, der ihn nach Ibiza führt und in eine Varieté-Kollaboration mit dem Choreografen und Tänzer David Pereira. Nein, da sei kein Neid aufgekommen, kommentiert Antoine, der auch beschreibt, wie während seines Klinikaufenthalts immer wieder ein Symbol in ihm hochstieg – das titelgebende 101, als Code eine Essenz des Digitalen, aber auch inflationär verwendetes Emoticon für "laughing out loud", ein von zwei Beinen flankiertes Loch oder ein Teller mit Besteck. Lienhard gelingt es, all diese großen und kleinen narrativen Versatzstücke assoziativ zu einem vielschichtigen, quietschbunten Reigen zu fügen, der mit seinen Protagonisten und über sie hinaus von Mut, Kreativität, Freundschaft und der gehörigen Portion Chuzpe erzählt, die es braucht, um die gesellschaftlichen Konventionen zum Tanzen zu bringen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/one-zero-one-die-geschichte-von-cybersissy-baybjane