Der Junge und die Welt (2013)

Ein einzigartiges Weltenkaleidoskop

Eine Filmkritik von Rochus Wolff

Eine Figur wie hingehaucht. Ein kleines Kind, offenbar, mit wenigen Bleistiftstrichen skizziert, ein paar Umrisse, Strichgliedmaße, ein runder Kopf und darin Augen, schmal, aber groß und selbst in dieser Abstraktion noch neugierig in die Welt blickend.

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Es ist ein großes Abenteuer, auf das der Brasilianer Alê Abreu seine Zuschauer mit Der Junge und die Welt schickt, ein einzigartiges Erlebnis. Sein Animationsfilm wagt etwas, das seit Stummfilmzeiten kaum noch jemand auf Spielfilmlänge gewagt hat: Eine Geschichte ganz ohne Dialoge zu erzählen, nur durch die Kraft der Bilder, die Magie der Farben und durch seine Musik von Ruben Feffer und Gustavo Kurlat. O menino e o mundo, so der Originaltitel, ist ein Solitär im Kino der Gegenwart, vor allem aber ein ästhetisches wie technisches Meisterwerk der überbordenden Zurückhaltung, das mit kleinen Mitteln eine große, atemberaubende Fülle schafft.

Die Handlung im klassischen Sinne ist bei diesem Film eher Beiwerk: Ein kleiner Junge lebt mit seinen Eltern auf dem Land – wohl in Brasilien, jedenfalls in Südamerika – ein sorgenfreies Leben. Dann bricht sein Vater auf in die große Stadt, und das Kind macht sich auf den Weg, um ihn zurückzuholen. So lernen wir mit ihm die moderne Welt durch die Augen eines Kindes kennen – bevölkert von seltsamen tierartigen Maschinen, gleichförmigen Menschen und beglückenden Erlebnissen.

Es beginnt mit Spiralen und Mustern, die der Junge mit fast schon mikroskopischem Blick in einem Stein, in der Natur sieht; die Vielfalt und die Symmetrien, die ihm dabei auffallen, tauchen zwischendurch auch in der großen Stadt immer wieder auf. (Nicht zufällig ist das Kaleidoskop ein wiederkehrendes Motiv.) Je weiter und komplexer seine Welt wird, umso vielfältiger werden auch die Animationstechniken, die Abreu einsetzt. Sind es am Anfang noch einfache Zeichnungen, die an Bleistifte und Pinselstriche erinnern, scheinen die Tiermaschinen später klassischen Technikzeichnungen entsprungen zu sein, die große Stadt schließlich ist überbordende Collage aus Zeitungsfetzen, Bildern und Farbe.

Da stellt der Film auch einen direkten Bezug zur Collagenkunst der klassischen Moderne her, auch wenn seine Farbenwelt und Musik tief aus der Kultur Brasiliens schöpft. Keine der ästhetischen Entscheidungen des Films ist zufällig, der Stil dient immer und konsequent dazu, um die Perspektive des Jungen zu stützen und seine Geschichte zu erzählen: je voller die Welt, desto bunter, kontrastreicher, bewegter sind Bilder wie Töne – und doch bleibt Der Junge und die Welt natürlich immer auf Höhe des Kindes, das ganze Teile seiner Wahrnehmung auch ab und an ausblendet.

Diese konsequente Perspektive erlaubt es auch, den Film gleichermaßen als Kinderfilm und als Kunstwerk für Erwachsene zu sehen – das Filmfest München zeigt ihn daher auch in der Kinderfilm-Sektion, wo er ein wenig versteckt wirkt – aber zugleich ist Der Junge und die Welt aber wohl auch am wirksamsten als Abenteuerfilm für Kinder, der die Fülle der Welt ausbreitet, in all ihrer Schönheit, aber auch mit Umweltzerstörung und Militarismus. In manchen Momenten erinnert der Film dann an Curt Lindas klassische Verfilmung von Die Konferenz der Tiere, dessen Fokus aber – auch dem Thema entsprechend – noch stärker auf der sozialen Verantwortung des Menschen lag. Der Junge und die Welt kontrastiert unsere Grausamkeiten mit der Schönheit der Welt und dem Glück, unter geliebten Menschen sein zu dürfen – das ist atemberaubend schön, tieftraurig und pures Glück zugleich.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/der-junge-und-die-welt-2013