Mr. Turner

Ein grunzendes Genie

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Lang lang ist's her, seit Mike Leigh seinen letzten Historienfilm gedreht hat. Um genau zu sein 15 Jahre. Damals, im Jahre 1999, portraitierte er in Topsy-Turvy das Operetten-Duo Gilbert und Sullivan, das Ende des 19. Jahrhunderts äußerst erfolgreich war. In Mr. Turner widmet sich Leigh abermals einer großen Künstlerpersönlichkeit, dem Schöpfer weltberühmter Landschaftsbilder und Seestücke und dem wohl wichtigsten Vertreter der englischen Romantik Joseph Mallord William Turner, besser bekannt als JMW Turner.
Dieser Turner, den Timothy Spall als Grantler und Brummbär vor dem Herrn verkörpert, ist ein Antiheld von nahezu Dickens'schem Format: nicht wirklich ein Sympathieträger, ein barscher, unbeherrschter, egozentrischer, ungehobelter Klotz, ein oftmals grunzender und verschrobener Mann von wenig anziehendem Wesen und Aussehen, der vor aller Augen auf die Leinwand spuckt, ein Berserker der Kunst, der es sich dank seines Erfolgs und wachsenden Wohlstands leisten kann, ein unabhängiges Leben ohne Rücksichten auf seine Frau und die Kinder zu führen, die er mit einer Mischung aus Distanz und Abscheu behandelt. Immerhin ist dieser Mann kein Opportunist, denn gegenüber Berufskollegen und der betuchten Käuferschaft verhält er sich mindestens genauso rüde. Einzig seinem Vater gegenüber (Paul Jesson), der die Karriere des Sohnes voller Stolz unterstützt, verhält er sich anders, ihm ist er sichtlich zugewandt. Als dieser stirbt, findet Turner Trost bei der 25 Jahre jüngeren Sophie Booth (Marion Bailey), einer einfachen Frau und zweifachen Witwe, deren Gästehaus in Margate in der Grafschaft Kent ihm immer mehr zur Zuflucht wird. Schließlich werden die beiden ein Paar. Sophies stille Zuneigung lässt Turner zwar nicht unbedingt umgänglicher, aber immerhin kreativer werden - so entstehen einige seiner wichtigsten Werke in jenen letzten Lebensjahren, die 1851 mit seinem Tod enden.

Man braucht ein wenig, bis man sich an die Sprache des 19. Jahrhunderts gewöhnt hat, die Mike Leigh verwendet - ein Umstand, der insbesondere dadurch verstärkt wird, dass Timothy Spall seinen Turner als nuschelnden, einsilbigen und wortkargen Mann anlegt, der zumeist am Rande der Kommunikations- und Menschenfeindlichkeit (oder jenseits davon) agiert. Wenn man sich aber einlässt auf diesen Rhythmus, auf die Eigenheiten der Sprache und des Charakterschädels, der die Worte oftmals voller Bitterkeit und Hohn geradezu auszuspucken scheint, eröffnet sich einem ein Blick in ein Leben und eine Epoche, in der man sich allen Widrigkeiten zum Trotz mehr und mehr zuhause fühlt.

Es wäre äußert verführerisch gewesen, die Landschaften Turners in die entsprechenden Bilder zu tauchen, die die Lichtstimmungen und Atmosphären des Malers nachahmen. Und tatsächlich - wie könnte es auch anders sein - gibt es solche "malerischen" Momente auch in diesem Film. Mike Leigh und sein kongenialer Kameramann Dick Pope aber begnügen sich nicht mit purem Kunsthandwerk und dem Rückzug auf die bildnerisch fragwürdige Kraft reiner Kopisten: Immer werden Tableaus durch Zurückzoomen und Schwenks als Illusionen demaskiert, denen sie die raue Wirklichkeit als Kontrast entgegenstellen. Auf diese Weise gelingt es ihnen, weit über ein übliches Biopic hinauszugehen und neben dem ebenso erhellenden wie streckenweise dank kraftvoller Dialoge auch vergnüglichen Einblick in das Leben eines großen Künstlers die Perspektive zu erweitern und Mr. Turner zu einer Gesamtschau einer Epoche werden zu lassen, der JMW Turner ohne jeden Zweifel einen eindrucksvollen Stempel aufgedrückt hat. Man ist geneigt zu sagen, dass Mike Leigh es dem von ihm Porträtierten auf seine Weise gleichtut. Und wenn sich zwei Meister ihres Faches auf diese Weise vereinigen, dann ist das einer jener Glücksfälle und -momente im Kino, über die man sich einfach nur freuen kann.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/mr-turner