Die Wirklichkeit kommt

Überwachung als Wunsch und Wahn

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

"Inzwischen sind unsere normalen Wahnvorstellungen dabei, von der Wirklichkeit überholt zu werden", heißt es im Off-Kommentar dieses provokant zuspitzenden Dokumentarfilms. Denn wovon Paranoiker schon immer träumten, ist heute entweder möglich oder in greifbare Nähe gerückt: Nicht nur mit dem Handy, sondern auch mit Sendern in der Kleidung lassen sich Menschen orten, und das Lesen von Gedanken und die Stimulation des Gehirns sind erklärte Ziele der Neurowissenschaft. Der langjährige freie Kameramann und Filmemacher Niels Bolbrinker dröselt seine kritische Betrachtung des modernen Überwachungswahns mit Hilfe einer gewagten, aber interessanten Verknüpfung auf, wenn er so genannte "Mind Control Victims" und "Wavies", die sich von Funkstrahlen attackiert fühlen, befragt. Weil sie die Möglichkeiten der Technik besonders empfindlich registrieren, könnten ihre Vorstellungen in gewisser Weise auch als Visionen einer baldigen gesellschaftlichen Realität aufgefasst werden.
Ausgangspunkt war für Bolbrinker die Erinnerung an den sogenannten "Sendermann", der in Westberlin zurzeit des Vietnamkriegs mit Megafon und Plakaten durch die Straßen zog. Noch heute warnen seine von Efeu überdeckten Parolen an Mauern und Wänden vor westlichen Geheimdiensten, die mit ihren Geräten die Köpfe ahnungsloser Bürger ausforschen. Nach den Enthüllungen von Edward Snowden über die Spähattacken des amerikanischen Spionagedienstes NSA kam es dem Filmemacher vor, als habe der "Sendermann" eine Art Vorahnung in Bezug auf die heutige Gegenwart gehabt. Auf der Gestaltungsebene liefern die Opfer obskurer Angriffe auf den Geist dem Film mit seinem abstrakten, komplexen Sachthema den nötigen Human Touch. Im Kontrast dazu sieht sich der Filmemacher in deutschen Forschungsinstituten um, wo zum Beispiel eine biometrische Erkennungstechnik entwickelt wird: Es soll möglich werden, auf eventuelle böse Absichten von Passanten aufgrund der Art, wie sie sich bewegen, zu schließen. Und er besucht in Kanada eine Sicherheitsmesse, auf der unter anderem ferngesteuerte, fahrbare Spähkameras vorgestellt werden. Seine Interviewpartner, darunter ein Philosoph und die Sprecherin des Chaos Computer Clubs, bestätigen, dass die Technik dem menschlichen Körper immer näher rückt und vor seinen Grenzen nicht Halt machen wird.

Auch unter einem anderen Aspekt betrachtet wirkt der Ansatz dieses Dokumentarfilms interessant: Wie schon der "Sendermann" kommen die meisten der im Film vorgestellten "Mind Control Victims" aus einem Milieu mit tatsächlicher massiver Ausspähung. In Berlin steht auf dem Teufelsberg immer noch die Ruine eines NSA-Horchpostens aus dem Kalten Krieg. Und auffällig viele der Menschen, die ihre Körper, Wohnungen und Gärten mit Detektoren und Strahlenmessgeräten abtasten, stammen aus dem ehemaligen Ostblock. Der Anfang ihres individuellen Leidens lag also in einer Umgebung, in der Übergriffe auf die Privatsphäre und die individuelle Freiheit stattfanden. Allerdings liegen die Ursachen für ihre aus dem Ruder geratenen Ängste im seelischen Bereich. Der Film verschweigt diese individuelle Not keineswegs, sondern lässt sie in den Gesprächen mit den Betroffenen immer wieder durchscheinen. Damit aber erschöpft sich die Ebene des Vergleichbaren, auf die sich der ganze Film stützt. Dennoch erscheint die Verbindung zwischen dem Wunsch des modernen Menschen, seinen Nächsten zu durchschauen, und der Angst, selbst ausgespäht und manipuliert zu werden, diskussionswürdig.

Visuell ist der Dokumentarfilm wenig aufregend gestaltet. Es gibt viele eher belanglose Aufnahmen, etwa von Siedlungen aus der Vogelperspektive, ein paar Computergrafiken, Talking Heads. Und gerade im Kontext des Thema verdeckter Aktionen irritiert es besonders, dass die weibliche Stimme, die den Kommentartext spricht, auf eine falsche Fährte führt: Sie erzählt zwar in der Ich-Form, aber es handelt sich um die Worte des Filmemachers. Trotz seines provokant-ketzerischen Ansatzes ist der Ton des Films auch keineswegs humorvoll. Es bleibt dem Zuschauer überlassen, das Gesehene und vor allem das Gehörte emotional zu sortieren.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/die-wirklichkeit-kommt