Am Anfang

Was passiert, bevor das Leben eintritt

Eine Filmkritik von Alina Impe

Am Anfang ist es nur ein kleiner dunkler Fleck auf einem Monitor. Ein diffuser Haufen Zellen, geheimnisvoll und fragil, der für den Beginn von etwas Großem steht. Bald darauf wird eine schemenhafte Silhouette sichtbar, Gliedmaßen bilden sich und ein kleines Herz nimmt seinen Takt auf. Neun Monate später ist da ein neues Leben, ein Individuum, das einen eigenen Namen hat und fortan eigenständig atmen und wachsen wird. Und das hoffentlich gesund ist.
Die Fortschritte der modernen Medizin ermöglichen werdenden Eltern inzwischen, jede noch so kleine bedenkliche Abweichung während der Schwangerschaft frühzeitig zu entdecken. Pränatale Feindiagnostik nennen sich jene Untersuchungen, bei denen vor allem Herz und Gehirn hinsichtlich möglicher Auffälligkeiten und Risiken regelmäßig überprüft werden. Ein guter Befund löst Dankbarkeit und Erleichterung aus. Ein schlechter Befund führt unter Umständen dazu, dass die Schwangerschaft vorzeitig abgebrochen wird.

Den unbeantwortbaren Fragen nach dem Eintreten und Verschwinden aus der Welt war Josephine Links schon in ihrem Kurzdokumentarfilm Wir sterben nachgegangen, in dem sie ihre eigene Großmutter während der letzten Wochen vor deren Tod begleitet hatte. Ihr HFF-Abschlussfilm Am Anfang kehrt nun die Perspektive um und setzt dort ein, wo die Uhr gerade erst zu ticken beginnt, wo alles zurück auf Anfang gesetzt wird und wo der Gedanke an den Tod noch ein ganzes Menschenleben entfernt scheint. Josephine Links hat über mehrere Monate verschiedene werdende Mütter begleitet. Für die eine ist es das erste Kind, für die andere das erste nach einem komplikationsbedingten Schwangerschaftsabbruch. Eine dritte Mutter hat sich trotz aller Risiken für ihr behindertes Kind entschieden. Sie alle haben unterschiedliche Auffassungen zum Thema Feindiagnostik. Warum sich vorab mit besorgniserregenden Diagnosen quälen, die sich meist als harmlos herausstellen und auf die man ohnehin keinen Einfluss hat?

"Weil man die Wahl hat, wenn feststeht, dass das Kind nicht gesund zur Welt kommen wird". Eine Wahl zwischen Leben und Tod, die aber niemand treffen möchte. Kein behandelnder Arzt kann den werdenden Eltern diese Entscheidung abnehmen. Eine ethische Leitlinie gibt es nicht. Wer sich trotz vorab diagnostizierter Fehlbildungen für die Geburt seines behinderten Kindes entscheidet, weiß um die große Verantwortung, die es vermutlich ein Leben lang zu tragen gilt. Wer sich dagegen entscheidet, wird fortan von traumatischen Schuld- und Verlustgefühlen begleitet. Fällt die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch, wird das Baby noch im Mutterleib per Injektion getötet. Zwei Tage vergehen, bis die künstliche Geburt eingeleitet wird. Zwei Tage, in denen sich nichts mehr regt und alle Hoffnungen und Wünsche fühlbar erstarrt sind.

Die kleine Matilda lebt, obwohl bereits vor ihrer Geburt das Down-Syndrom bei ihr festgestellt wurde. Matilda ist geistig behindert. Ihre Eltern sind trotzdem glücklich, auch wenn sie noch nicht wissen, wie die Krankheit sich bei ihr im Erwachsenenalter entwickeln wird. Von der kleinen Hanoi existieren hingegen nur Ultraschallbilder, eine kleine Decke, die nie fertig gestrickt wurde und ein einziges Foto, auf dem sie aussieht, als würde sie schlafen. Hanoi hatte große Wassereinlagerungen im Gehirn. Ihre Mutter hat sie tot auf die Welt gebracht. Eine "stille Geburt". Das Leben von Hanoi passt jetzt in eine kleine Kiste. Keine ersten Schritte, keine ersten Worte. Kein Anfang von etwas Großem. Nur die Erinnerung bleibt.

Ein Kind zu bekommen, ist eine der fundamentalsten Erfahrungen des Lebens. Behutsam, respektvoll und dennoch zum Greifen nah visualisiert Josephine Links die prägenden Monate, in denen neben der Vorfreude auch die Besorgnis ein ebenso stetig wachsender Begleiter ist. Auf die Frage nach dem Wert des menschlichen Lebens hat sie auch keine Antwort. Aber sie zeigt, was das Leben lebenswert macht: Schemenhafte Formen auf einem Monitor. Ein Paar, das sich bei den Händen hält. Und das Lächeln einer werdenden Mutter, die gerade erfahren hat, dass "alles in Ordnung" ist.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/am-anfang